adedis, atrium | Aus neun mach zehn

  • Nach Wochen der Grübeleien und tagelangem Hin- und Herüberlegen fühlte ich mich seit meinem Besuch bei der Eheregistratur wiederausgeglichener und in nicht geringem Maße frei. Ich lag träge auf einer rotbespannten Liege und starrte Löcher in das adedis. Ein kristallener Weinkelch mit tiefroter Flüssigkeit beschäftigte schwenkenderweise meine rechte Hand, während ich resümierte. Meine Entscheidung war eine gute gewesen, rein egoistisch gesehen tat sie mir nach anfänglichem (und zugegebenermaßen auch fortwährendem, wenn auch geringerem) Schmerz doch gut. Dass Deandra sich vor den Kopf gestoßen, ausgenutzt, hintergangen, ausgegrenzt oder wie auch immer fühlen musste, war mir zwar bewusst, doch ich verdrängte es schlicht zu meinem eigenen Wohle. Keine gerechte Lösung, aber eine für mich akzeptable, und ich hielt es zudem für besser, wenn wir uns nicht sahen, auch nicht befreundet, sofern das überhaupt noch möglich war nach dem Vertrauensbruch, den sie begangen hatte, und dem anschließenden scheinbaren Desinteresse. Seitdem nun aber das Verlöbnis ausgetragen und ich in gewissem Maße wieder gänzlich – und auch gedanklich - frei war in meinem Tun, gestand ich mir ein, dass mir während der vergangenen zwei Jahre etwas gefehlt hatte und ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal annähernd nachvollziehen konnte, warum genau ich mir diese Bürde der Entsagung hatte aufgezwängt. Oder aufzwängen lassen? Es war auch vollkommen unerheblich. So erleichternd war es, dem allzu menschlichen Drang nach Freiheit und der Leichtigkeit des Seins wieder nachzugeben, so befreiend...


    Mein Haar klebte nass vom Schweiß an meinem Kopf, und doch hatte eine Gänsehaut meinen Körper überzogen. Das Raubtier, welches so lange in meinem Innersten geschlummert hatte, war entfesselt worden. Gleich zwei Opfer hatte es sich auserkoren, gelenkt von einer unstillbar anmutenden Gier nach dem, was ihm so lange versagt geblieben war. Katzenhafte Bewegungen und entzückte Laute waren die Reaktion auf forsches Vorgehen, ungestüme Spielereien und raue Worte, die meiner Kehle entwichen. Solches Verlangen nach Erlösung hatte ich so lange nicht mehr verspürt. Markante Gesichtszüge mischten sich in den roten Taumel der Erregung, unwirkliche Bilder eines längst vergangenen Sommertages. Mit Feuchtigkeit benetzte Trauben und tropfender, blutroter Wein mengten sich bei und bahnten sich ihren Weg über wohlgeformte Haut. Glitzernder Freudentaumel ergriff mich, als...


    „dominus?“ Ich war schlagartig dem Traum entglitten, suchte aber dennoch mit geschlossenen Lidern an ihm festzuhalten. Eine hand berührte mich zaghaft an der Schulter, ich ergriff sie und zog sie heran. Der Sklave stieß leise einen erschrockenen Laut aus und starrte mich an. Das sah ich, weil ich ihm nun mürrisch entgegenblickte. Ja, ich trug Caecus nach, dass er den Traum nicht hatte ausklingen lassen, ehe er mich behelligte. „Äh, ehm... Da ist ein Brief für dich gekommen. Äh, Herr“, informierte mich der halbseitig Blinde nun und hielt mir einen Papyrus entgegen. Missgestimmt entriss ich ihm das Dokument und schickte ihn mit einem Kopfnicken fort. Während Caecus, sichtlich froh darüber, den Raum verließ, brach ich das offiziell wirkende Siegel.


