Cremona | Exilium in solitudine

  • Cremona war eine Stadt von nicht geringer Bedeutung, doch dem jungen Flavius sagte dieser Ort ebensowenig zu, wie der Grund seines unfreiwilligen Aufenthalts hier. Die Reitereskorte hatte ihn vor Wochen hierher verbracht, in die Gastfreundschaft eines ihm bekannten älteren Herrn, welcher ein Anwesen unweit des Padus bewohnte. Wiederholt hatte der Knabe verlangt, anstatt an einen ihm unbekannten Ort besser zum Versteck seiner Mutter transferiert zu werden, um zumindest an der Seite seiner verbliebenen Familie diese schweren Zeiten zu verleben, doch da weder Ursus noch er selbst Kenntnis von diesem Unterschlupf hatten, war man gezwungen, ihn isoliert zu verbergen, wozu sich eben jener Bekannte empfahl, da dieser im nahen Cremona ein adäquates Anwesen besaß und darüber hinaus als vertrauenswürdig galt. Aus diesem Grund nun hatte Manius Minor einen weiteren güldnen Käfig bezogen, dessen Tür zumindest ein wenig weiter geöffnet stand als er mantuanische, denn der gutmütige Unternehmer gestattete es seinem Gast zumindest, bisweilen das Haus zu verlassen, da es ihm abwegig erschien, dass irgendwer an diesem Ort den Spross einer patrizischen Familie identifizierte, solange dieser sich nicht als solcher auswies.


    Und so erkundete der junge Flavius nun zum ersten Male in seinem Leben eine Stadt, welche nicht Rom war. Zwar hatten sie auf der Flucht ebenfalls manchen Ort durchwandert, doch hatte sein Vater damals abgelegenere Stationes präferiert und die Städte eilig hinter sich gelassen, während jene unendlich weit zurückzuliegen scheinenden sommerlichen Ausflüge aufs Land stets Villae Rusticae zum Ziel gehabt hatten. Obschon Cremona ein Zentrum des norditalischen Handels darstellte, erschien sie dem Knaben entsprechend, eher einem verlassenen Vogelnest gleich. Und in der Tat war ob des heraufziehenden Krieges der Verkehr von jenseits der Alpen völlig zum Erliegen gekommen. Als dann eines Morgens ein Blick aus dem Fenster eröffnete, dass der Padus sein Ufer verlassen hatte, wurde es noch stiller in der Stadt.


    So verblieb Manius Minor neuerlich viel Zeit zum Spintisieren. Neuerlich musste er an seinen treulosen Vater sich erinnern, neuerlich Abscheu und Enttäuschung auf diesen projizieren. Hinzu kam Unsicherheit ob seiner eigenen Sekurität wie der seiner Familie, welche an einem geheimen Ort weilte, welcher möglicherweise unter jene zu zählen war, die sein Gastgeber in den langen Berichten über den Stand der Auseinandersetzungen erwähnte. Stets war der Knabe darüber im Bilde, wo die palmanischen und vescularischen Truppen sich befanden, obschon er die Karte, auf welcher ihm dies veranschaulicht wurde, ob seiner Fehlsicht nicht einzuordnen in der Lage war und lediglich nichtssagende Ortschaften blieben. Diese Insekurität, gepaart mit dem Umstand, dass er das einzige Kind im gesamten Haushalt zu sein schien, dass er nun auch getrennt von seinem Onkel Flaccus, seinen Bekanntschaften aus Mantua und überhaupt von jedem Vertrauten sein Dasein zu fristen in der Lage war, erweckte in ihm ein grässliches Verlangen nach Wärme, Geborgenheit und Heimat. Abend für Abend verbarg er sich in den Kissen und Decken seiner Bettstatt, um unter Beben stumme Tränen zu vergießen, Nacht um Nacht erwachte er schweißgebadet aus abscheulichen Träumen, in denen in düstersten Farben das deplorable Schicksal seiner selbst, seiner Familie und der gesamten Welt gezeichnet wurde, in denen man ihn mit Hohn und Spott ob seiner Abkunft übergoss und wie ein Tier jagte, um ihn den flavischen Löwen im Amphitheatrum Flavium, welches nun Vescularium genannt wurde, zum Fraß vorzuwerfen. So war wohl 'Mama' das häufigste Wort, welches er flehentlich die Nächte über in den Mund nahm, während er untätig und beschämt das Ende jenes unsäglichen Krieges erwartete.

