Durch die Wälder durch die Auen

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    Je weiter sich die sieben verbliebenen Reiter von der Nordgrenze Raetias entfernten, desto klarer wurde Arwed, wie irrig seine bisherigen Vorstellungen von Germania Magna gewesen waren. Er hatte mit einer undurchdringlichen Wildnis gerechnet, nachtschwarz, leer und endlos. Nichts davon traf zu. Die Wälder waren dicht und düster, das schon, aber auch durchzogen von einem wenn auch grobmaschigen Netz schmaler Wege und Pfade, die wohl schon das alte Volk einst genutzt hatte. Leer war die angebliche Baumwildnis auch nicht. Auf ihrem Weg durch den Wald begegneten sie immer wieder irgendwelchen Menschen, meist einfachen Leuten, deren Vorstellungen von der Welt jenseits ihrer Gaue wohl ähnlich vage waren wie die Arweds. Auf junge Burschen trafen sie, die die Hausschweine ihrer Sippen im Waldboden wühlen ließen, auf schwarzgesichtige Köhler, die mürrisch und verbissen in ihren qualmenden Meilern herumstocherten, auf Fallensteller, Holzfäller, Jäger und Händler, sogar auf Römer, und damit hatte Arwed nun überhaupt nicht gerechnet. Im Grunde, musste er sich nach einigen Wegstunden eingestehen, unterschied sich diese Gegend gar nicht so grundlegend vom heimatlichen Grenzgau. Wenn man einmal von den deutlich schlechteren Wegen, den vergleichsweise riesigen Flächen an unbebautem Land und den weit größeren Abständen zwischen den Ansiedlungen absah. Ansonsten wechselten sich hier ebenso wie im Norden Raetias dunkle Wälder mit sonnendurchfluteten Fluren ab, felsige Anhöhen mit schattigen Waldschluchten, kahle einsame Hochweiden mit fruchtbaren Talsenken, in denen sich kleine Weiler und Gehöfte zwischen den Feldern versteckten. Ein Gefühl der Fremde stellte sich hier nicht ein. Vielleicht würde sich das im Verlauf der nächsten paar Tage noch ändern, einstweilen aber zog Arwed es vor, sich ganz seinen Eindrücken hinzugeben, und nicht weiter voraus zu schauen als bis zur nächsten Wegbiegung.


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    Die heißesten Stunden des Tages lagen hinter ihnen. Längst war die Cochara davon gekrochen, hinüber zu den westlichen Hügeln, die ihre länger werdenden Schatten auf die Reisenden warfen. Von Osten her hatte sich dafür ein anderer Fluss herangeschlichen, an dessen bewaldetem Ufer sich der Trupp nun entlang bewegte. Halvor ritt an der Spitze, gefolgt von Arwed und Ove, dann Ratnar mit dem Packpferd am Zügel, schließlich Thrasea und weit zurück, fast schon außer Sicht dessen seltsame Gefährten. Die Dämmerung senkte sich über das Tal. Aus dem Fluss erhob sich schwüler Dunst. Im Buschwerk zwischen den Bäumen begann es zu rascheln. Nager, Füchse und anderes Beutegetier vermutlich, das sich im Schutz der anbrechenden Nacht daran machte, seinen Hunger zu stillen.
    Auch Arwed war hungrig. Und er war müde. Gähnend blickte er auf ein paar dünne Rauchsäulen, die weit im Nordosten hinter den Baumkronen emporstiegen. Sicher ein Hof, an dessen Herdfeuer gerade Essen zubereitet wurde. So langsam, fand er, sollte sein Vater sich wirklich mit der Frage des Nachtlagers befassen. Wie viele Gehöfte hatten sie in den vergangen Stunden passiert? Zwei Dutzend? An einigen davon hatte Halvor die Männer halten lassen, um sich mit dem einen oder anderen Bauern zu unterhalten, um andere Höfe hatten sie dagegen einen weiten Bogen gemacht. Nun, wo es dunkel wurde, hielten sie sich fern von jeglicher menschlichen Ansiedlung. Für Arwed machte das keinen rechten Sinn. Für Ove ganz offensichtlich auch nicht. Noch bevor Arwed dazu kam, Halvor darauf anzusprechen, vernahm er die quengelnde Stimme seines Bruders hinter sich.


    „Vater.? Wie lange soll das heute noch werden? Meinst du nicht, wir sollten uns allmählich nach einem Nachtquartier umsehen?“ Halvor spähte angestrengt nach vorn. „Sechs Meilen flussabwärts zieht der Jagas eine Kehrtschleife. Einen besseren Lagerplatz können wir uns nicht wünschen.“ Ove entgegnete nichts, grummelte aber leise vor sich hin. Halvor hatte gute Ohren. „Was ist, hast du Angst vor Trollen?“ brummte er beiläufig über die Schulter, ohne den dunklen Pfad aus den Augen zu lassen. Arwed grinste. Ove wirkte gekränkt. „Natürlich nicht! Ich dachte nur, wir könnten in einem der Höfe unterkommen.“
    „Nein. Heute nicht. Morgen.“ Ove ließ sich damit nicht abspeisen. „Heute nicht aber morgen schon? Das versteh ich nicht so ganz.“
    „Ehrlich gesagt, ich auch nicht, Vater.“ pflichtete Arwed seinem Bruder bei. Halvor stieß einen langen Seufzer aus, drehte sich aber noch immer nicht zu seinen Söhnen um. „Wir sind hier nicht mehr unter Askaleuda. Die meisten Sippen in dieser Gegend sind Nachkommen des alten Volkes, Vangionen, Narister und anderes versprengtes Pack. Die sind auf die Stämme der Suebi nicht gerade gut zu sprechen. Besser wir halten Abstand und bleiben unter uns. Wenn wir uns ran halten, erreichen wir morgen nach Mittag gastfreundlicheres Gebiet.“ Das klang einleuchtend. Trotzdem hielt Arwed die Vorsichtsmaßnahme für etwas übertrieben. „Aber Vater, das sind hier doch nur harmlose Bauern und Handwerker. Denen ist die Gastfreundschaft sicher eben so heilig wie uns.“ Halvors Entgegnung fiel kryptisch aus. „Ach Junge, du siehst einen Stier mit gestutzten Hörnern und hältst ihn für eine Milchkuh.“ Darauf gab es wenig sinnvolles zu sagen, also ließ es Arwed dabei bewenden und kämpfte weiter gegen die Müdigkeit.


