multa nocte | Traumgefangen

  • Als Siv sich an diesem Abend endlich in die kleine Kammer schleppte, die sie für sich allein hatte – so wenig wie sie waren, hatten sie jeder eine für sich –, war sie völlig erschöpft. Der Tag war lang gewesen, und es hatte noch länger gedauert, bis er endlich zu einem Ende gekommen war. Matho hatte es sich in den Kopf gesetzt gehabt, an diesem einen Tag das komplette Haus zu putzen – nicht er, wohlgemerkt. Sich selbst hatte er die Aufgabe gestellt, alle Räume dahingehend zu überprüfen, was gerichtet oder ersetzt werden musste. Der Rest hatte sich dementsprechend darum kümmern müssen, besagte Räume vorher in einen Zustand zu versetzen, in dem Matho sie betreten würde. Also hatten sie Decken von Möbeln gezogen und zum Waschen gebracht, Spinnweben entfernt, Staub gewischt, der fingerdick in Ecken lag… und das den ganzen Tag. Zwischendurch hatten sich sowohl die Germanin als auch die anderen abwechselnd immer wieder zu Merit geschlichen, die sich ziemlich langweilte, um ihr zwischendurch etwas Gesellschaft zu leisten – was Matho allerdings anders aufgefasst hatte, als er ausgerechnet Siv am frühen Nachmittag dabei erwischte. Von der Standpauke, die er vom Stapel gelassen hatte, klingelten ihr jetzt noch die Ohren – und der Strafe hatte sie es zu verdanken, dass sie erst jetzt ins Bett kam und ihr alles weh tat. Der Maiordomus hatte sie – nach der Standpauke – am Kragen gepackt und in den Keller geschleift. Diese Räume waren die einzigen, die Matho von einer peniblen Reinigung eigentlich ausgespart hatte, sondern sie nur grob gefegt sehen wollte. Eigentlich. Nachdem er Siv bei Merit erwischt hatte, verkündete er jedoch genussvoll, dass er seine Meinung geändert habe, und seine Worte kamen so sicher und überlegt, dass Siv den Verdacht hegte, dass Matho den Keller mit Absicht ausgespart hatte – um ihn für genau so einen Fall als Strafaktion einsetzen zu können. Nachdem Siv den Rest des Nachmittags und den gesamten Abend dort verbracht hatte, um die Räume auf Hochglanz zu polieren, hatte sich dieser Verdacht zur Gewissheit erhärtet.


    Mit einem Seufzen fiel Siv auf ihr Bett und schwor sich, nie wieder einen Finger zu rühren. Sie war verdreckt, hatte Spinnweben im Haar und trug noch die verschwitzte und schmutzige Tunika. Und sie wusste, morgen würde sie sich wünschen, dass sie sich die Zeit genommen hätte, sich noch zu waschen – spätestens wenn sie sich bewegte und die verhärteten Muskeln protestieren würden. Aber jetzt war sie einfach zu müde, und der morgige Tag stand ohnehin wie ein Schreckgespenst vor ihren Augen. Fertig geworden war sie nicht, aber als die anderen schon längst im Bett waren, hatte Matho dann doch ein Einsehen gehabt und ihr gönnerhaft mitgeteilt, dass sie den Rest am nächsten Tag machen könnte. Siv seufzte erneut und drehte sich auf die Seite
    schloss die Augen, entspannte sich und ließ ihr Bewusstsein treiben, sah einen Garten im Mondlicht, hörte leise Worte und spürte eine vertraute Gegenwart, spürte Arme, die sich schützend um ihren Körper geschlungen hatten, während ein leichter Wind in ihrem Haar spielte…