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Fuß um Fuß setzte er vor sich, den Blick starr gerichtet auf die Steinplatten, welche die Straße unter seinen mit Schicht um Schicht von Unrat bedeckten Sohlen formte. Im Rhythmus seines Ganges klirrten die eisernen Bande, welche seine Hände umschlossen, deren Stahl sich bereits tief in die Gelenke gesenkt hatte und die Haut reizte, an manchen Stellen gar zum Aufbrechen nötigte. Blickte er er auf, erkannte er lediglich den Rücken eines weiteren Gefangenen, davor eines weiteren und eines dritten immer fort, eine infinite Kette Inhaftierter, welche die schnurgerade Straße entlangtrottete und hinter dem Horizont sich fortsetzte. Bisweilen, alle fünfzig Schritte, wie er bald zu kalkulieren in der Lage war, war einer jener Schergen postiert, welche jedwedes Entweichen im Keime erstickten und unermüdlich mit Geißeln die desperate Horde traktierten.


    Ihm schmerzten die Sohlen, die Knie und Hüfte, so lange schon währte jener Marsch ins Nirgendwo, doch ohne Gnade trieb man ihn vorwärts, zog die Kette, mit welcher er an den Vorder- wie Hintermann geschmiedet war, und die sie vereinte. Strahlend klar stand ihm der Grund jener Strafe explizit vor Augen, denn der geschundene Rücken ihm zuvorderst gehörte Aurelius Ursus, ein weiterer dem noch immer an seiner Erkrankung laborierenden Onkel Flaccus und irgendwo an der fernen Spitze des Zuges mochte gar Cornelius Palma seinen letzten Gang vollziehen. Sie alle, die letzten Aufrechten der Res Publica, mussten ihren Weg in die Bergwerke im fernen Hispania selbst erlaufen.


    Welch prätentiöse Idee es doch gewesen war, dem Imperator Vescularius, welcher nun sich als Rex titulierte und alle Ordnung umgestürzt hatte, die Stirn zu bieten! Alle waren sie gefänglich gesetzt worden, umzingelt und aufgerieben von den unermesslichen, blutrünstigen Heeren des Königs, keine noble Deszendenz, kein Name höchster Anciennität und keine Virtus war zu bewahren sie geeignet: Nun waren die Früchte des Aufruhrs zu ernten und unbarmherzig wurde die Sichel angesetzt und schnitt die aufrechten Söhne der Roma ab, um sie gleich dem Spreu den Flammen zu überantworten.


    "Auf, auf!"
    , brüllte der Scherge und stieß ihn an der Schulter, immer wieder! Obschon er ging und ging, gereichte dies augenscheinlich nicht zur Satisfaktion, denn immer aufs Neue stieß man seinen Leib, dass ihm beinah das Gleichgewicht abhanden gekommen wäre.
    "Ich gehe schon!"
    , explizierte er sich und versuchte, den Hieben zu entweichen, doch das hassangefüllte Antlitz der Wache entfernte sich nicht, immer wieder schloss der Scherge stattdessen auf und brüllte ihm ins Ohr.