    magister septemvirorum stand da. Nanu, was wollte denn der von mir? Hm, sicherlich hatte er geerbt. Allerdings hatte er mit mir damit wohl den falschen decemvir behelligt, denn der Name Opimius sagte mir nichts. ..beschlossen, Dich, Marcus Aurelius Corvinus, Sohn des Marcus Aurelius Antoninus, in die Reihen der Septemvires zu erheben... Ich stockte, blickte mich dann verstohlen um. Ein wirklich gelungener Scherz. Auch die Unterschrift sah recht authentisch aus. Ohne weiteres hätte ich Lupus diesen Scherz zugetraut, doch er als Kyniker hätte sich nicht einmal annähernd so gewandt ausdrücken können. Ob Cotta ihm geholfen hatte? Ich entschied, dass mein Vetter zwar den Scherzen nicht abgeneigt war, sich solch einen derben Spaß aber nicht erlauben würde. Das würde bedeuten... Erschrocken las ich den Brief ein zweites Mal. Ein drittes Mal verwundert. Ehe ich ihn das vierte Mal - und diesmal jubilierend – las, setzte ich mich auf. Ich und septemvir? In eines der bedeutendsten collegii Roms gewählt worden zu sein... Das hatte ich mit Sicherheit Aemilius Atimetus zu verdanken, denn außer ihm kannte ich keinen der Epulonen näher, sah man vom Austausch von Höflichkeitsfloskeln einmal ab. Ich erhob mich, den Brief in der Linken, und eilte aus dem Raum. Eine gute Neuigkeit war nur dann wirklich bedeutend, wenn man sie mit anderen teilen konnte, und genau das hatte ich vor. Corvinus als septemvir! Nicht einmal in meinen wahnwitzigsten Träumen hätte ich gedacht, dass ich in den Genuss einer solchen Ehre kommen würde.

  • Gelangweilt schlenderte Ursus durch das Haus. Er hatte ein wenig gelesen, aber irgendwie hatte er nicht die rechte Ruhe, sich auf die Abhandlungen zu konzentrieren. Eine merkwürdige innere Unruhe hatte ihn fest im Griff. Das Gefühl, nicht ausgelastet zu sein, etwas tun zu müssen. Das Wetter war auch mehr als bescheiden, so daß er sich noch nicht mal durch ausgiebige Stadtgänge abreagieren konnte. Der Garten war ebenfalls kein angenehmer Aufenthaltsort. Der Wind war unangenehm kühl und trieb ihn bald wieder hinein.


    So ging er von Raum zu Raum, ohne zu wissen, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Es war zum auswachsen! Zorn und Aggression wuchsen in ihm, je mehr er unruhig herumirrte. So war auch sein Gesichtsausdruck ausgesprochen finster, als er ins Atrium trat. Der Anblick des überaus fröhlichen Corvinus, der gerade mit einem Papyrus in der Hand vom adedis ins Atrium eilte, trug auch nicht gerade dazu bei, daß sich Ursus' Laune besserte.


    "Schau an, es geschehen noch Wunder. Ein fröhlicher Corvinus und dann auch noch außerhalb seines Büros. Kaum zu glauben, daß es so etwas gibt", spottete er nicht gerade freundlich, denn auf Corvinus war er im Moment ohnehin nicht besonders gut zu sprechen.

  • Kaum hatte mein Auge Ursus erfasst, änderte ich auch schon die Richtung und steuerte nun ihn an. Einer Fahne gleich schwenkte ich den Papyrus auf Brusthöhe hin und her, dabei breit grinsend. Der Spott in der Stimme meines Neffen entging mir zwar nicht, doch ich entschied spontan, dass ich wohl kaum der Auslöser für seine schlechte Laune sein konnte. "Titus, du wirst es nicht glauben", platzte ich also heraus und überging damit einfach seine spitze Bemerkung, als hätte er sie nie ausgesprochen. Ich hielt im Schwenken inne, entrollte das Dokument und hielt es alsdann meinem Neffen unter die Nase. "Schau dir das an!" forderte ich ihn auf und musterte ihn ungeduldig. Täuschte ich mich, oder las er wirklich so langsam? Nur wenige Sekunden später hielt ich es nicht mehr aus und präsentierte den Inhalt des Briefes in einem kurzen Satz: "Ich werd' zum septemvir ernannt!" Kein Zweifel, jetzt würde er sich bestimmt ebenso freuen wie ich über diese Ehre, die mir zuteil wurde. Und dass dies auch einen Vorteil für die gens bot, war ohnehin klar. Ich ließ die Hand, welche das Schriftstück gehalten hatte, also wieder sinken und grinste Ursus fortwährend an.