    Als sie die Flussbiegung endlich erreicht hatten, waren Thraseas Männer verschwunden, was weder den Römer noch Halvor besonders zu beunruhigen schien. Arwed war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Seine ganze verbliebene Energie verbrauchte sich dabei, das Pferd zu versorgen. Ove und Ratnar ging es nicht anders. Mit steifen Knochen führten die jungen Männer die Reittiere zur Tränke an den Fluss hinunter, füllten frisches Wasser in die Lederschläuche, tranken, zogen sich aus, wuschen sich und plantschen noch eine Weile im kühlen Strom herum.
    Schließlich vom Flussufer zurückgekehrt mussten sie beschämt feststellen, dass bereits alles hergerichtet war. Ihre Mäntel lagen ausgerollt auf dem Moos, daneben ihre Bündel, die Sättel am Kopfende. Im Boden steckte eine Fackel, davor war Brot und Käse auf einem Tuch ausgebreitet. Eigentlich wäre das alles ihre Aufgabe gewesen.
    Halvor und Thrasea fläzten grinsend auf ihren Lagern, jeder einen vollen Trinkschlauch vor der Brust, in dem sich garantiert kein Tropfen Wasser befand. Ove und Ratnar machten sich gierig über das Essen her, Arwed legte seinem Pferd eine Decke über und ließ sich erschöpft auf seinen Mantel fallen. Sein Hunger war weg. Vielleicht war er auch zu müde, um Appetit zu haben oder einfach nur zu faul zum Essen. Jedenfalls fühlte er sich für diesen Tag restlos bedient. Er schloss die Augen. Wie durch einen Nebel hörte er Thraseas dunkle Stimme. „Hoffentlich habt ihr die Gäule nicht in den Fluss kacken lassen. Ich will mich noch waschen.“ Arwed hörte sich selbst kichern. „Doch, klar. Wir haben selbst auch noch rein gekackt. Schlimm?“ Thrasea erhob sich lachend und schlurfte mit schweren Schritten an Arwed vorbei dem Flussufer zu. „Was solls. Ist hier sowieso dunkel wie im Bärenarsch.“ Schmunzelnd nahm Arwed Thraseas breiten Schatten vor seinen geschlossenen Augenlidern wahr. „Übrigens. Wo ist eigentlich dein schweigsames Gefolge hin?“
    „Die sehen nach dem kleinen Trupp harmloser Bauern und Handwerker, der schon seit Sonnenuntergang neben uns her schleicht.“ Thrasea verschwand summend in den Büschen. Arwed riss die Augen auf und starrte zu seinem Vater hinüber. Halvor nickte ihm langsam zu. „Du musst noch eine Menge lernen, Junge.“
    In dieser Nacht schlief Arwed unruhig und traumreich.

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    Zuhause wäre es Arwed nie in den Sinn gekommen, auch nur ein Glied zu regen, bevor draußen nicht die Hähne zu lärmen begannen und sich das Gesinde schwatzend auf dem Weg zu den Ställen machte. Aber er war nicht zuhause. Als Halvor kam, um ihn zu wecken, hatte er den Schlaf längst abgeschüttelt. Rund um den finsteren Lagerplatz knackte und raschelte es, als habe sich der ganzen Wald in Bewegung gesetzt. Sogar vom sanft plätschernden Fluss klang verdächtiges Patschen und Gurgeln herauf. „Hörst du das?“ fragte er seinen Vater halblaut. Halvor richtete sich auf und lauschte. „Was meinst du?“ Was er meinte? Arwed war besorgt, sollte Halvor im Schlaf taub geworden sein? „Na das Knacken im Wald und das Gepatsche am Fluss unten. Du hast doch gestern Abend selber gesagt, dass ....“
    „Ach das?“ lachte Halvor leise. „Das sind nur Waldtiere, die ihren Durst löschen. Sind die Pferde unruhig?“ Offenbar nicht. Die hoben ab und zu die Köpfe, schnaubten gelangweilt und starrten dann wieder schläfrig ins Leere. „Nein, sind sie nicht.“ Halvor hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt und machte sich daran, seine Sachen zusammen zu packen. „Eben.“ brummte er über die Schulter. „Wenn die Pferde nicht beunruhigt sind, brauchst du es auch nicht zu sein. Weck jetzt Ove und Ratnar. Wir brechen auf.“ Um einem erneuten Hinweis darauf, dass er noch viel lernen müsse, zuvor zu kommen, beeilte sich Arwed der Anweisung seines Vaters schleunigst nachzukommen.


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    So saßen sie beim ersten milchigen Zwielicht längst wieder im Sattel. Kaum zwei Meilen nachdem sie die Flussau hinter sich gelassen hatten, gab der sich lichtende Laubwald den Blick auf eine dunstige mit Buschwerk und einsamen Baumgruppen bestandene Ebene frei, an deren Rändern sich die Waldhügel bis zum Horizont zurückzogen. Der schmale Pfad mündete in einen unebenen Weg, der sich von Osten her in nördlicher Richtung durch die trübe Landschaft wand. Rechts des Weges, fast verborgen von dunkeln Wacholderbüschen, zeichneten sich bei genauerem Hinsehen die Umrisse zweier regloser Gestalten ab, in denen Arwed beim Näherkommen ihre verschollen geglaubten Mitreisenden erkannte. Seelenruhig saßen die beiden auf ihren Pferden, hoben kurz die Arme zum Gruß und übernahmen dann nach einer gemurmelten Unterhaltung mit Thrasea wieder die Nachhut.


