Mythen

Aus Theoria Romana
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Für Griechenland und Rom geht man von folgender Definition aus: Mythen sind traditionelle Geschichten, die aus der Vorzeit berichten und dabei Grundfragen und Grundwerte der Gesellschaft zum Thema machen.

Die Zeitspanne der Mythen reicht von der Entstehung der Welt über die Generationen der Götter, bis zu den großen Helden der Frühzeit. Die Ausbildung der großen Mythologie war eine Leistung der frühen Griechen: Rom hat dies mythologische System weitgehend übernommen und mit eigenen lokalen Traditionen und ideellen Modifizierungen ausgebaut.

Diese Geschichten wurden als tatsächlich geschehene Vergangenheit betrachtet und tradiert. Der Krieg gegen Troja wird von Herodot als Vorläufer der historischen Perserkriege zitiert, von Thukydides wird er in seinem Ausmaß mit dem Peloponnesischen Krieg verglichen. Mythische Helden wie Herakles oder Romulus werden als Gründer historischer Städte verehrt. Lange Zeit waren die Mythen die einzige Form der Vergangenheit, die man für erinnernswert ansah und im kulturellen Gedächtnis bewahrte. Als dann seit dem 5. Jhd. v. Chr. die neu entstandene Geschichtsschreibung die jüngere Vergangenheit festzuhalten begann, sah man keine grundsätzliche Differenz zwischen den Vergangenheiten, die wir heute als 'Mythos' und 'Historie' bezeichnen.

Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Helden der mythischen Vorzeit als 'größer' und 'mächtiger', gewissermaßen von höherem menschlichen Format, angesehen wurden. Daher galten ihre Schicksale, Taten und Leiden durch alle Epochen der antiken Geschichte als 'Vor-Bilder' in einem elementaren Sinn: als Leitbilder des Handelns, als Warnungen vor Fehlverhalten, als Exempel anthropologischer und ethischer Erfahrungen. Götter und Heroen hatten die Welt, so wie sie noch in der Gegenwart bestand, begründet und seither stellten sie, im Guten wie im Schlechten, Autorität und Maßstab für die Menschen der Gegenwart dar.

Seit der Zeit um 500 v. Chr. setzte zwar vereinzelt eine intellektuelle Kritik der Mythen ein, die teils auf unmoralische Aspekte, teils auf unglaubwürdige Züge in den überlieferten Geschichten hinwies, aber bezeichnenderweise bestritt sie niemals kategorisch deren Realität: Man versuchte die unwahrscheinlichen Erzählungen durch plausiblere Versionen zu ersetzen, wie es 'tatsächlich' gewesen sei; man erklärte die Geschichten der Götter als steigernde Überlieferungen über mächtige und berühmte Menschen der Vorzeit; man deutete verschiedene Mythen als Allegorien über Vorgänge der Natur - aber man tastete damit nicht die grundsätzliche Autorität der Mythen an.

Griechische Mythen sind außerordentlich vielfältig und flexibel. Gegenüber anderen Kulturen ist bezeichnend, dass die Mythen nicht durch feste Institutionen sanktioniert waren: Es gab keine Priester oder staatliche Autoritäten, die die Geltung der 'richtigen' Mythen sicherten; keine 'heiligen' Texte, die die Überlieferung stabil hielten; keine allgemein befolgten Rituale, die auf den Mythen basierten und sie durch die Zeiten transportierten. So entwickelte sich eine Vielzahl von Erzählungen, mit Varianten und Neuschöpfungen, wechselnd nach Ort und Zeit. Es gab Mythen von gesamtgriechischer Verbreitung und daneben solche von lokaler Begrenztheit auf einzelne Landschaften und Städte, Mythen mit langlebigen Traditionen und daneben solche mit raschen Veränderungen. Überall waren die Mythen in den verschiedensten Situationen des Lebens präsent und für die verschiedensten Zwecke verfügbar:

  • in Religion und Kult: Der Gründungsmythos des Heiligtums von Delphi besagte, dass Apollon den Python-Drachen getötet hatte und daraufhin diesen heiligen Platz in Besitz nahm. Die Gründung des Heiligtums von Delos war damit verbunden, dass Leto dort Apollon und Artemis geboren haben soll. Bei den Götterfesten konnten solche Mythen in traditionellen Hymnen gesungen, ebenso aber auch in neu geschaffenen Dichtungen vorgetragen werden.
  • in der Politik: In den politischen Reden vor der Bürgerschaft, in Athen besonders bei den Staatsbegräbnissen der Kriegstoten, wurden die Ruhmestaten der mythischen Vorfahren als Leitbilder für die Gegenwart gefeiert. In den politischen Diskussionen zwischen den griechischen Staaten konnte mit patriotischen Mythen etwa der Anspruch Athens auf einen Ehrenplatz in der gemeinsamen Heeresaufstellung gegen die Perser, später sogar eine allgemeine politische Führungsrolle in Griechenland begründet werden. Vor allem im Streit um Landbesitz wiesen die Städte oft auf die Verhältnisse in mythischer Vorzeit hin.
  • in der monarchischen Selbstdarstellung: Alexander der Große hat seine Rolle als charismatischer Herrscher darin begründet, dass er mythische Helden, vor allem Herakles und Achilleus, zu Vorbildern wählte.
  • in gesellschaftlichen Institutionen: Beim Symposion, dem Kristallationspunkt der führenden Schichten, müssen Mythen einen anregenden Gegenstand der Diskurse über die wichtigsten Themen des gesellschaftlichen Lebens gebildet haben.