  • Nein, Ursus glaubte es auch tatsächlich nicht. Tatsächlich, da stand es. Marcus war nun auch noch zum semptemvir ernannt. Und als wäre es nicht genug, es lesen zu müssen, mußte er es ihm natürlich auch nochmal sagen. "Ich bin des Lesens mächtig, stell Dir vor", kommentierte er kühl. Marcus erklomm eine Stufe der Karriereleiter nach der anderen. Und darüber sollte sich Ursus auch noch freuen? "Glückwunsch, Marcus. Noch mehr Ehren, noch mehr Aufgaben - für Dich. Viel Spaß damit." Hoffentlich erstickte er dran! Und hoffentlich, bevor Ursus von Langeweile dahingerafft wurde.


    "Vielleicht sorgst Du dann gleich mal dafür, daß die Tage für Dich die doppelte Anzahl an Stunden haben, damit Du auch wirklich alles schaffen kannst." Denn irgendjemand anderem die Möglichkeit zu geben, Erfahrungen zu sammeln und sich selbst dadurch auch noch zu entlasten, darauf kam der liebe Onkel ja nicht.

  • Mein ausgelassenes Grinsen schwand allmählich einem verwunderten, mürrischen Gesichtsausdruck. Ursus' Miene sprach Bände, mehr noch als seine Worte aussagen konnten. Doch warum war er so verärgert, weshalb so verbittert? Nebenher rollte ich den Papyrus wieder zusammen.


    "Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?" fragte ich verblüfft. Dass er sich nicht für mich freute, war mir zwar etwas unverständlich, aber doch akzeptabel. Nur die Miene, welche er zur Schau trug, war mir nicht unbekannt. Wann immer ich Ursus in den letzten Wochen in einem Moment gesehen hatte, in dem er sich unbeobachtet gefühlt hatte, war da dieser verbitterte Ausdruck um seine Mundwinkel gewesen. Nur weshalb? Ich entschloss mich, der Sache gleich einmal auf den Grund zu gehen, und zu diesem Zweck drehte ich mich, legte ihm lässig einen Arm um die Schulter und schob ihn ins adedis, noch ehe er sich sträuben konnte. "Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir. Möchtest du nicht darüber reden? Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen? Titus, du bist der Sohn meines Lieblingsbruders. Wenn du ein Problem hast, sag es mir doch."

  • Ursus ließ sich zwar von seinem Onkel ins adedis schieben, löste sich aber dort gleich wieder aus dessen Arm, schüttelte ihn geradezu ab. "Ja, mir ist eine Laus über die Leber gelaufen. Eine gewaltige! Und ja, ich habe ein Problem. Beides trägt einen Namen: Marcus!" Lieblingsbruder? Pah! Davon merkte man wahrhaftig nicht viel, daß Marcus seinen Vater besonders gemocht hatte.


    "Fällt Dir eigentlich überhaupt nichts auf? Gar nichts, Marcus? Bist Du so blind für Deine Umwelt geworden? Achja, ich vergaß, Du hast ja so schrecklich viel zu tun, Du armer Kerl! Kommst ja kaum aus Deinem officium heraus. Und wenn, dann auch nur, weil irgendwelche Pflichten an anderen Orten Dich fordern." Der Tonfall troff nur so vor Sarkasmus und gespieltem Mitleid.


    Er glaubte sowieso nicht, daß Corvinus das Problem nicht kannte. Nach Ursus' Meinung war das alles Berechnung, um Cotta und ihn auszubremsen. Welchen anderen Grund könnte es schon geben?

  • Gut, nahm ich den Arm also fort. Die Lautstärke und der Ton allein wären für mich schon ein Grund gewesen, Ursus zurechtzuweisen. Zwar war er jünger als ich, nur geringfügig, aber manches Mal hatte ich durchaus den Eindruck, er sei schlichtweg unreif, dann aber wirkte er sehr erwachsen. Im Moment allerdings nicht.