    Arwed registrierte dies alles mit schweigender Verwunderung. Nicht zum ersten mal fragte er sich, was das eigentlich für merkwürdige Vögel waren, die der Römer da mit sich führte. Für Kaufleute oder Bedienstete waren sie zu ungehobelt, für Krieger zu schmächtig und zu schlecht bewaffnet. Wie auch alle anderen trugen die maulfaulen Einzelgänger lediglich einen langen Dolch am Leibgürtel. Damit ließ sich bei einem ernsthaften Kampf nicht viel ausrichten. Allein Halvor hatte sich seine Spatha umgegürtet, wie es sich für einen Sippenführer und ehemaligen Soldaten gehörte. Neun Jahre hatte er bei der Ala II Flavia pia fidelis Domitiana milliaria gedient, in eben jener Einheit, deren Präfekt sich nun weigerte, seine Söhne aufzunehmen. Hätte er damals die Dienstzeit beendet und das Militärdiplom erhalten, wäre Arwed wohl als römischer Bürger aufgewachsen. Die Nornen hatten es anders gewollt. Bei einem Scharmützel mit Aufständischen hatte Halvor Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und somit seine Diensttauglichkeit eingebüßt. Neben seiner Ausrüstung und einer recht ordentlichen Abfindung war ihm von seiner Zeit bei der Auxilia nur die Freundschaft mit Thrasea geblieben. Wieder bei Thrasea angelangt, begannen sich Arweds Gedanken im Kreis zu drehen. Sextus Vedius Thrasea. Der geheimnisvolle Kaufmann und seine geheimnisvollen Begleiter. So lange er Thrasea kannte, und das war lange, eigentlich schon sein ganzes Leben, waren ihm immer wieder Zweifel gekommen, ob der Römer tatsächlich nichts weiter war, als ein Kaufmann und Pferdehändler, der mit seinem Freund dem Pferdezüchter oft für mehre Nundinae in den Wäldern verschwand, um Geschäften nachzugehen. Es war nur so ein Gefühl, sonst nichts, ein Gefühl allerdings, das er über die Jahre nie losgeworden war.


    Während Arwed seinen Gedanken nachhing wurde es Tag. Wirklich hell wurde es dagegen nicht. Eine aschgraue Kuppel aus zerfransten Wolken wölbte sich über das flache Land. Kein Sonnenstrahl drang durch, kein Lüftchen regte sich. Von Westen wurde dumpfes Donnergrollen vernehmbar, das den ganzen Morgen lang weder nachließ noch näher kam. Trockenes Buschland machte nicht minder trockenen Wiesen und Feldern Platz. Das braune Land beiderseits des Weges begann sich allmählich zu bevölkern. Schwitzendes Gesinde sichelte sich durch dürre Halme, verhärmte Mägde schleppten Joche mit Eimern und Körben auf die Felder. Die Reiter passierten brackige nach Schweinedung stinkende Tümpel, trabten an leer glotzenden abgemagerten Kühen vorbei, überholten rumpelnde Ochsengespanne, beladen mit Heu, Brennholz und Mist, geführt von griesgrämigen Knechten, die den Fremden misstrauische Blicke zuwarfen. Arweds Gemüt verfinsterte sich zusehends. Eigentlich hätte es ihm vertraut vorkommen müssen: die Feldarbeit, der Schweiß, der Dreck, die Mühsal, aber hier draußen auf der abweisenden Ebene unter diesem lichtlosen Himmel erschien ihm das alles plötzlich beängstigend fremd und zutiefst hoffnungslos. Jetzt wäre er für das übliche Geplapper seines Bruders überaus dankbar gewesen, aber von Ove kam kein Wort. Bald begann das drückende Schweigen ebenso an Arwed zu nagen, wie die triste Umgebung. Nach weiteren fünf, sechs Meilen verhaltenen Trabes durch lähmende Stille, brachte er sein Pferd schließlich auf Halvors Höhe.


    „Vater, verzeih die Frage, aber du erinnerst dich doch sicher, dass wir eigentlich nach Mogontiacum wollten? An den Rhenus. Mir scheint, dieser Weg führt uns direkt nach Utgard.“
    Halvor bedachte seinen Sohn mit einem dünnen Lächeln. „Interessante Gegend hier, nicht wahr?“
    „Interessant?“ wunderte sich Arwed, „Trostlos trifft es wohl eher.“
    „Ganz recht.“ bestätigte Halvor. „Und sehr aufschlussreich. Keine Bewässerungsrinnen, keine zusammenhängenden Anbauflächen, keine Fruchtfolge. Steinige Äcker, die so lange mit ein und derselben Feldfrucht besät werden, bis sie nur noch als Viehweiden taugen. Trockene Erde, karge Ernten, stumpfsinnige Schinderei jahrein jahraus. Was du da siehst, sagt so einiges aus.“ Arwed blickte sich trübsinnig um. „Und worüber?“
    „Über das Wesen der Stämme, die sich den Errungenschaften Roms verschließen. Was ist wohl lohnender? Ein Jahr voll bitterer Plackerei, in dem man dem ausgelaugten Boden gerade so viele Scheffel Getreide abtrotzt, um einigermaßen über den Winter zu kommen oder ein Raubzug? Auch bei den Askaleuda wird der kommende Winter sehr bitter werden, aber hier lauert eine Katastrophe. Was glaubst du, werden diese Sippen tun, wenn die Speicher schon zu Gilbhart leer sind? Sich dem Schicksal fügen und still verhungern?“
    „Wohl kaum.“ rmusste Arwed einräumen. Sie würden versuchen, sich bei den Nachbarstämmen zu versorgen oder gar in die römischen Provinzen vordringen. „Demnach sind harmlose Bauern und Handwerker nur so lange harmlos, wie ihre Familien zu essen haben.“
    „Ich sehe, du hast es verstanden.“ nickte Halvor ernst. „Die Trockenheit wird in Germania noch für erhebliche Unruhe sorgen. Ich gebe zu, dass das auch einer der Gründe ist, euch noch diesen Sommer in römische Dienste zu schicken. Ein klares Signal, auf wessen Seite wir stehen. Also keine Bange, wir sind hier schon auf dem richtigen Weg.“ Halvors dreifingrige Hand wies in Richtung Nordosten. „Siehst du das blasse graue Band, das dort auf die Hügelkette zuläuft? Das ist die Dubra. Sie wird uns geradewegs zum Moenus führen.“ Jetzt, wo sein Vater darauf deutete, sah Arwed es auch. Im trüben Dunst, zwölf, vielleicht auch fünfzehn Meilen voraus kamen die Schemen von bewaldeten Hügeln ins Blickfeld. Endlich. Trotz der Erleichterung, die sich augenblicklich in ihm ausbreitete, war Arwed von Halvors Antwort nicht restlos befriedigt. „Ja, ich sehe es, Vater. Nur .. die Dubra, der Moenus .. ist das nicht ein völlig unnützer Umweg? Der Rhenus liegt schließlich im Westen.“ Halvor sah Arwed mit einem unergründlichen Lächeln an. „Du kannst es wohl kaum erwarten, deinen alten Vater loszuwerden. Ob der Umweg sich am Ende als unnütz erweist oder nicht, liegt allein an euch.“ Wieder so eine kryptische Aussage, mit der Arwed nichts anzufangen wusste.