    ~~~


    Donnernde Hufe. Ein Pferdekörper, nassgeschwitzt, in ständigem Auf und Ab. Stetige Bewegung, stetiger Dreiklang – ein Huf, zwei Hufe, ein Huf – und Pause. Ein winziger Moment des Schwebens in der Luft, bevor wieder ein Huf den Boden berührt und eine neue Welle des Rhythmus auslöst, der Pferd und Reiter in seinem Bann hat. Peitschende Mähne, vermischt mit Haaren, flattern im Wind. Sie tauchen ein in ein kleines Wäldchen, Erdklumpen spritzen hoch unter Hufen, die Regelmäßigkeit des Rhythmus’ ist unterbrochen, als der geschmeidige Pferdeleib sich hierhin und dorthin wendet, sich seinen Weg durch den lichten Hain sucht, im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch jagt, durch deren Kronen Sonnenlicht fällt und goldene Muster auf grüne Blätter und dunkle Erde zeichnet. Ein Baumstamm, vor ihnen – ein kurzes Zucken läuft durch Pferd und Reiter, Anspannung baut sich auf, als sie auf das Hindernis zuhalten. Mit einem Ruck lösen sich die Hufe vom Boden und schnellen die Körper hinüber, landen weich auf der anderen Seite und lösen sich sofort wieder, als wäre die Bewegung der einzige Sinn. Hinaus aus dem Wald und wieder über eine Wiese. Sie genießt die stetige Bewegung, beugt sich vor, treibt das Pferd zu noch größerer Schnelligkeit an. Ein vages Gefühl der Trauer baut sich in ihr auf, weiß sie doch, dass das Ende ihres Ritts nun in greifbarer Nähe liegt – schon ist die kleine Ansammlung von Hütten zu sehen, die ihr Ziel ist. Sie könnte noch eine Runde drehen, könnte noch einmal durch den Wald reiten, und sie spürt, dass das Pferd sich ebenfalls danach sehnt, dass es noch lange nicht erschöpft ist, dass es drauf brennt, weiter zu rennen, immer weiter. Aber da sind Arme, die sich um ihre Körpermitte schlingen. Waren sie eben schon da? Hat sie sie ignoriert? Sie weiß es nicht, und sie wundert sich auch nicht darüber – sie sind jetzt da, und der Griff sagt ihr, dass es genug ist.


    "Du." Eine Stimme erklingt – bekannt, und doch hat sie für einen Moment das Gefühl, dass sie hier fehl am Platz ist. Mit wem reitet sie? Ein Teil von ihr weiß die Antwort, wusste sie schon, als sie das erste Mal den Griff um ihre Taille gespürt hat, lange bevor die Stimme erklang. Sie verlagert ihr Gewicht, gibt dem Pferd dadurch zu verstehen, langsamer zu werden, und es gehorcht, wenn auch nur ungern. Der Rhythmus der Hufe wandelt sich erneut, während sie sich der Siedlung nähern, Menschen sehen, Geräusche hören, Düfte wahrnehmen. Noch einmal verändert sie ihre Haltung, zupft diesmal an den Zügeln, und aus dem immer noch flotten Zweiklang wird ein gemächlicher Viererschritt. Weit greifen die Hufe aus, während sich der Pferdeleib unter ihnen streckt und der Hals sich lang macht. Sie schließt die Augen und genießt das Gefühl, die Bewegung – und Präsenz, die sie hinter sich spürt. Noch immer ist ihr nicht ganz klar, mit wem sie reitet – sie weiß es, und sie weiß es auch wieder nicht, fühlt es nur und akzeptiert es gleichermaßen. Es spielt keine Rolle. Sie fühlt sich geborgen, das ist was zählt, auch wenn während dem Ritt eher sie diejenige war, die Sicherheit gegeben hat.


    Sie antwortet nicht auf seine Feststellung, sondern lehnt sich nur zurück, lehnt sich an, während sie dem Tier freie Zügel lässt. Erneut wünscht sie sich, den Ritt verlängern zu können – diesmal nicht um der wilde Jagd willen, sondern um dessen, was nun ist. Sie ist gerade so groß, dass ihr Kopf genau unter sein Kinn passt, stellt sie fast vergnügt fest, während sie die ersten Hütten erreichen und ein paar Kinder mit einem fröhlichen Lachen auf sie zeigen und dann davon rennen. "Wir sind da." Der Hauch des Bedauerns, den sie nach wie vor empfindet, schwingt auch in ihrer Stimme mit. Für einen Moment bleibt sie noch, wie sie ist, während das Pferd schnauft und den Hals so lang streckt, als wollte es damit eine Rutsche für sie bilden. Ihre Finger streichen kurz über seinen Arm, der immer noch um ihre Taille geschlungen ist, dann löst sie sich, schwingt ihr rechtes Bein über den Pferdehals und gleitet zu Boden. "Wo sind wir hier?" Die Frage dringt an ihr Ohr, kaum dass er ebenfalls abgestiegen ist. Einen Moment hält sie inne, verwirrt. Weiß er das nicht? Fühlt er es nicht? "Zu Hause", antwortet sie dann, lächelnd. "Wir sind zu Hause." Sie beobachtet die Katze, die herbeikommt und ihren Kopf an seinen Beinen reibt, so als wollte sie ihre Worte unterstreichen. Als sich dann eine Tür öffnet, hebt sie den Kopf wieder, und auf ihrem Gesicht breitet sich ein strahlendes Lächeln aus, als sie den alten Mann sieht, der herauskommt. Sie wundert sich nicht, dass er da ist. Auch sein Gesicht fängt an zu strahlen, seine Augen leuchten, und die Haut bildet Dutzende von Fältchen – sie zeigen, dass er oft und gerne lacht, auch wenn das Leben ebenso andere Falten in seinem Gesicht hinterlassen hat, Spuren von Schicksalsschlägen, die ihn getroffen haben. "Endlich", sagt er. "Endlich bist du wieder da, duhter. Kleiner skradan." Ihr Lächeln wird noch sonniger, als sie den vertrauten Kosenamen hört. "Ja, fader. Endlich." Der Blick des Alten wendet sich ihrem Begleiter zu, mustert ihn. Immer noch lächelt er, aber dennoch ist der Ausdruck undeutbar geworden, für den Moment. "Dein fridilaz?"