    ~~~


    "Auf, wach auf, junger Mann!"
    Gänzlich konfundiert öffnete der Knabe die Augen und gewahrte sich in einem weichen Bett, bar jedweder Ketten und gehüllt in ein schweißdurchnässtes, doch dennoch samtweiches Nachthemd, mitnichten aber in stinkende Fetzen, deren rauhen Stoff er soeben noch am Leibe verspürt hatte. Langsam wandte er sich um, um die missliche Bauchlage zu verlassen und damit einen Überblick über sein Schlafgemach zu gewinnen, welches, wie er sich gewahr wurde, selbstredend in Cremona im Hause eines Freundes des Legatus sich befand. Über sich erblickte er ein verschwommenes Antlitz, dessen rundliches Profil nicht zu jenem Sklaven passte, welcher ihm für gewöhnlich am Morgen aufwartete. Vielmehr identifizierte er nun auch die Stimme, die ihn so unsanft aus dem Schlafe gerissen hatte und welche auch jetzt nicht verstummte, sondern die Novität schlicht hinausposaunte:
    "Es gibt Neuigkeiten aus Vicetia! Die Truppen Palmas haben gewonnen, junger Mann! Gewonnen!"
    Sein Gastgeber selbst hatte sich in das Gästezimmer begeben, was bisher niemals der Fall gewesen war. In der Tat war seine Information von höchster Brisanz, sodass er sich es nicht nehmen hatte lassen, sie persönlich an seinen Gast, dessen Schicksal, wie er wusste, fest an den Erfolg des cornelischen Heeres gebunden war, zu überbringen. Indessen bedurfte die Kundmachung jener Fortgänge aber einiger Zeit, ehe sie den schlaftrunkenen Geist, noch immer lädiert durch die gräuliche Nachtmär, in welcher er bis soeben noch incarceriert gewesen war, tatsächlich erreichte. Dann aber durchflutete sie die Gedanken des jungen Flavius wie ein warmer Würzwein nach einem winterlichen Ausgang, belebte seine Glieder und erweckte in ihm freudige Zuversicht: Mitnichten war der Krieg verloren, würde er sein junges Leben in einem Bergwerk fristen, während die Res Publica zu einer Monarchie verkam und unter dem Joch eines Irrsinnigen lebte. Im Gegenteil, der Tyrann war geschlagen, seine Heerscharen zermalmt, was eine evidente Folgerung für ihn nach sich zog: Er würde seine geliebte Mutter wiedersehen, würde seine Geschwister in die Arme schließen und sein tristes Gefängnis gegen die vertraute Villa Flavia Felix in Rom tauschen. In höchster Elation, welche die letzten Relikte der Müdigkeit von ihm warf, rappelte er sich so auf und blickte dorthin, wo seiner Erfahrung nach die Augen jenes verschwommenen Schemen liegen mussten, welcher ihm die frohe Kunde überbracht hatte.
    "Heißt das, ich darf nach Hause?"

  • Selbstredend war die naive Frage des Knaben umgehend rejiziert worden, denn, wie man ihn belehrte, mochte eine siegreiche Schlacht mitnichten umstandslos einen siegreichen Krieg fabrizieren, sodass die aufwallende Freudigkeit eine gewisse Dämpfung erhielt. Dessenungeachtet wagte man nun zumindest, dem jungen Flavius ein gewisses Maß expandierter Bewegungsfreiheit zu gestatten, nachdem das Damoklesschwert einer erzwungenen Kapitulation vor den kaiserlichen Truppen von Cremona genommen war. Bisweilen wanderte Manius Minor so an der Seite eines Sklaven hinab zum Fluss, der die Quartiere der Flussschiffer, die einstmals am Ufer gestanden hatte, in sich aufgenommen und die simplen Fuhrleute somit nicht nur ihres sämtlichen Besitzes, sondern in generale jedweder Subsistenz beraubt hatte, da der Fluss während einer Überschwemmung augenscheinlich unschiffbar war. Da seine Fehlsicht sich lediglich auf die Objekte in unmittelbarer Nähe beschränkte, vermochte der Knabe das Panorama eines schmutzbeladenen Flusses, aus dem die tristen Hütten ragten, wohl in sich aufzunehmen, was in ihm Compassion für jene armseligen Menschen erweckte, welche in diesem Teil der Stadt harsche Kritik an den sogenannten Rebellen äußerten, die augenscheinlich schlichtweg die Dämme des Padus gesprengt und damit von jener Misere sich zu exkulpieren nicht in der Lage waren.