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    Der Morgen verstrich so trübe wie er begonnen hatte. Erst als die Reiter die ungastliche Ebene hinter sich gebracht und das Hügelland an der Dubra erreicht hatten, zeigte die bleierne Wolkendecke erste Risse, durch die sich das Sonnenlicht mit langen dünnen Fingern über die Hänge tatstete. Zunächst erleichtert darüber, der trockenen staubigen Hitze des offenen Landes entkommen zu sein trabten die Reisenden jetzt in eine drückend feuchte Schwüle hinein, die ihnen die leichten Tuniken in kürzester Zeit wie nasse Lappen am Körper kleben ließ. Je weiter sie der Dubra nach Norden folgten, desto stickiger wurde es in der Flusssenke. Arwed sah beklommen in die Landschaft. Auf den ersten Blick hatte dieses idyllische Tal gewirkt wie eine fruchtbare Insel im vertrockneten Umland. Zwar hatte der unerbittliche Sommer auch hier die Wiesen gedörrt, sie aber nicht verbrannt. Der Boden war obwohl trocken und körnig immer noch dunkel. Aus den Ablaufgräben am Wegrand stieg der Geruch von schlammigen Wasser. Mehr als zwei Tage konnten seit dem letzten kräftigen Regenguss noch nicht vergangen sein. Dennoch würde die Ernte hier kaum üppiger ausfallen als zuhause an der Dalslang. „Haglan.“ knurrte Halvor bitter. „Auf diesem Sommer liegt wahrlich ein Fluch.“ Arwed nickte schweigend. Ein beträchtlicher Teil der Felder war niedergelegt, die Halme zerzaust, geknickt und zu Boden gedrückt als hätten sich trunkene Riesen darauf gewälzt. Auf den unversehrten Feldstreifen am Fuß der Waldhänge waren Männer wie Weiber verbissen dabei, die verbliebene Ausbeute an Weizen und Hafer einzubringen bevor die Götter sie mit dem nächsten Hagelsturm strafen konnten. Auch auf den Höfen, die sie passierten, herrschte hektisches Treiben. Abgedeckte Dächer wurde mit Strohmatten versehen, verwehte Heudiemen wieder aufgerichtet und unterspülte Zaungatter neu verankert. Halvor grüßte den einen oder anderen Hofherren, ließ sich aber auf kein Gespräch ein. Die wachsende Ungeduld war ihm deutlich anzumerken. „Ich kann nur hoffen, dass es auf Appius Anwesen besser aussieht als hier. Noch gute fünf Meilen, dann wissen wir es.“
    „Appius Anwesen?“ fragte Arwed hoffnungsvoll. „Unser Tagesziel?“
    „So ist es. Dein Bruder hat sich doch gestern ein Nachtquartier gewünscht. Heute haben wir eins. Hoff ich zumindest.“


    Zwei Meilen weiter teilte sich die Hügelkette und entließ die Dubra in ein weites Flusstal, aus dem der feuchte Dunst in klebrigen Schwaden bis in die Seitentäler quoll. Nach einer weiteren Meile kam schließlich der Moenus in Sicht. Träge schob sich der Fluss von Nordosten her durch den Auwald, nahm die Dubra auf und wand sich dann in engem Bogen nach Nordwesten davon. Am Südufer waren nur wenige Gebäude zu sehen. Ein paar auf Pfählen gebaute Fischerhütten, eine Fährstelle, ein Speicherschuppen, sonst nichts. Am gegenüberliegenden Ufer dagegen zog sich eine dicht bebaute Siedlung den Strom entlang. Nach dem Ritt durch eher dünn besiedelte Landschaften wirkte das Giebelgewirr im höchsten Maße einladend auf Arwed. Aus den Schmieden drang monotones Hämmern über den Fluss. Von den Tennen erhob sich der dumpfe Rhythmus aufschlagender Dreschflegel. Zwischen den Häusern wuselte geschäftiges Volk herum, Schweine wurden durch die Gassen getrieben, Säcke und Körbe zu den Scheuern geschleppt, an langen Balkenstegen vertäut wurden schwerfällig wirkende Lastkähne beladen. Arwed war begeistert. Dort drüben gab es sicher auch lauschige Schänken und aufgeschlossene Wirtstöchter.



    Entgegen Arweds Hoffnung hielt Halvor jedoch nicht auf die Fähre zu, sondern bog in einen steinigen Hohlweg ab, der die Kolonne durch ein lichtes Ulmenwäldchen auf einen sanft abfallenden Hang hinausführte, von dessen höchster Stelle ein einsames Gehöft auf das Tal hinunterblickte. Schon von weitem betrachtet unterschied sich das Anwesen deutlich von den einfachen Höfen, an denen sie bislang vorbei gekommen waren. Die bereits abgeernteten Felder wechselten sich mit ruhenden Brachflächen ab, das Heu ruhte auf stabil gebauten Reitern und die sauber gezogenen Gräben zwischen den Anbauflächen mündeten in ein ausgemauertes Becken. Der Eindruck durchdachter Ordnung setzte sich auch in den Gebäuden fort. Der Arbeits- und Wohnkomplex des Gehöfts wurde von einer schulterhohen Mauer begrenzt. Aus Holz gebaute und mit rotem Lehm verputzte Langhäuser, Speicher und Ställe waren schnurgerade auf ein breites mehrstöckige Haupthaus ausgerichtet, dessen Mauern aus hellen Ziegelsteinen bestanden und dessen Dach nicht mit Strohmatten sondern mit Holzschindeln gedeckt war. Einige davon waren offensichtlich erst vor kurzem ausgewechselt worden. Wohl infolge des Hagelsturmes, der ansonsten keine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte. Halvor seufzte erleichtert auf. „Bei den Asen, da hat der Bursche wieder mal Glück gehabt.“ Als sie das Tor passierten fiel Arwed eine Reihe von wuchtigen Säulen ins Auge, die das Vordach des Wohnhauses trugen. „Sieht fast aus wie eine Villa Rustica bei uns im Süden. Ist dieser Appius Römer?“
    „Nein. Appius ist das Haupt der Herutaleuda und somit ein Blutsverwandter unserer Sippe. Aber er wäre gern Römer. Er ist ein glühender Bewunderer der Romani und gerade weil er kein Civis Romanus ist, legt er sehr viel Wert darauf, die römische Lebensart zu verkörpern.“
    „Ein bisschen zu viel Wert, wenn du mich fragst.“ warf Thrasea grinsend ein. „Und das sag ich als Römer.“ Vor dem breiten Haus angekommen, wurde Arwed schnell klar, was Thrasea meinte. Kaum waren sie von den Pferden gestiegen, eilte ein herausgeputzter beleibter Kahlkopf auf sie zu, der bei jedem seiner trippelnden Schritte acht geben musste, mit den weinroten Sandalen nicht an der überlangen weißen Toga hängen zu bleiben. Das graue Haar war nach vorn gekämmt, die Stirn zierte ein glitzernder Schmuckreif und an den fleischigen Fingern schimmerten fein ziselierte Ringe.