    Wieder hält sie inne. Überlegt. Sie weiß es nicht, ist sich nicht ganz sicher – Erinnerungsfetzen taumeln durch ihren Kopf, Eindrücke, von Haut an schweißnasser Haut, von hungrigen Lippen und geflüsterten Worten der Begierde. Sie weiß, dass sie mit ihm geteilt hat, was Geliebte teilen. Aber ist er deswegen ihr fridilaz? Ihre Hand sucht nach der seinen, ergreift sie, ihre Finger mit seinen verschlingend. Sie fühlt sich geborgen bei ihm, sicher. Sie vertraut ihm. "Ja", antwortet sie schlicht. Keine Erklärung, kein Versuch einer Rechtfertigung. Das hat sie nicht nötig, und der Mann in der Tür, der sie seit ihrer Geburt kennt, weiß das. Noch einmal musterte er den Mann neben ihr. Was er denkt, ist schwer zu erkennen – aber er akzeptiert, was sie sagt. "Willkommen", meint er, ebenso schlicht wie sie zuvor, dann wendet er sich wieder ihr zu: "Wenn ihr fertig seid, skradan, dann kommt mich besuchen." Sie nickt, lächelt. Der alte Mann bleibt draußen, setzt sich auf eine kleine Bank vor der Tür und beginnt, die Katze zu kraulen, die sich inzwischen zu ihm gesellt hat. Sie hingegen wendet sich um, streicht mit der freien Hand über die Mähne des Pferdes und lässt einen Blick über die Hütten schweifen, auf der Suche nach der, die ihr gehört hat. Danach suchen ihre Augen zum ersten Mal die seinen. Er erwidert ihren Blick, und kurz verliert sie sich in seinen braunen Augen, die ihr von Zeit zu Zeit immer noch so ungewöhnlich erscheinen. Aber der Moment hält nicht lange an. Sie spürt sein Unbehagen, spürt, dass er sich unwohl fühlt. Kinder toben um sie herum, an ihnen vorbei. Er macht einen kleinen Schritt, weicht einem kleinen Jungen aus. Jede seiner Bewegungen scheint ihr so vertraut zu sein… Ebenso vertraut wie sein Gesicht, das im Moment nichts von der Freude zeigt, die sie empfindet. "Dein Dorf." Die Worte treffen sie, obwohl sie weiß, dass er Recht hat. Ihre Finger lösen sich langsam von seinen. "Dein Zuhause. Nicht meines." Er sieht sie dabei an, auch wenn es ihm sichtbar schwer fällt – und schließlich ist sie diejenige, die den Blick senkt. Die ihm ausweicht. "Ich weiß." Jetzt ist ihre Stimme nur ein Wispern. Sie weiß nicht, was sie noch sagen soll. Es gibt nichts zu sagen.