    All dies evozierte Fragen, welcher sein Gastgeber sich dankenswerterweise geduldig annahm, indem er jene Strategie hinter dieser Kaprizität darlegte, welche auf den Ausschluss nachrückender Kräfte aus dem Süden Italias abgezielt hatte, obschon die Intention dieser Planung augenscheinlich nicht aufgegangen war, da einige Zeit die Novität kursierte, dass es den Cohortes Praetoriae nicht nur gelungen wäre, den Padus gegen jede Widrigkeit zu durchqueren und ihrerseits an der Schlacht zu partizipieren, sondern die Gegenseite ihrerseits die Praetorianer nicht nur geschlagen, sondern darüber hinaus schon im Schlachtenverlauf den Praefectus Praetorio selbst inhaftiert hatten. Dies nötigte jedem, der darüber berichtete, großen Respekt ab, was Manius Minor neuerlich von seinem Gastgeber expliziert wurde, indem dieser darlegte, dass konventionellerweise sämtliche Offiziere jenseits der Centuriones für gewöhnlich abseits der Schlachtreihe in relativer Sekurität ihre Truppen dirigierten und mittels Feldzeichen und Hornstößen mit den Centuriones auf dem Schlachtfeld kommunizierten. Dies differierte gänzlich von den infantilen Imaginationen des jungen Flavius, welcher selbst im Spiel regelmäßig in den Fechtkampf getreten war, wobei er selbstredend dennoch stets den Legatus oder gar den Kaiser selbst repräsentiert hatte. All dies evozierte ein steigendes Interesse des Knaben in militärischen Belangen, und da sein Gastgeber selbst die Tres Militiae durchlaufen hatte, konnte er auf umfangreiche Literatur zurückgreifen, welche er sich vorlesen ließ, um so mehr über die Kunst des Krieges zu erfahren, zugleich aber, um die theoretischen Erkenntnisse mit seinem Gastgeber zu diskutieren und somit ihre Praktikabilität zu verifizieren. Damit brachte er nun die Tage zu, um seine wachsende Unrast inmitten jener bescheidenen Stadt zu besänftigen, stets unterbrochen von Ausflügen, in denen er auch die kommunalen Reaktionen auf die kriegsbedingten Obliegenheiten studierte.


    Dennoch verblieb die Frage, wie lange er noch zu verweilen genötigt war, denn obschon er nun eine Materie, in die einzudringen er sich mühte, besaß, fehlte ihm weiterhin die Geborgenheit seiner Familia, welche nun auch in Rom durch den Krieg bedroht wurde. Diese Sorge wurde gar multipliziert durch seine Studien, denn mehrfach berichtete sein Gastgeber und führten ihm seine Ausflüge vor Augen, dass die Zivilisten insonderheit als Laborierende unter der Geißel des Krieges zu identifizieren waren.

  • An jenem Tage, als die Kunde von der gänzlichen Expugnation der Urbs Aeterna das beschauliche Cremona erreichte, überraschte der Gastgeber den jungen Flavius mit einem ungeahnten Präsent. Soeben hatte dieser erneut den Zeilen des Divus Iulius über dessen adventuröse Feldzüge in jener Region, welche heute Gallia Belgica geheißen wurde, gelauscht, als man ihn bat, das Atrium aufzusuchen. Dort erwartete den Knaben der ältliche Gastgeber, dazu aber ein junger Mann, zweifelsohne kaum mehr als zehn Lenze älter denn er selbst. Aus der Ferne, in welcher die Hypermetropie es diesem erlaubte, noch bis zu einem gewissen Maße das Umfeld in gebotener Schärfe zu erfassen, identifizierte er die feinen Gesichtszüge, das blonde Haar und die ansehnliche Gestalt des Fremden, welche beim Nähertreten zu einem jener familiaren Schemen verschmolz.