    „Eheu, fucaces labuntur anni!“ flötete der nachgemachte Römer erfreut, „Caius! Sextus! Welch überbordende Freude, euch wiederzusehen!“
    Während Halvor und Thrasea auf den strahlenden Appius zueilten, um ihn in die Arme zu schließen, verjagten Thraseas Begleiter zwei eifrige Knechte, die sich Pferden und Gepäck hatten annehmen wollen. „Finger weg!“ blökte nun auch Thrasea zu den eingeschüchterten Bediensteten hinüber. „Meine Männer kümmern sich um alles! Es reicht, wenn ihr sie zu den Stallungen führt!“
    Die Jungmannen standen derweil herum wie Schafe. Erst auf Oves empörtes Räuspern wandte sich Halvor zu ihnen um. „Ach ja. Das sind meine Söhne Lucius und Marcus, und das ist Galeo, der Sohn meines verstorbenen Bruders.“ Arwed und Ove nickten höflich, nur Ratnar ließ bei der Erwähnung seines römischen Namens ein missmutiges Brummen vernehmen. „Sie werden sich der Ala Secunda Numidia anschließen.“ fuhr Halvor mit stolzer Stimme fort. „Aber zuerst sollen sie mich nach Virtibriga begleiten.“ Der Patron ließ die Zähne blitzen und wallte mit einladender Geste auf die jungen Männer zu. „Ah, sehr schön, Equites für das Reich. Seid willkommen in meinem bescheidenen Heim, Amici. Ich bin Appius Cervus Herutaleudus, für euch einfach Appius. Aber bitte, gehen wir doch hinein. Meine Casa ist eure Casa.“ Appius trippelte plappernd voraus unter dem Vordach hindurch in eine langgezogene schmale Halle. „Ihr scheint gut vorangekommen zu sein, wir hatten euch eigentlich erst am Abend erwartet. Aber um so besser. Ich habe nämlich ein paar Amphoren mit vorjährigem Spanier in der Zisterne versenken lassen. Wenigstens der Wein ist kühl. Aber erholt euch erst einmal. Wenn es euch nach etwas Ruhe verlangt, wird euch mein Diener Pausania zu den Gastgemächern führen. Zur zwölften Stunde wird euch im Triclinium ein wie ich hoffe angemessenes Mahl erwarten. Pausanias!“ Der Gerufene kam eilig einen Treppenaufgang herab, winkte die Gäste hinter sich her und stieg die Stufen flink wieder hinauf, gefolgt von drei jungen Askaleuda, die sich noch immer wie Schafe vorkamen und nicht das geringste Bedürfnis nach Ruhe hatten, zumal Halvor, Thrasea und Appius angeregt plaudernd in der Tiefe der hinteren Räume verschwanden.