In diesem vielfältigen Gebrauch erfuhren die Mythen vielfache Umformungen, je nach den Voraussetzungen und Bedürfnissen der betreffenden Gesellschaften, Personen und Situationen. Dennoch waren die griechischen Mythen keine beliebige Kollektion von einzelnen Geschichten, sondern bildeten eine geschlossene Welt. Die meisten Mythen waren in einem großen Rahmen miteinander verbunden. Zugrunde lag ein genealogisches System: Es umfasste die Götter in insgesamt vier Generationen; dazu die Helden der Frühzeit, die sich wiederum im wesentlichen in drei bis vier Generationen konzentrierten.

Die Traditionen vieler Mythen scheinen in die Vorgeschichte der Bronzezeit und teilweise bis ins Neolithikum zurückzugehen. Fassbar sind sie aber erst seit dem 8. und 7. Jhd. v. Chr. Damals haben die Dichter der aufblühenden Helden- und Götterdichtung, allen voran Homer mit Ilias und Odyssee, sowie Hesiod mit der Theogonie, verstreute einzelne Überlieferungen in großen Epen zusammengefasst und ihre Geltung im gesamten griechischen Raum bestärkt.

In der Bildkunst erscheinen Szenen verschiedener Mythen seit den Jahrzenten um 700 v. Chr., bald nach dem Beginn der großen epischen Dichtung Homers und Hesiods. Die bildlichen Darstellungen sind jedoch nicht einfach als Abbildungen dieser Dichtwerke zu verstehen, denn das Repertoire der Bildwerke weicht von den Themen der Epen weitgehend ab. Sie sind vielmehr eigenständige Zeugnisse für die Bedeutung der Mythen in dieser Epoche. Bildwerke stellen die Mythen grundsätzlich n anderer Weise dar als Werke der Literatur. Vielfach geben sie andere Versionen wieder, die in den Schriftquellen nicht bezeugt sind. Doch auch wenn die schriftliche und die bildliche Überlieferung dieselbe Version eines Mythos zum Thema haben, stellen die Bildwerke Wertvorstellungen und Verhaltensformen vor Augen, die mit Worten nicht in dieser Weise formuliert werden können. Die verschiedenen Gattungen der Bildwerke ergeben ein Spektrum von Lebensbereichen, in denen die Mythen Bedeutung hatten: Öffentliche Denkmäler im politischen Bereich, bemalte Gefäße im gesellschaftlichen Bereich des Symposion, der Hochzeit oder des Begräbnisses, usw.

Rom scheint in der Frühzeit keine prägnante Mythologie gehabt zu haben; nur wenige Spuren haben sich erhalten. Ein wirkungsvoller Staatsmythos wurde erst aufgrund engerer Kontakte mit griechischer Kultur, im Anschluss an die mythische Welt der Griechen geschaffen. Als Stammvater der Römer galt Aeneas, ein Angehöriger des Königsgeschlechts von Troja, Sohn der Aphrodite, der nach der Einnahme der Stadt durch die Griechen geflohen, nach langen Irrfahrten in Latium gelandet war und dort die Stadt Lavinium gegründet hatte. Nach einer längeren Folge von Königen kam es später zur Gründung von Rom durch Romulus, der zum Gründer des römischen Staates wurde. Augustus hat schließlich die beiden Heroen systematisch zu einem ideologischen Paar geformt und in zentralen Staatsdenkmälern, der Ara Pacis und dem Augustus-Forum, einander gegenübergestellt. Aeneas als väterliches Exempel von pietas, Romulus als Vorbild der virtus, des jugendlich heldenhaften Kriegers und Triumphators. Da er Aeneas zugleich als mythischen Stammvater seiner eigenen Familie, der Iulier, verehrte, gewann er in dessen 'Mutter' Aphrodite-Venus sogar eine persönliche göttliche Schutzpatronin. Dies Konzept des Augustus stellt vielleicht die perfekteste Staatsmythologie der Antike dar.


Beispiele für Mythen:


Aus: Tonio Hölscher, Klassische Archäologie, Grundwissen