    "Junger Flavius, du hast sicherlich gehört, dass der Krieg zu Ende ist. Es wird also Zeit, dass du nach Hause kommst."
    , eröffnete der Gastgeber seine Explikationen und sprach durchaus wahr, denn die Unrast und Elation auf den Straßen war wohl niemandem, nicht einmal dem fehlsichtigen jungen Flavius entgangen. Die Konsequenz, Cremona nunmehr den Rücken zu kehren, erfüllte den Knaben indessen nicht mit Extase, vielmehr verspürte er eine gewisse Trauer, den liebgewonnenen alten Herrn zu verlassen, um zu seinem Vater zurückzukehren. Dieser war feige geflohen, während jener die Truppen seines Patrons Aurelius Ursus mit Waren versorgt hatte und damit seiner Bürgerpflicht nachgekommen war. Dieser war stets okkupiert gewesen, außer Haus oder im Tablinium, wo eine Störung strengstens untersagt war, während jener zur Tages- und Nachtzeit ein offenes Ohr hatte, sogar von selbst an sein Bett kam um ihm Novitäten zu verkünden. Mit diesem hatte zu jedem Zeitpunkt eine insuperable Distanz bestanden, welche jedwedes Gespräch in gewissem Maße offiziös hatte wirken lassen, während der junge Flavius sich bei jenem mitnichten zu mäßigen mühen musste, sondern vielmehr jedwede Umstände, gar seine Befangenheiten und Insekuritäten zur Sprache bringen konnte. Vor allem freilich hatte dieser ihn einsam hinter sich gelassen wie ein lästiges Stück Gepäck, abgespeist mit indechiffrablen Zeilen, um sich seither in Schweigen zu hüllen, während jener ihn mit offenen Armen empfangen hatte, einem Honoratioren gleich behandelte und zu jeder Zeit mit sämtlichen Informationen bezüglich der politischen Vorgänge und privater Vorhaben versorgte. Angesichts jener geradezu antithetischer Optionen lag es nahe, dass Manius Minor inzwischen kaum geneigt war, sein trautes neues Heim gegen die kühle Villa Flavia Felix zu vertauschen, um an die Seite Manius Maiors zurückzukehren. Lediglich die Perspektive, seine geliebte Mutter, seinen Bruder Titus und Flamma, seine Schwester, neuerlich in die Arme zu schließen, ließ ihn dazu neigen, keinen Versuch zu unternehmen sich der Sohnespflicht zu entziehen, sondern lediglich eine verdrossene Mimik aufzusetzen und den weiteren Worten seines Gastgebers zu lauschen:
    "Ich habe dich sehr lieb gewonnen, deshalb habe ich nach einem Geschenk gesucht, das dich an mich erinnern soll, wenn sich unsere Wege nun bald trennen. Das hier ist Patrokolos, den ich unlängst auf dem Markt erworben habe."
    Obschon auch der Sprechende zu einem indefinierbaren Schatten verkommen war, erkannte Manius Minor, dass auf den Fremden gewiesen wurde, welcher knapp sein Haupt neigte.
    "Patrokolos stammt aus Patavium. Dort diente er einem alten Decurionen, der erblindet war. Er kennt sich also... mit deiner kleinen Unpässlichkeit aus und wird dir hoffentlich eine Stütze sein."
    Dem Tembre der Stimme entnahm Manius Minor, dass der Alte wohl ein gewinnendes Lächeln formte, was ihn seinerseits rührte, da ihm die Unzulänglichkeiten seines Sehvermögens in der Tat nicht selten zur Schande gereichten, er dieses Leid aber ebenfalls in vertrauter Atmosphäre geklagt hatte. Keinesfalls war er blind, wie er sich selbst stets versicherte, doch musste er einräumen, dass seine Erkrankung der Blindheit nahe stand, sobald sein direktes Umfeld das Objekt seines Interesses bildete, mochte das Motiv die Berücksichtigung unebenen Grundes sein oder die Lektüre eines kurzen Briefes. Sprachlos war er ob dessen, gewissermaßen eines Spezialisten für sein Leiden, oder zumindest dessen Schemen ansichtig zu werden und er schenkte seinem Gastgeber seinerseits ein herzliebstes Lächeln.
    "Ich... danke dir. Das ist überaus großzügig."
    , brachte er hervor. Auch in dieser Hinsicht hatte Manius Maior sich dem ältlichen Herrn als unterlegen erwiesen, denn obschon jener bereits seit mehr denn fünf Jahren von der Fehlsicht Kenntnis hatte, während dieser gerade wenige Monate Zeit gehabt hatte, über eine Abhilfe zu spintisieren, war es diesem augenscheinlich gelungen. Einer spontanen Eingebung, welche er angesichts seines Vaters zweifelsohne hinfortgewischt hätte, folgend überwand er die kurze Distanz zu seinem Gastgeber und herzte ihn innig.
    "Danke für all deine Hilfe. Du... wirst mir fehlen!"
    Sanft strich der Alte dem Knaben über das Haupt und erwiderte versonnen:
    "Du wirst mir auch fehlen, junger Flavius. Aber wir werden uns sicher wiedersehen!"