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    Das Mahl erwies sich in der Tat als angemessen. Mehr als das. Angesichts des Mangels, der dem gesamten Umland drohte, empfand Arwed die verschwenderische Fülle an Speisen, die Appius hatte auftragen lassen, als reichlich unangebracht und übertrieben. Nicht minder übertrieben wirkte das mit Vasen, Büsten, Figuretten und anderem unnützen Krempel überfrachte sogenannte Triclinium, ganz zu schweigen von der Aufmachung des Gastgebers und seiner Familie. Vor allem Collatina und Camilla, Gattin und Tochter des Hausherren, boten einen fast schon furchterregenden Anblick. In grellbunte nachlässig geraffte Gewänder gehüllt, behangen mit allen Arten von Geschmeide, und bemalt und frisiert als wären sie gekommen, die Winterdämonen zu vertreiben, hatten sich Mutter und Tochter auf ihre Liegen drapiert und verschlangen von dort aus die jungen Gäste mit lüsternen Blicken. Arwed versuchte, den penetrant süßlichen Geruch, der von den Frauen ausging, mit dem penetrant sauren Wein zu übertünchen und tat so, als folge er konzentriert jedem Wort, das seinem Vater, Appius oder Thrasea über die Lippen kam. Das Gespräch der Älteren plätscherte launig vor sich hin. Grüße wurden ausgerichtet, Erinnerungen aufgefrischt und Geschäftsabschlüsse gepriesen. Die Jungen dagegen schütteten tapfer den lausigen vorjährigen Spanier in sich hinein, dabei tunlichst jeden Blickkontakt mit den Damen des Hauses vermeidend. Eine ganze Weile nahmen Collatina und Camilla die offen zur Schau getragene Ignoranz klaglos hin, verabschiedeten sich dann aber ebenso barsch wie unvermittelt, vorgeblich um plötzlich aufgetretene Nackenschmerzen zu lindern. Kaum waren sie entschwebt, wandte sich der eben noch ausgelassen schwadronierende Appius mit ernstem Blick an seine Gäste. „Ich denke, wir sollten der Versammlung besser fern bleiben.“
    Halvor und Thrasea hoben schnaubend die Köpfe, unterbrachen Appius aber nicht. „Die Gegend um Virtibriga ist im Moment kein empfehlenswertes Reiseziel, müsst ihr wissen. Seit ich die Botschaft von eurem Kommen erhalten habe, hat sich die Lage hier geändert. Vom oberen bis zum unteren Moenusbogen werden seit Tagen Überfälle berittener Uultabeuda gemeldet. Anfangs hatten sie es vor allem auf abgelegene Höfe abgesehen, tauchten auf wie aus dem Boden gewachsen, plünderten Speicher, Koppeln und Weiden und lösten sich dann wieder in Luft auf, ganz nach alter Väter Sitte. Einen Tag vor dem Sturm sind sie dann bis nach Virtibriga vorgedrungen. Gut drei Dutzend Pferde und nochmal so viele Kühe haben sie fort getrieben. Bei jedem neuen Angriff scheint die Zahl der Uultabeuda zu wachsen. Vor Virtibriga sollen sie angeblich in Kohortenstärke aufgetaucht sein.“
    „Uultabeuda?“ hakte Thrasea sofort ein als Appius geendet hatte. „Aber das sind Chatti. Was treibt die so weit nach Süden?“
    „Die schlechte Ernte, nehme ich an. Wie es scheint decken sie sich hier unten für den Winter mit Pferden, Rindern und Korn ein. Jedenfalls ist es dieser Tage nicht ratsam, ohne eine entsprechende Anzahl an Kriegern nach Osten zu reiten.“
    Arwed stellte besorgt seinen Becher ab. Wovon redete Appius da? Was für eine Versammlung? Thrasea hatte ihm von geschäftlichen Angelegenheiten erzählt, also war er von einem Rossmarkt ausgegangen. Versammlung klang ihm entschieden zu sehr nach Goden, Wölven und alten Ritualen. Verwirrt blickte er auf seinen Vater, aber der schien sich nicht bemüßigt zu fühlen, seinen Sohn aufzuklären.
    „Pferde für den Winter.“ murmelte Halvor nachdenklich über seinen Becher. hinweg „Vieh und Getreide, in Ordnung, aber Pferde? Klingt mir weniger nach einem simplen Raubzug, eher nach den Vorbereitungen für einen Heerzug. Fragt sich nur, wohin. Hat es in jüngster Zeit schon einmal Kämpfe mit den Chatti gegeben?“
    „Hier nicht. An der Laramündung haben sie eine Handvoll Leibeigene erschlagen und ein paar Mägde verschleppt, nichts von Belang. Aber wie man hört, sind sie im Nordwesten mit römischen Einheiten aneinander geraten. Es tut sich was da oben.“
    „Umso wichtiger ist es, der Versammlung beizuwohnen.“ gab Thrasea zu bedenken.
    Appius wiegte zweifelnd den Kopf. „Wenn sie überhaupt stattfindet. Im Moment können sich die Sippenhäupter noch nicht einmal darauf einigen, wer wie viele Männer stellen soll, um den Chatten entgegen zu treten. Für diplomatische Vorstöße sehe ich da keinen Spielraum. Nicht jetzt.“
    „Wir müssen trotzdem hin.“ beharrte Thrasea beinahe trotzig auf seinem Standpunkt. „Gerade jetzt. Wenn die hungernden Stämme erst einmal in Bewegung geraten, ist es zu spät.“
    Appius ließ sich nicht beirren. „Ich kann es nur wiederholen: Die Gegend ist gefährlich.“
    „Das sind wir auch.“ stellte Halvor entschlossen fest. „Wir werden uns schon zu verteidigen wissen. Oder sind wir etwa Knechte?“
    Unvermittelt sprang Ove auf. „Niemals! Freie Männer sind wir! Mit Freude ziehen wir in den Kampf! Wir sind vorbereitet, Vater, das weißt du. Wir werden die Askaleuda stolz machen! Wir werden ..“
    „Einen Dreck werdet ihr!“ belferte Halvor unerwartet hitzig. „Ihr zieht nach Mogontiacum und sonst nirgendwo hin. Ist das klar?“
    Ove schielte Halvor kurz herausfordernd an, ließ sich dann aber mit gesenktem Haupt wieder auf die Cline plumpsen. „Aber war es nicht dein Plan, uns nach Virtibriga mitzunehmen? Du hast es doch selbst gesagt.“
    „Mein Plan hat sich soeben geändert. Übereifrige Hitzköpfe sind das letzte, was wir hier gebrauchen können. Ihr drei werdet im Morgengrauen nach Westen aufbrechen. Appius, kannst du einen deiner Männer als Führer abstellen? Wie du weißt, ist es ein beschwerlicher und heimtückischer Weg über die Berge bis an den Rhenus.“


    Appius nickte versonnen. „Natürlich. Gewiss. Aber erlaube mir, noch einen anderen Vorschlag zu machen. Drüben am jenseitigen Ufer haben die Frachtboote meines Geschäftspartners Carneades festgemacht. Auch er wird sich morgen früh auf den Weg flussabwärts zum Rhenus machen. Was läge näher, um sicher und unbehelligt nach Mogontiacum zu kommen als die Reise zu Wasser? Drei Mann, drei Pferde. Dafür wird Carneades sicher noch ein Plätzchen finden. Jung und kräftig wie deine Schützlinge sind, geben sie sicher ganz hervorragende Ruderer ab.“
    „Boote?“ ereiferte sich plötzlich der ewig schweigende Ratnar und knallte seinen Becher vor sich auf die Cline. „Sicher nicht! Ganz sicher nicht! Bin ich Fischer? Außerdem, Bier wär mir lieber!“
    „Genau!“ schloss sich Ove an. „Reiter rudern nicht! Ruderer reiten ja auch nicht! Wir bleiben und kämpfen!“ Thrasea feixte vergnügt, Halvor knurrte angsteinflößend, Arwed hielt sich raus. Ihn hatte der reichlich genossene Wein weder erheitert noch aufgestachelt, sondern melancholisch werden lassen. Erst im Lauf des fortschreitenden Abends war ihm so richtig bewusst geworden, dass der Abschied nun unweigerlich bevorstand. So oder so. Der Umweg über Virtibriga wäre ohnehin nur ein Aufschub gewesen. Egal, wo Ove, Ratnar und er sich morgen um diese Zeit befinden mochten, im Sattel oder am Ruder eines Flussbootes, Halvor und Thrasea würden nicht mehr bei ihnen sein. Auch ihm passte es ganz und gar nicht, dass ständig über ihren Kopf hinweg entschieden wurde als seien sie nur ein paar unfreie Mistschaufler, aber Halvor hatte nun mal das Sagen, zudem wollte Arwed ihren letzten gemeinsamen Abend nicht mit Misstönen trüben. Halvor stand sowieso schon kurz vor der Eruption.