    Mit gefurchter Stirn setzte ich mich auf eine Liege und bedachte Ursus mit forschendem Blick. Er hatte ein Problem mit mir? Das wollte mir nicht so ganz klar werden. Was war es, das ihn störte? Mit gezwungen stoischer Ruhe betrachtete ich meinen Neffen, den Erstgeborenen meines Bruders. Ich versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, doch erwies sich dieser Versuch als unmöglich. Nur kaum verhohlene Wut und Zynismus vermochte ich zu erkennen. "Mir fällt auf, dass du wütend bist, den eigentlichen Grund aber nicht aussprichst", entgegnete ich ruhig. "Was ist es, das dich so zerfrisst, Titus?" Er mochte ja recht haben, wenn er behauptete, dass ich viel Zeit in meinem officium verbrachte. Aber was genau störte ihn über die Maßen daran? Mir wollte es nicht klar werden.

  • "Verkauf mich nicht obendrein noch für dumm, Marcus." Ohja, Ursus war wütend. Wie sehr, merkte er erst jetzt, wo die Schleusen sozusagen geöffnet waren. Und nun tat Corvinus auch noch unwissend!


    "Bei jeder sich bietenden Gelegenheit läßt Du uns merken, wie schrecklich überlastet Du bist. Du stolperst eine Stufe der Karriereleiter nach der anderen herauf und läßt Dich beweihräuchern. Und Cotta und mich läßt Du währenddessen am ausgestreckten Arm verhungern! Seit Monaten hänge ich in dieser Villa herum und habe nichts, überhaupt nichts sinnvolles zu tun. Es gibt nichts zu tun. Was immer an Aufgaben vorhanden ist, wird von Dir erledigt und Du läßt Dir auch nichts aus der Hand nehmen. Cotta darf sich wenigstens ein bißchen um die Finanzen kümmern... Du gibst uns doch mit voller Absicht keine Gelegenheit, irgendwie Erfahrungen zu sammeln. Uns bleiben trockene Schriftrollen, die wir schon hundertmal studiert haben. - Verdammt, Marcus! Ich sterbe vor Langeweile und Untätigkeit, während Du uns vorführst, wie unersetzlich Du bist! Wieviel mehr unnütz sollen Cotta und ich uns noch fühlen? Was soll ich dem Senat erzählen, wenn ich gefragt werde, was für Erfahrungen ich habe? Daß mir nicht mal die eigene Familie zutraut, auch nur die geringste Verantwortung zu übernehmen? Und da sollen sie mir ein Amt anvertrauen? Ich bezweifle sehr, daß sie das tun werden! Ich weiß nicht, ob ich mir ein Amt geben würde unter diesen Voraussetzungen!"


    Es war eine wahrhaft lange Rede. Da hatte sich seit Wochen eine Menge angestaut und das mußte jetzt einfach heraus. Auch wenn es nichts nutzen würde, denn natürlich wußte Corvinus das alles nur zu genau! Davon war Ursus fest überzeugt.

  • Ich holte bereits verärgert Luft, um Ursus die Meinung zu sagen, als dieser sogleich weitersprach und mich damit einfach überrollte. Was er sagte, war geprägt von Neid und Selbstmitleid. Beides zusammen konnte eine explosive Mischung ergeben, welche den Redner um Kopf und Kragen bringen konnte. Das Dokument, das mich zuvor in Hochstimmung versetzte hatte, lag nun unbeachtet auf einem kleinen Beistelltisch. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Ursus war erregt und wusste nicht, was er redete, sagte ich mir, obwohl ich gut Lust gehabt hätte, ihn gleichsam anzufahren.


    "Ich möchte zuerst einmal, dass du dich beruhigst. Dein Verhalten würde ich eher von Sisenna erwarten als von dir. Auf dieser Grundlage kann man kein konstruktives Gespräch führen", bat ich Ursus. "Wenn du das schaffst, bin ich bereit, mich angemessen mit dir zu unterhalten." Die Frage war vielmehr, ob er das wollte, denn sein Können diesbezüglich stand außer Frage.