    Noch viele freundliche Worte wurden ausgetauscht, dann aber ermahnte der Alte Manius Minor, dass er mannhaft dem Schicksal entgegengehen sollte, zumal er nun eine Stütze habe, welche ihn geleite und ihm zur Hand ginge, wo immer er Bedarf habe. So begannen die Diener des Hauses, den bescheidenen Besitz des Gastes zu verpacken, welcher sich primär aus Geschenken des Alten zusammensetzte, dabei aber weniger Spielwaren denn Kleidung und Objekte des täglichen Bedarfs umfassten. Zuletzt galt es ein letztes Mal Abschied zu nehmen, ehe ein Reisewagen sich daran machte, den jungen Flavius in die ewige Stadt zu transferieren...

  • Die Reise zu Pferd war ebenso beschwerlich, wie Manius Minor sie von seinem Exkursion nach Populonia in Erinnerung hatte, zumal nun ihm nicht das Opium in jene Trance versetzte, in welcher die Stunden auf dem Rücken des Reittieres schlicht sich transzendierten und ungeachtet verflogen. Nun währte jede Stunde eine volle Stunde, jeder Tag einen vollen Tag und die Ödnis der italischen Landschaft, gerodete Felder und Wiesen, Weinberge und Viehherden präsentierten sich in ihrer vollen, mit der Dauer der Reise ennuyanten Extensität. Ein singuläres Ansinnen (jenseits des Umstandes, dass in diesem Jahre die Schifffahrtssaison spät begonnen hatte und mancher den Unwägbarkeiten des Meeres noch nicht traute) hatte ihn den Beschluss fassen lassen, zu Lande in den Norden zu reisen: ein Besuch bei seinem alten Mentoren und geliebten Freund, dem guten Vindex. Obschon Cremona nämlich nicht direkt auf der Route über den Alpenpass lag, bedeutete eine Visite der Stadt lediglich einen kleinen Umweg, den man für die Gesellschaft jenes engen Vertrauten leichtlich verschmerzen konnte.


    Nach jenen unbehaglichen Tagen hoch zu Ross war die Freude somit umso größer, als endlich der junge Flavius vor sich die Poebene erblickte, diesmalig nicht verborgen unter den Wassermassen des ungebändigten Flusses, sodass umso klarer die Vaterstadt jenes glücklosen Quinctius Varus, der ebenfalls einst nach Norden aufgebrochen war, doch auch seines paternalen Freundes sich abzeichnete. Nicht lange darauf erreichte er das wohlvertraute Haus, wo man ihn umgehend wieder erkannte, obschon doch so viele Jahre waren vergangen, seit er zum letzten Male in jener Heimstatt, die lange Zeit ihm so viel behaglicher war erschienen als die Villa Flavia Felix selbst, zu Gast war gewesen. Nichts indessen hatte sich verändert, jede Vase stand an ihrem Platze, jeder Sklave übte dieselbe Funktion aus wie zu Zeiten seines Aufenthaltes und selbst die vom Alter leicht gebückte Gestalt des Hausherrn wirkte, als hätten die vergangenen Jahre ihn gänzlich unverändert hinterlassen. Lediglich die feinen Falten um Augen und Mundpartie hatten sich ein wenig tiefer gefurcht, was Manius Minor jedoch ob seiner Fehlsicht entging, sodass die Impression völliger Konservation des Hauses ungeschmälert blieb.
    "Manius Flavius Gracchus Minor!"
    , begrüßte Vindex den Jüngling mit liebevoller Stimme.
    "Du hast abgenommen, wie mir scheint!"
    Ein wenig genant lächelte Manius Minor seinen alten Mentoren an, während er näher trat und das Haupt in den Nacken legte, um ihm einen Begrüßungskuss auf die Wange zu drücken.
    "Nur ein wenig."
    , erwiderte er sodann wahrheitsgemäß, nachdem die militärischen Exerzitien unter den Augen des Optios Octavius in der Tat nur in geringem Maße seine Fettreserven attackiert hatten, da jene korporale Anstrengung doch in ihm einen umso größeren Heißhunger evoziert hatte. Insofern verspürte er wenig Neigung, diese Thematik weiter zu vertiefen, weshalb er sogleich bemerkte:
    "Ich vermag nicht auszudrücken, wie glücklich ich mich wäge, dass du mir mein langes Schweigen nachsiehst."
    Vindex ließ ein vergnügtes Lachen vernehmen.
    "Wie könnte ich dir lange böse sein? Du bist für mich wie ein Sohn. Seinen Sohn kann man nicht verstoßen!"
    Für den Hauch einer Sekunde huschte Schwermut über das Antlitz Manius Minors, als jene Worte die Remineszenz an seine Verstoßung evozierten, welche Manius Maior zwar niemals in aller Form wahr hatte werden lassen, die jedoch ihm dennoch einigen Schmerz hatte bereitet.
    "Und der Sohn entkommt seinem Vater nicht."
    , erwiderte er endlich, jene schmerzvollen Gedanken durch einen Scherz hinfortschiebend, der dennoch mehr nicht minder schmerzliche Wahrheit implizierte, als der gute Vindex argwöhnen mochte, der amüsiert schnaubte.