    Ihr Blick richtet sich auf den Boden, schweift dann wieder über die Ansammlung der kleinen Hütten, unruhig diesmal. Sie weiß, dass er Recht hat, was ihn betrifft. Aber hat er auch Recht, was sie angeht? Wieder tauchen die Kinder auf, und diesmal bleibt ein kleiner Junge stehen – derselbe, dem er vorher ausgewichen ist. Blaue Augen starren sie an, rund vor Staunen. Und sie erkennt einen Neffen in ihm. Aber ihre Gedanken weilen anderswo, und bevor der Kleine etwas sagen kann, wird er schon von seinen Freunden mitgerissen, tobt weiter und hat vermutlich schon vergessen, weshalb er stehen geblieben ist, dass ihm die Fremde plötzlich so bekannt vorgekommen ist. Heute Abend wird es ihm wieder einfallen, wenn er seinem Vater gute Nacht sagt, der der Frau so ähnlich ist, und er wird es ihm erzählen, ganz aufgeregt. Aber jetzt läuft er weiter, rennt seinen Freunden nach und juchzt vor Freude. Ihr Blick dagegen hängt noch wie gebannt an der Stelle, an der die Kinder kurz zuvor noch waren. Langsam wird ihr klar, wer das war. Seine Worte klingen erneut in ihren Ohren. Dein Zuhause. Nicht meines. Ohne es zu wollen, drängt sich ihr die Frage auf, ob es das wirklich noch ist. Ihr Neffe. Und er erkennt sie nicht. "Ist es noch mein Zuhause?" Noch leiser sind diese Worte. Sie ist sich nicht einmal bewusst, dass sie sie laut ausspricht.


    Sie schüttelt die Gedanken ab und wendet sich wieder ihm zu. Lächelt, etwas gezwungen, vor allem aber wehmütig. Auch seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, und seine Hand hebt sich und berührt ihre Wange. Leicht neigt sie den Kopf, will der sachten Liebkosung entgegen kommen, aber der Handrücken ist nicht dafür geformt, um sich in ihn hinein zu schmiegen. Also verharrt sie nur still. Sie fühlt kein Unbehagen, dafür aber eine vage Trauer, ähnlich der, die sie überkommen hat, als der Ritt dem Ende zuging. Und sie kann es nicht verbergen, auch wenn sie es gern möchte – weil sie nicht will, dass er sich wegen ihr Gedanken macht, dass es ihm schlecht geht, dass er sich schuldig fühlt. Es gibt nichts, was er tun kann, um zu ändern, was ist, ebenso wenig wie sie. Sie weiß das, auch wenn sie es nicht immer wahrhaben will. Aber etwas gibt es, was sie tun können, jetzt. "Lass uns so tun als ob." Ihrer Stimme gelingt, was ihr Lächeln nicht vermag – sie klingt locker, fröhlich. Die Wehmut ist kaum zu hören, spielt dafür umso deutlicher um ihre Mundwinkel. Und nur in ihren Augen ist die stumme Bitte zu sehen, die ihre Worte formulieren, ohne dass der Ton sie so wirken lässt. "Für diesen Moment." Sie mustert ihn, registriert jede Veränderung in seinem Gesicht. Immer noch ist sie ruhig, so viel ruhiger als sie es sonst von sich kennt. Sie wartet ab, wartet auf seine Antwort, sieht ihn an, während seine Hand sinkt. Wieder lächelt er, und diesmal ist es ein Lächeln, das sie kennt und liebt, das ein Kribbeln in ihr auslöst. "Das ist ein Traum. Und in einem Traum kann man tun, was man will. Zeige mir deine Heimat. Zeige mir, was dir wichtig ist." Seine Lippen nähern sich den ihren, immer noch verzogen zu diesem verwegenen Lächeln, von dem sie ihren Blick erst losreißen kann, als er so nahe ist, dass sie zurückweichen müsste, um es noch zu sehen. Ihr Mund umspielt ebenfalls ein Lächeln, ein ehrliches, als sich ihre Lippen berühren. "Für diesen Moment…"


    ~~~


    Siv wollte nicht aufwachen, versuchte die Fühler zurückzuhalten, die ihr Bewusstsein tastend in die Wirklichkeit aussandte, wehrte sich gegen die Realität, die nach ihr griff. Ihre Lippen waren noch halb geöffnet und leicht gewölbt. Aber der Traum ließ sich nicht festhalten, entglitt ihr immer schneller. Zarte Sonnenstrahlen kitzelten sie an der Nase und zupften an den Lidern, und mühsam hob sie eine Hand, um ihre Augen abzuschirmen. So wenig sie sich gegen das Auftauchen aus dem Traum hatte wehren können, so schwer fiel ihr nun das endgültige Aufwachen. Ein leichter Schmerz zuckte durch ihren Arm, als sie ihn bewegte, und ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen. Nur langsam kam die Erinnerung an den gestrigen Abend wieder, wie sie ins Bett gefallen war, sogar zu müde, um noch die Vorhänge zuzuziehen… Sie drehte sich auf die Seite, wandte sich von der aufgehenden Sonne ab, erwartete fast, ihn neben sich liegen zu sehen, aber da war niemand. Mit einem Seufzen schloss sie die Augen erneut und schlief wieder ein, ohne daran zu denken, dass das nur dazu führen würde, dass in gar nicht allzu ferner Zukunft Matho gegen ihre Tür trommeln und sich noch eine Strafarbeit für sie ausdenken würde.