  • War Ursus bis jetzt zornig gewesen, so war es nun eisige Kälte, die ihn erfüllte und aus seinen Augen und seiner Miene sprach. "Du machst es Dir ein wenig zu einfach, Corvinus. Mich in diesem Gespräch in die Rolle des Kindes zu zwingen und Dich selbst zum Lehrer aufzuschwingen, macht die Sache nicht besser. Auch dieser Versuch zeigt nur zu deutlich, was Deine Absicht hinter all dem ist." Nicht umsonst war er jahrelang in Athen gewesen und in all diesen rhetorischen Tricks und Kniffen geschult worden. Daß sein eigener Onkel diese nun gegen ihn anwandte, erfüllte ihn einfach nur mit Abscheu.


    "Ein konstruktives Gespräch willst Du also führen? Unter diesen Voraussetzungen jedenfalls verzichte ich da dankend drauf. Ich bin kein Kind mehr, auch wenn Du das gerne so hättest. Vielleicht solltest Du erst einmal von Deinem Podest heruntersteigen, bevor Du irgendwelche Forderungen an mich stellst." Es war einfach eine Unverschämtheit, wie Corvinus sich über ihn zu stellen versuchte. Er mochte das Familienoberhaupt sein und Ursus hatte sich dem bisher auch weitestgehend gefügt, doch solch eine Behandlung brauchte sich Ursus von einem Mann, der nur wenige Jahre älter war als er selbst, nicht gefallen lassen. Immerhin war Corvinus nicht sein Vater.

  • Die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammengepresst, schenkte ich den Worten meines Neffen Gehör. Ich musste mich regelrecht zwingen, ihm nicht dazwischen zu fahren und ihn ausreden zu lassen. "Stünde ich auf einem Podest, würde ich von oben herunterschauen, was scheinbar nicht der Fall ist", gab ich kühl zurück, denn Ursus stand noch, während ich mich bereits vor einer Weile gesetzt hatte. "Hättest du also die Güte, dich zumindest zu setzen?" fragte ich ihn neutral und grübelte kurz darüber nach, ob er wüberhaupt einmal aufgepasst hatte während der Zeit, die er in Griechenland verbracht hatte.


    "Du siehst dich also benachteiligt gegenüber Appius, ist das so? Wie kommt es, dass du nicht schon vorher darüber gesprochen hast? Und wie kommst du dazu, zu behaupten, auch Appius fühle sich unterfordert, von mir ignoriert oder wie auch immer man deine Worte auch deuten mag? Appius kam nie zu mir und klagte über Untätigkeit", erwiderte ich. "Du möchtest also Verantwortung übernehmen? Dann sage mir, womit ich dir mehr Verwantwortung übertragen kann, und ich werde mir überlegen, ob ich dich für reif genug halte, Titus. Dein momentanes Auftreten allerdings - das sage ich frei heraus - überzeugt mich nicht gerade von deiner Fähigkeit, ein politisches Amt zu bekleiden oder eine verantwortungsvollere Rolle innerhalb der familia einzunehmen. Dennoch unterstütze ich deinen Wunsch, in diesem Jahr zu kandidieren, denn du bist einer der Unseren und noch dazu mein Neffe. Es geht auch nicht darum, ob ich dich für geeignet halte, sondern darum, ob du selbst dich für bereit hältst, diese Aufgabe anzugehen. Die Politik ist kein Zuckerschlecken, Titus. Wer zaudert oder unentschlossen ist, der wird hinweggefegt von seinen Mitstreitern oder vom Volke Roms selbst."

  • "Natürlich, was wäre anderes zu erwarten gewesen, als daß Du mir nun Unfähigkeit vorwirfst?" Ursus blickte Corvinus an und schüttelte den Kopf. "Wir spielen hier kein rhetorisches Spiel, Marcus. Ich zumindest nicht. Ich habe Dir ehrlich und offen gesagt, was mich zornig macht, weil Du danach gefragt hast." Sonst hätte er weiterhin nichts gesagt. Warum auch? Jeder Versuch, etwas zu sagen, wäre genau mit einem solchen Gespräch ausgegangen, wie es jetzt stattfand.