    "Ich bin gespannt, was du mir über deine Abenteuer in Alexandria berichten kannst! Epikur! Was du schriebst klingt ja haarsträubend!"
    , eröffnete er sodann ein neues, wohlvertrautes Sujet und legte den Arm um den Jüngling, sodass dieser ihn ein wenig stützte, zugleich jedoch jene Nähe verspürte, die Vindex für adäquat erachtete, um seinen Vergebungsschwüren Nachdruck zu verleihen.
    "Nun, ich war ein wenig... aufgewühlt, wie ich zu meiner Defension vorzubringen vermag."
    Vindex erhob die freie Hand und präsentierte seinem jungen Freund den mahnenden Zeigefinger.
    "Eins nach dem anderen! Erzähle mir alles. Der Reihe nach!"
    Und während sie ins Peristyl wandelten, begann der junge Flavius zu berichten. Einsetzend beim Tod seiner Mutter, als er den letzten Brief an Vindex hatte versandt, über die Eheschließung seines Vaters, den Streit mit seiner Schwiegermutter bis hin zu seinem Aufbruch nach Alexandria...

  • Sie, respektive vornehmlich der junge Flavius, sprachen den ganzen Abend bis spät in die Nacht. Bisweilen intervenierte der Alte mit detaillierten Fragen, hinsichtlich der alexandrinischen Eskapaden riss er erschrocken die Augen auf, ließ jedoch bisweilen ein Lachen vernehmen, welches indessen gänzlich verstummte, als Manius Minor von seinem enger und enger um den Opium-Becher zirkulierenden Dasein während seines Vigintivirates berichtete, zu welchem Schweigen sich zuletzt ein derartiges Stirnerunzeln gesellte, dass der Jüngling trotz seiner Fehlsicht es zu identifizieren imstande war, während er von seiner Aufeinandertreffen mit der Seele seiner Mutter rapportierte.


    Als der Jüngling schließlich geendet hatte, schwieg Vindex eine ganze Weile und strich sich nachdenklich über das kantige Kinn.
    "Eine haarsträubende Geschichte für einen Jüngling deines Alters, junger Flavius..."
    , begann er, während seine Gedanken noch sich zu formen schienen.
    "Ich hatte einmal einen Freund, der dem Wein zu sehr zusprach und genauso von ihm gefangen wurde wie du vom Opium. Er endete einsam, krank und im ständigen Rausch auf seinem Landgut..."
    Nochmalig rieb er sich das Kinn.
    "Ich kenne auch Epikureer, sogar unter meinen Freunden hier gibt es ein paar, selbst wenn sie nicht so extrem sind wie deine Myrmidonen..."
    Vindex seufzte.
    "Aber ich kenne niemandem, dem ein Toter oder gar ein Gott leibhaftig im Traum erschienen ist. Es erscheint mir fast unglaublich, doch wenn dein Vater als Pontifex der Meinung ist, dass dies möglich ist, will ich das nicht ausschließen."
    Eine der Öllampen, welche die Sklaven mit fortschreitender Dämmerung entzündet hatten, erlosch direkt zwischen den Klinen der beiden, was dem Alten einseitig nahezu vollständig verdunkelte.
    "Ich denke aber, dass die Ratschläge, die deine Mutter dir gegeben hat, nicht falsch sind. Ich habe dir schon damals, als du längere Zeit mein Gast warst, geraten, dich mit deinem Vater zu versöhnen. Du träumtest damals davon, ein wahrer Soldat zu werden und bist jetzt in der Tat auf dem Weg, einer zu werden.
    Ganz unabhängig davon, was dich im Jenseits erwartet, rate ich dir, diesem Weg zu folgen: Ich habe viele Männer kennen gelernt und manche davon lebten im Streit mit ihrer Familie oder haderten mit ihrem Schicksal. Soweit ich mich erinnere, ist keiner von ihnen glücklich geworden. Kurzfristig mag es attraktiv erscheinen, sich den kleinen Freuden und Annehmlichkeiten zuzuwenden und vielleicht ist mancher auch zum Philosophen berufen. Aber wenn du nach der langen Zeit als Epikureer nicht bereit warst, dein Erbe für die Philosophie zu opfern, glaube ich nicht, dass du dazu berufen bist."