  • Seit der Putzaktion waren ein paar Tage vergangen, und der Keller war blitzte genau wie der Rest vom Haus. Siv hatte noch den gesamten zweiten Tag und ein Gutteil des dritten gebraucht, um ihn so sauber zu bekommen, dass es auch Mathos Ansprüchen genügte – die noch einmal um ein gutes Stück gewachsen zu sein schienen, so kam es ihr jedenfalls vor –, und sie war zu erschöpft gewesen, um sich viele Gedanken zu machen über irgendetwas. Dennoch schien etwas in ihrem Bewusstsein zu haften, schien dort herum zu geistern, oder eher: in ihrem Unterbewusstsein. Sie konnte sich nicht wirklich bewusst an den Traum erinnern, nicht an den ganzen, hieß das – sie wusste, dass sie wieder Zuhause gewesen war… und dass Corvinus sie begleitet hatte. Aber vieles davon waren Bilder, flüchtige Eindrücke. Die meisten waren mit positive Empfindungen verknüpft. Aber es gab auch Verwirrung und Zweifel, und sie wusste nicht einmal genau wieso. Sie wusste nur, dass es sie beschäftigte, und sie war sich nicht sicher, ob sie froh sein sollte über ihre Strafe, die ihr kaum Zeit zum Grübeln ließ, oder nicht.


    Als die Putzaktion dann endlich vorbei war, war Siv nicht die einzige, die aufatmete – ungefähr einen halben Tag. Dann verkündete Matho, dass sich der Putzaktion sich die Entrümpelungsaktion anschließen würde. In seiner unendlichen Güte ließ er ihnen den restlichen Tag, um die anderen Arbeiten zu erledigen, die angefallen und liegen geblieben waren, als sie geputzt hatten, aber am nächsten ging es dann weiter – es wurde aussortiert und fortgeschafft. Und die Villa war groß, und sie waren nicht sonderlich viele. Jeden Abend fiel Siv erschöpft ins Bett, ohne sich großartig mit den seltsamen Gedanken zu beschäftigen, die durch ihren Kopf zogen, als wäre es nicht ihrer. Sie wusste, dass es nicht so weitergehen konnte, aber zumindest im Moment war es eine Lösung. Am dritten Tag der Entrümpelungsaktion passierte es dann. Siv war gerade in dem Raum, den Corvinus während seiner Amtszeit in Germanien als Officium genutzt hatte und sah die Sachen durch, um die auszusortieren, die entweder ganz weg sollten oder mitgenommen werden würden. Da fiel ihr auf einmal ein Briefbeschwerer in die Hand, in Form eines liegenden Löwen, die Vorderpranken locker gekreuzt, der Kopf stolz erhoben. Der Löwe… sein Wappen. Seine Familie. Sie meinte in der Miene des Löwen die gleiche lässige Überlegenheit zu erkennen, die sie so oft bei ihm gesehen hatte. Der Hauch von Arroganz, der ihm gelegentlich innewohnte, gerade so viel, dass es zu spüren war, aber nicht so viel, dass es negativ aufgefallen wäre. Sehnsucht wallte plötzlich in ihr auf, und sie wusste nicht wonach – sie sehnte sich nach ihm, und gleichzeitig sehnte sie sich nach etwas, was sie als Heimat bezeichnet hätte, nur wie konnte das sein, Rom war nicht ihre Heimat, er war nicht ihre Heimat… Verwirrt und zutiefst verunsichert drehte sie den Löwen in ihrer Hand, bevor sie ihn kurz entschlossen zu den Sachen stellte, die mitgenommen werden sollten.