    „Ach so, mein Sohn ist sich zu fein zum Rudern. Will lieber kämpfen. Gegen wen denn? Hier gibt es nichts zu kämpfen! Nicht für dich! Und du, mein aufmüpfiger Neffe, solltest dich auf das beschränken, was du am besten kannst: Saufen, Fressen, Klappe halten. Ihr Schafsköpfe macht mir die Entscheidung wirklich leicht. Appius hat völlig recht. Auf dem Wasserweg kommt ihr relativ sicher direkt von hier nach Mogontiacum. Genau so wird es geschehen. Ende der Anhörung. Damit ist alles gesagt.“ Ove und Ratnar sanken in sich zusammen. Halvor funkelte sie noch eine Weile wortlos an und wandte sich dann lauernd an Arwed. „Oder hat mein Ältester vielleicht auch noch einen geistreichen Einwand beizusteuern?“ Arwed schob sich betont unbeteiligt die Kissen zurecht. „Nein Vater. Nur dass mir ein Krug Bier auch lieber wäre.“


    ÷ ÷ ÷


    So kam es, dass sich die Jungmannen am Morgen ihres dritten Reisetages an Bord eines von drei vollbeladenen Transportkähnen wiederfanden, die in gemächlicher Fahrt der Reichsgrenze entgegen trieben. Halvor, Thrasea und Appius hatten sie im Morgengrauen über den Fluss zur Anlegestelle begleitet und sich dort bemüht nüchtern von ihnen verabschiedet. Nun standen die jungen Askaleuda schweigend bei ihren Pferden, blickten trübe nach Osten, bis das letzte Haus des Dorfes hinter der Flussbiegung verschwunden war, und wussten nicht so recht, was sie von alldem halten sollten. Vor allem Arwed trug schwer an der neuen Situation. Noch vor dem Aufbruch zur Fähre hatte sein Vater ihm als dem Ältesten das Versprechen abgenommen, auf Bruder und Vetter acht zu geben und regelmäßig nachhause zu schreiben. Was von beidem ihm größere Schwierigkeiten bereiten würde, vermochte Arwed nicht einmal abzuschätzen.

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    Besonders schnell ging es nicht gerade voran, zumindest nach Arweds Eindruck. Jeder der drei Kähne war mit acht Ruderern besetzt, zwei mal zwei am Bug, zwei mal zwei am Heck, aber nur die Hälfte davon trat in Aktion. Die anderen tauchten die Riemenblätter nur ins Wasser, wenn es die Strömung auszugleichen oder Flusskehren zu umrunden galt. Wäre es nach Arwed gegangen, hätten sich die Männer ruhig mehr ins Zeug legen können, um den noch lauen Morgenstunden so viele Meilen wie möglich abzutrotzen, aber es ging nun mal nicht nach ihm. Er war hier nur ein geduldeter Passagier, ebenso wie Bruder und Vetter. Oves Befürchtung, zu niedrigem Ruderdienst genötigt zu werden, hatte sich schnell als unbegründet erwiesen. Carneades dachte gar nicht daran, die Askaleuda an die Riemen zu lassen. Er brauche keine ungeschlachten Pflugochsen, hatte der Händler ihnen brüsk erklärt, sondern eine eingespielte Mannschaft. Was er damit meinte, war schon nach wenigen Meilen klar geworden. Der Moenus, so geruhsam er sich durch die Landschaft mäanderte, war ein hinterhältiger Geselle. An manchen Stellen machte er sich so schmal, dass sich die Baumkronen über der Flussmitte fast berührten, an anderen wiederum blähte er sich zu trügerisch dunklen Buchten auf, in denen sich eine Untiefe an die andere reihte. In den zahlreichen Kehren und Schleifen lauerten heimtückische Felsbuckel und Kiesbänke unter der stillen Wasseroberfläche. Die erfahrenen Ruderer mussten ihr ganzes Geschick aufwenden, um die flachbordigen Prähme in der Fahrrinne zu halten. Auch wenn er sich freundlicherer Worte hätte bedienen können, hatte Carneades dennoch vollkommen recht. Den Moenus konnten nur Ruderer überlisten, die ihn kannten. Die Jungmannen hätten weder schnell genug erkannt, wo es geraten war, die Riemen einzuziehen, um sie als Staken zu benutzen, noch hatten sie ein Gefühl dafür, wie tief und wie energisch man sie senken musste, um eine gleichmäßige Geschwindigkeit zu halten. Die ortskundigen Ruderer beherrschten das alles. Keine Frage, Arwed, Ove und Ratnar hatten auf den Ruderbänken tatsächlich nichts zu suchen.


    So ließen sie sich stattdessen gelangweilt bei ihren Pferden nieder, die sie zwischen Ballen, Säcken und Fässern im Mittelteil des zweiten Lastkahnes an den Querspanten festgemacht hatten. Auch was die Reittiere betraf, hatte der Bootseigner noch vor dem Ablegen eine klare Ansage gemacht: Entweder sie verhielten sich ruhig oder Carneades würde sie samt Reiter an der nächsten seichten Stelle absetzen. Eine völlig überflüssige Drohung, denn die Tiere stammten aus Halvors Zucht und waren von ihm aufgezogen und ausgebildet worden. Eher wäre die gesamte Mannschaft in Panik verfallen als die disziplinierten Pferde der Askaleuda. Einen wirklichen Grund zur Beunruhigung bot die Fahrt bislang ohnehin nicht, abgesehen vielleicht von den lästigen Stechmücken.