    "Ich fasse mal kurz zusammen: Du gibst mir zuerst keinerlei Möglichkeit, etwas sinnvolles zu tun. Werde ich nach Monaten deswegen wütend und sage es Dir auf den Kopf zu, dann benehme ich mich unreif und beweise damit, daß ich keine Verantwortung übernehmen kann. - Ja, war schon klar, daß Du es so darstellen würdest, damit Du weiterhin dafür sorgen kannst, daß mir die nötige Erfahrung versagt bleibt. Eine schöne, an den Haaren herbeigezogene Begründung. - Es ist ein mieses, intrigantes Spiel, das Du hier spielst. Gegen Deine eigene Familie. Mein Vater dreht sich in diesem Moment wahrscheinlich gerade im Grabe um." Ursus trat mit wenigen Schritten langsam auf einen Sessel zu und setzte sich. Er wäre lieber stehen geblieben, denn stehend fiel es ihm leichter, sich unter Kontrolle zu halten.


    "Du willst wissen, warum ich bisher nichts gesagt habe? Weil ich wußte, daß genau das hier folgen würde: Daß Du einfach behauptest, ich sei unreif und könne keine Verantwortung tragen, weil ich es wage, Verantwortung zu fordern. Wovor hast Du eigentlich solche Angst, daß Du glaubst, mich mit aller Gewalt klein halten zu müssen? Wenn mein Verhalten unreif sein soll, wie ist Dein Dein Verhalten mir gegenüber zu werten?"

  • Es war ein Wechselspiel. Als Ursus sich setzte, war mir danach, aufzustehen und mit hinter dem Rücken zusammengefassten Händen herumzulaufen. Die Worte, die Ursus mir sozusagen vor den Latz klatschte, zeugten von Unüberlegtheit und troffen vor Sarkasmus. Als er mir vorwarf, gegen meine Familie zu intregieren, war es allerdings vorbei. Ich machte eine zornige Bewegung mit der Rechten, die man gleichfalls auch als Drohgebärde betrachten konnte. "Wage es nicht, mir solche Lügen zu unterstellen, Titus! Alles, was ich tue, mache ich für die Familie. Alles! Denkst du, es fällt mir leicht, dieses allgemeingültige Meinungsbild zu revidieren, das Sophus uns hinterlassen hat? Meinst du, es fiele mir leicht, die Taten meines eigenen Onkels zu vergessen und mich stattdessen darum zu bemühen, dass die Menschen uns sehen, wie wir selbst sind und nicht so, wie das Vermächtnis längst gefallener Sterne dies impliziert?" donnerte ich. "Dein Vater würde ich wahrlich im Grabe herumdrehen, wenn er sehen könnte, wie selbstmitleidig sein Sohn hier heute vor mir steht und mich anklagt, weil ich nicht tatenlos herumsitze und Däumchen drehe, wie sein eigen Fleisch und Blut! Du willst etwas bewirken, Titus, etwas verändern? Dann leiste etwas für dein Reich und deine Familie und warte nicht, bis man dir Tätigkeiten anträgt, derer du nicht im Stande bist, sie auszufüllen! Was denkst du, weshalb ich Appius gebeten habe, sich um die finanziellen Belange der familia zu kümmern, und nicht dich? Ich habe ihn noch nie so jammern gehört wie dich gerade, er versucht sich einzubringen, fragt nach, ist interessiert, bietet sich an. Du hingegen liegst bequem auf deiner Haut, isst mit Sklavinnen Obstsalat und wartest, das man dich bittet etwas zu tun. Hältst du dies für den richtigen Weg? Du glaubst doch nicht etwas, dass dein Vater darauf stolz wäre, oder doch? Ich habe Angst, Titus, aber nicht vor dir. Wovor ich wirklich Angst habe, ist der Umstand, dass du genauso vermessen und hochtrabend wirst wie Appius' Onkel. Dass du auch in Jahren noch untätig darauf wartest, dass man dich miteinbezieht, und ungehalten wirst, wenn man es nicht tut - so wie jetzt. Was ist es, das dich dermaßen verärgert? Das Wissen darum, dass ich recht habe? Mensch Titus, wenn du etwas leisten willst, dort ist die Tür - gehe hinaus in die Welt, packe etwas an, leiste etwas! Es gibt so vieles, das getan werden muss!"