    Er hob seinen Weinbecher und hielt ihn in Richtung der verbliebenen Lichtquelle zu seinen Füßen.
    "Ich denke, du bist dazu berufen, ein Flavius zu sein. Du solltest dieses Schicksal umarmen, so wie es auf dich gekommen ist. Du solltest versuchen, deine Familie zu lieben und dich von ihr lieben zu lassen. Das wird dir auf jeden Fall in diesem Leben die nachhaltigste Freude bereiten und falls es wahr ist, was der Geist deiner Mutter sagte, vielleicht sogar im nächsten."
    Vindex leerte den Becher in einem Zug und stellte ihn zurück auf das Tischlein. Auch Manius Minor griff nach seinem Trinkgefäß, registrierte jedoch, ehe er es zum Munde führte, dass sein Inhalt gleich seiner Geschichte bereits zur Neige gegangen war.
    Wie in den Monaten seines Exils war es dem guten Vindex gelungen, mit bestechender Simplizität zumindest für den Augenblick eine pragmatische, viabel erscheinende Lösung seiner komplexen Probleme zu destillieren gleich einem Alexander, welcher den Gordischen Knoten mit einem Schwertstreich zerschlug. Womöglich war es in der Tat unerheblich, ob die Gesichte der Claudia Antonia Gespinste oder Visionen waren, zumal es in der Tat nicht mit völliger Sekurität zu klarifizieren sein würde. Womöglich war es am weisesten, sich bis auf Weiteres auf das diesseitige Leben zu konzentrieren, um zumindest jene Bereiche, welche er zu formen vermochte, sich adäquat einzurichten. Und womöglich würden die Mühen des Cursus Honorum, das Vertreten jener einst so hohl erschienen Tugenden ihm nicht so viel Laborieren bereiten, wie er glaubte, zumal er doch bereits wieder größte Freude am Argumentieren zugunsten des Staatsdienstes hatte neu entdeckt. Er vermochte nicht zu ponderieren, ob jene zarte, aufkeimende Zuversicht sich als tragfähig würde erweisen, doch für diesen Moment, wo er vereint war mit seinem weisen, paternalen Freund, im behaglichen Cremona zu Tische liegend nach einem köstlichen Mahl und der Entleerung seiner hochbeschwerten Seele, griff in seinem Geiste ein gewisser Optimismus um sich, welcher auf behagliche Weise innerlich ihn wärmte gleich einem Schluck Opium in den ersten Monaten seines Konsumes.
    "Ich will es versuchen."
    , erwiderte er somit nach einigem Schweigen und platzierte ebenfalls den Becher zurück auf dem Tischlein. Der junge Flavius spürte, dass Vindex zufrieden lächelte, selbst wenn ihm die detaillierten Regungen seines Antlitzes im Halbdunkel verborgen waren.
    "Dann versuche es. Aber beginne morgen damit. Es ist spät und du wirst morgen zum unangenehmen Teil deiner Reise aufbrechen!"
    Manius Minor nickte, obschon der beschwerliche Aufstieg in die Montes Alpes ihn in diesem Augenschlag mitnichten schreckte.
    "Gute Nacht, Vindex."
    "Gute Nacht, junger Flavius. Ich denke, die Sklaven haben dir dein altes Zimmer bereit gemacht."
    Wieder nickte der junge Flavius, sich fragend, ob jemals er so leichtlich das behagliche Gefühl des Zuhauseseins in der Villa Flavia Felix würde zurückzugewinnen imstande sein, wie es hier prompt ihn erfasste.

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