    Nach der vierten Flussbiegung wichen die letzten Nebelbänke der gleißenden Morgensonne. Auf dem Moenus wurde es drückend heiß und lähmend still. Die Riemenblätter tauchten dumpf gurgelnd ins Wasser, die Mückenschwärme erfüllten die stickige Luft mit einschläferndem Brummen, auf dem ersten Boot wurden ab und zu Carneades knappe Anweisungen laut, sonst war nichts zu hören. Zu sehen war auch nicht viel mehr. Ein schmales Band aus Binsen, Schwertlilien und Schilf säumte den Fluss, dahinter erhob sich turmhoher Laubwald. Arwed war davon ausgegangen, dass sich das Moenustal als um so dichter besiedelt erweisen würde, je näher sie der Grenze kamen. Wenn es sich so verhielt, war jedenfalls nichts davon zu sehen. Die dichten Wälder erlaubten keinen noch so flüchtigen Blick ins Hinterland. Einzig ein paar gelichtete Anlegestellen, von denen schmale Pfade in die Wälder abzweigten, ließen darauf schließen, dass die Gegend bewohnt war. Um Arwed dauerhaft von seinen sorgenvollen Gedanken an Halvor und Thrasea abzulenken bot die Aussicht deutlich zu wenig Abwechslung. Also beschloss er nach einer Weile, es Ove und Ratnar gleich zu tun, und sich zwischen den Ballen ein Schläfchen zu gönnen. Aber daraus wurde nichts. Kaum hatte er sich lang gelegt und die Lider geschlossen, brachte ihn ein erregtes Schnauben wieder auf die Beine. Die Reittiere waren nun doch unruhig geworden. Der Grund dafür erschloss sich Arwed nicht auf Anhieb. Mit zusammengekniffen Augen spähte er den Fluss hinunter. Auf den ersten Blick wirkte alles so ausgestorben und eintönig wie zuvor. Wasser. Röhricht. Wald. Nur am Nordufer, etwa eine Meile voraus, glaubte er Bewegung wahrzunehmen. Den Blick auf das Schilf geheftet ging er langsam zum Bug, starrte angestrengt in den Schatten einiger weit ausladender Weiden und erkannte plötzlich, worauf er da blickte.


    Pferde. Eine ganze Menge Pferde. Kleine struppige Germanenpferde, die sich mit weit vorgereckten Hälsen am Flusswasser gütlich taten. Mindesten zwei Dutzend davon standen Rücken an Rücken im seichten Morast. Hinter ihnen, im Dämmerlicht unter den Weidenkronen, warteten regungslos ihre Reiter. Hochgewachsen, verdreckt, bewaffnet mit Schilden, Speeren und starren feindseligen Blicken. Mit jedem Ruderschlag, der die Prähme näher an das Weidengehölz brachte, sah Arwed mehr Reiter im Walddunkel herankommen. Er rief eine Warnung zum ersten Boot hinüber, aber dort hatte man die Gefahr mittlerweile ebenfalls bemerkt. Ein paar Ruderer erhoben sich von ihren Bänken um hinter der Ladung Schutz zu suchen, die anderen duckten sich hinter die Bordwand, allein Carneades stand aufrecht am Heck und brüllte auf die Männer ein, verflucht nochmal ihre Arbeit zu machen und den Kurs zu halten. Die Unruhe übertrug sich rasch auf die nachfolgenden Kähne. Ove und Ratnar fuhren verschlafen hoch, die Mannschaft zerrte hektisch an den Holmen, sich offensichtlich völlig unschlüssig darüber, ob sie das Boot flussaufwärts rudern oder am Südufer auf Grund setzten sollten. Die stetig wachsende Zahl an Stammeskriegern dagegen verharrte ungerührt zwischen den Bäumen und beschränkte sich darauf, das chaotische Treiben auf den Lastkähnen aufmerksam zu beobachten. Carneades brüllte unbeirrt weiter, und endlich, als sie fast schon auf Höhe der Reiterhorde angelangt waren, gelang es ihm, zu seinen Männern durchzudringen und sie zu geordneten Aktionen zu bewegen. Kraftvoll hoben und senkten sich nun die Riemen, aber obwohl sich die Ruderer sichtlich abmühten, schien es Ewigkeiten zu dauern, bis die Boote das dicht bevölkerte Waldstück passiert und die nächste Flussschleife erreicht hatten.


    Nach dieser Begegnung erschien Arwed nichts mehr an der Landschaft eintönig. Während Ove und Ratnar ihrer Anspannung begegneten, in dem sie sich durch den Reiseproviant fraßen und Thraseas Abschiedsgeschenk, einen prallen Weinschlauch, kreisen ließen, stand er still am Bug und starrte auf Fluss und Wälder als habe er dergleichen noch nie zuvor gesehen. Gegen Ende der fünften Stunde registrierte er erleichtert, dass sich der Waldrand allmählich etwas vom Südufer zurückzog und einem breiten befestigten Weg Platz machte, der sich von nun an den Moenus entlang zog wie ein helles Saumband. Gegen Meridies beschrieb der Fluss einen engen Bogen nach Norden. Der Uferweg folgte der Kehre und füllte sich zusehends mit Fuhrwerken und vereinzelten Reitern. Nach einer knappen Meile endete der Wald im Osten abrupt an einer weitläufigen Schneise. Am westlichen Ufer wurde der Strom von einer spitzen Landzunge verengt, hinter der nach ein paardutzend Ruderschlägen das rötlich schimmernde Dach eines römischen Wachturms auftauchte. Ove und Ratnar warfen aufgeregt Speckstreifen und Trinkschlauch beiseite und tappten zum Bug. Jenseits der Landzunge wurde der Fluss wieder breit und ruhig. Von der Anlegestelle am Fuß des Wachturms lösten sich zwei schlanke Ruderboote. Poliertes Metall funkelte in der Mittagssonne, abgehackte Kommandos hallten über das Wasser. „Eine Flusspatrouille!“ rief Ove begeistert aus. In der Tat. Von jeweils sieben in Doppelreihe rudernden Milites angetrieben, bewegten sich die wendigen Boote zügig auf Carneades Führungsprahm zu. Die Riemen wurden eingezogen. Eines der Patrouillenbote ging längsseits, das andere folgte den langsam dahingleitenden Lastkähnen in einiger Distanz. „Sieh mal!“ Mit fettglänzenden Fingern deutete Ove auf die westlichen Hügel. Hoch über dem Tal thronte ein zweiter Wachturm, einige Meilen nördlich ragte die Dachspitze eines weiteren Turmes über Bäume und Sträucher empor. „Wir sind an der Grenze, oder? Das da drüben ist Germania Superior, stimmts?“ Arwed nickte mit zufriedenem Lächeln. „Sieht ganz so aus, Bruder. Die Zivilisation hat uns wieder.“

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