    Ich atmete einige Male gewzungenermaßen ruhig ein und aus. Eigentlich hatte ich mich nicht so gehen lassen und in Rage reden wollen. Es war zu spät. "Du magst mich für überheblich und intrigant halten, doch wenn du weiterhin auf deinem Fleisch hockst und nichts weiter tust als zu jammern, wird dir niemand jemals etwas zutrauen. Du bist ein Teil dieser Familie, so wie ein jeder hier. Und ebenso kannst du auf Unterstützung hoffen, selbst wenn deine Kandidatur auf wackligen Beinen steht. Ich will weder dir noch sonst jemandem in diesem Hause etwas Böses, Titus, nur du musst damit aufhören, dich stets zu beklagen. Bewirke etwas, dann traut man dir etwas zu. Doch das geht nur, wenn du dir selbst etwas zutraust." Ich war nun wieder ruhiger, setzte mich in einen nahestehenden Sessel und seufzte tief. Mit einer Hand fuhr ich mir übers Gesicht. "Verzeih, ich wollte nicht ungehalten sein", entschuldigte ich mich schließlich nüchtern.

  • "So, ich verstehe. Ich bin also ein fauler Hund und leiste nichts. Gut, dann werde ich das mal im Hinterkopf behalten als Deine Meinung über mich. Wenn dem so ist, so solltest Du doch erfreut sein zu hören, daß sich dies in diesem Moment schlagartig ändert. Welch Wunder doch noch geschehen." Ursus war eisig kalt, sein Zorn war wie weggeblasen. So wurde seine abwartende Haltung also beurteilt? Eine eisigere Dusche hätte er nicht bekommen können. Er fühlte sich ernüchtert und gleichzeitig fühlte er, daß er etwas verloren hatte. Etwas wichtiges, das er in diesem Moment nicht genau bezeichnen konnte.


    Gut, dann würde er diesen Fehler des Abwartens kein weiteres mal machen.


    "Ich hätte Dich also fragen sollen, ja? Dann habe ich also anscheinend einen Fehler gemacht und hole diese lange überfällige Frage jetzt und hier nach: Bist Du bereit, mir eine Aufgabe und damit Verantwortung zu übertragen?" Was für eine überflüssige Frage. Jetzt kam garantiert wieder: Dafür bist Du noch nicht reif, beweise Dich erst einmal.


    Wo sollte man sich denn zuerst beweisen, wenn nicht im relativ geschützten Bereich der Familie, wo normalerweise Fehler auch mal verziehen wurden, so daß jemand Unerfahrener die Möglichkeit bekam, zu lernen? Das war doch alles ein schlechter Scherz hier! Ihm wurde sicher nichts verziehen, soviel war klar.


    "Ja, ich halte Dich noch immer für überheblich und intrigant, Marcus. Deine Worte bestärken mich nur in diesem Glauben. Ich glaube noch immer, daß dies alles hier Berechnung von Dir ist, um mich auszubremsen. Vielleicht ist mein Bild von Dir falsch. Aber alles, was Du bisher gesagt und getan und nicht getan hast, ergibt dieses Bild. Wenn es falsch ist, und das kannst im Moment nur Du selbst wissen, dann denk auch mal über Dein Bild von mir nach. Vielleicht stimmt dann damit ja auch etwas nicht." Er nahm Corvinus den Vergleich mit Appius' Onkel wirklich übel und würde ihm dies ganz sicher nicht so schnell verzeihen. Aber Ursus zog zumindest die Möglichkeit in Betracht, daß er sich in Corvinus irrte. Etwas, was Corvinus ihm offenbar nicht zugestand.


    "Deine Ungehaltenheit verzeihe ich Dir, ich bin ja ebenso ungehalten. Aber ich stelle bei dieser Gelegenheit einfach mal fest, daß Du innerhalb von Minuten derart wütend und ausfallend wurdest, - während ich dafür Monate gebraucht habe. Wessen Verhalten ist unreifer und unbeherrschter, Marcus?" Dieses mal war kein Sarkasmus in seiner Stimme, sondern reine Sachlichkeit. Er hätte seine Worte und seinen Tonfall so wählen können, daß er nun die Lehrerrolle übernommen hätte. Einfach um Corvinus zu zeigen, wie man sich fühlt, wenn man ohnehin schon sehr wütend ist und dann dies auch noch dazu kommt. Doch das wäre eine allzu billige Retourkutsche gewesen. Corvinus würde es auch so verstehen. Hoffentlich.

  • Mit verkniffenem Ausdruck und dem fortwährenden Zwang, ruhig und möglichst gelassen zu bleiben, saß ich in meinem Sessel und hörte zu. Auch, wenn ich ihn am liebsten gleich wieder unterbrochen hätte. Meine Gesichtsfarbe dunkelte auch recht bald wieder rötlich, sobald Ursus mich erneut als intrigant, unaufrichtig und selbstsüchtig bezeichnete. Das war mein wunder Punkt. Auch wenn ich einige wunde Punkte hatte, so war dieser doch jener, der mich am ehesten Entgleisen ließ: Die Unterstellung der Selbstsucht, obwohl ich doch nur versuchte, den Namen meiner Familie reinzuwaschen und aufzuzeigen, dass sie eben nicht nur solche Charaktere wie meinen Onkel oder den Onkel meines Vetters hervorbrachte.


    "Und welchen Vortel hätte ich davon, dich ausbremsen zu wollen? Hältst du mich wirklich für so selbstsüchtig, alles an mich zu reißen und euch an der Kandare zu führen, damit jeder zu mir aufblickt und zu niemandem sonst?" fragte ich gepresst. Den aufwallenden Zorn, einem roten Schleier gleich, kämpfte ich nieder. "Falls du das glaubst, Titus, wenn du das wirklich glaubst, dann wäre es besser, wenn du mich niemals wieder zu deinem Werdegang befragst noch etwas forderst, das mit Vertrauen oder Hilfestellung zu tun hat. Ich halte dich durchaus für einen fähigen Mann, der etwas bewegen kann, wenn er nur will. Doch du musst zeigen, dass du etwas schaffen willst, Titus. Sonst wird es dir im Dienste Roms nicht anders ergehen als hier in der Familie."


    Ich erhob mich. Der Zorn war einer melancholischen Trauer darüber gewichen, dass mein Neffe mir den Erfolg neidete, den ich mir mühsam aufzubauen suchte. Er wirkte nun ebenfalls nüchterner und sachlich. Meine Kiefer mahlten kurz aufeinander, ehe ich zu einer Antwort ansetzte. "Innerhalb von Minuten, ja. Du hast meine Schwachstelle getroffen, das ist der Grund. Es tut mir leid. Wenn deine Meinung über mich aber wirklich der Wahrheit entspricht, wiegt das schwerer als jedes Wort, das ein Neider außerhalb der Familie aussprechen könnte, und das würde mich ebenso hart treffen wie es der Verlust deines Vaters tat." Einen flüchtigen Moment noch verharrte ich, Ursus im Blick, dann klaubte ich das Pergamentblatt vom Tisch, drehte es unschlüssig und ließ es alsdann schier achtlos vor Ursus fallen. Einen kurzen Augenblick später war er allein mit sich und dem ominösen Brief, der den Auslöser dieser Eskalation dargestellt hatte.

  • Keine Antwort war auch eine Antwort. Und das schlimmste war, daß Corvinus ihm keine Gelegenheit gab, etwas zu erwidern, sondern einfach davon lief. Es würde also kein Vertrauen geben, keine Möglichkeit, sich zu beweisen. Keine Möglichkeit, etwas für die Familie zu tun. Es gab weder einen Hinweis darauf, daß Corvinus darüber nachdachte, sein Bild von Ursus zu überdenken, noch gab es für einen Fehler, ihr Götter, das Fehlen einer Frage!, Verzeihung.


    Corvinus sah nur sich selbst, niemand anderen. Sah nur, was Ursus von ihm dachte und gab nicht eine Sekunde der Überlegung darüber, woher Ursus' Meinung stammen konnte. Ja, Ursus hielt Corvinus weiterhin für eigensüchtig. Seine Worte hatten es doch wieder bewiesen.


    Ursus hob das am Boden liegende Papyrus auf und legte es auf den Tisch zurück. Dann verließ er das Haus, ohne irgendeine Nachricht, ohne sich auch nur wärmer anzukleiden.

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