    ~~~


    Und sie zeigt ihm, was ihr wichtig ist. Die Plätze, an denen sie als Kind gespielt hat. Die Schmiede, in der sie so viel Zeit verbracht hat. Das Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Sie führt ihn durch das Dorf, grüßt die Menschen und erklärt ihm, wen sie gerade sehen – zwei von ihnen, von ihren Brüdern, die, mit denen sie das innigste Verhältnis hat, stellt sie ihm vor. Und weiter geht es, in den Wald hinein, zu den Orten, die sie so liebt. Sie zeigt ihm die uralte Eiche, in deren knorrigen Ästen Naturgeister hausen, die man flüstern und wispern hören kann, wenn man mit geschlossenen Augen darunter sitzt und Ohr und Herz öffnet. Sie zeigt ihm den kleinen Hain aus Birken, in dessen Mitte eine klare Quelle sprudelt, die Tag und Nacht Geschichten erzählt und Lieder singt. Sie zeigt ihm die Trauerweide, an deren Stamm ein moosüberwucherter Felsbrocken liegt, der Schauplatz ist für Tänze im Mondschein – für die Kreaturen des Waldes und der Nacht ebenso wie für sie. Sie führt ihn hinunter an das Ufer des Baches, weiter den Lauf entlang, wo der Wald düsterer und geheimnisvoll wirkt, bis das Wasser ein paar Felsen hinabstürzt in einen tiefen, dunklen Tümpel hinein – und zeigt ihm dort die kleine Höhle, die für sie ein heiliger Ort ist, seit sie sie das erste Mal betreten hat. Ihre erste eigene Opferung hat sie dort vollbracht, und es ist nicht ihre letzte geblieben. Freya hat sie hier Gaben dargebracht, Thor und Odin, aber vor allem Hel. Alle diese Orte sind privat, nur wenige hat sie – mit noch weniger Menschen – je geteilt, hat offenbart, wie viel sie ihr bedeuten – aber dieser letzte Ort ist ihr privatester, ist ihr letzter Rückzugsort. Wenn sie wütend war, verletzt, traurig, oder auch einfach nur glücklich, ist sie hierher gekommen, hat ihre Gedanken und Gefühle mit ihrer Schutzgöttin geteilt. Wenn sie mit niemandem reden konnte, hier hat sie das Gefühl gehabt, Verständnis zu finden und ein offenes Ohr. Nie hat sie jemanden mitgenommen, nie hat sie jemandem auch nur davon erzählt. Bis zu diesem Moment.


    Jetzt liegt sie mit ihm am Ufer eines kleinen Sees, so kristallklar, dass man fast bis zum Grund sehen kann. Die Nachmittagssonne lässt das Wasser glitzern, und gelegentlich taucht ein Fisch auf oder fällt ein Blatt darauf, bringt die glatte Oberfläche zum Erzittern, zum Kräuseln, bricht die Flüssigkeit in funkelnde Kristalle und löst konzentrische Kreise aus, die sich ausbreiten und schließlich in winzigen Wellen ans Ufer schwappen. Sie atmet tief ein und genießt die Atmosphäre, genießt es, einfach dazuliegen, den Himmel zu betrachten und seine Gegenwart zu spüren. Sie fühlt seinen Blick auf sich, wie er sie betrachtet, aber sie wendet den Kopf nicht, sieht weiter hoch zum Himmel und bleibt still liegen, lässt ihm Zeit, wartet und genießt es zugleich. Wie von einer unsichtbaren Hand gestreift, löst sich auf einmal ein Träger ihres Kleides von seinem Sitz auf ihrer Schulter und rutscht träge hinab, entblößt nackte Haut, aber sie rührt sich immer noch nicht, schiebt ihn nicht zurück. Die Sonnenstrahlen wärmen ihre Haut, und tief atmet sie an, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnimmt und im nächsten Moment seine Hand spürt, an ihrer Schulter, in ihren Haaren. Kurz darauf beginnen seine Lippen, über ihre Haut zu wandern, und sie neigt den Kopf zur anderen Seite, streckt den Hals und seufzt genießerisch, während ihr Atem sich um eine Winzigkeit beschleunigt. Sie reagiert auf seine Liebkosungen wie eine Blume, die sich zur Sonne hin öffnet, und sie wundert sich noch nicht einmal darüber, sie nimmt es einfach hin. Sie bleibt immer noch ruhig liegen, als sich seine Lippen wieder von ihr lösen, und erst, als sie seine Stimme hört, die Frage vernimmt, dreht sie den Kopf und sieht ihn an.


    "Fehlt es dir?" Sie schweigt, zunächst. Sie sieht nicht zu den Rauchsäulen, auf die er deutet, aber sie weiß auch so, was er meint. Zögernd zieht sie die Unterlippe zwischen die Zähne, ebenso zögernd lässt sie sie wieder los, bevor sie schließlich antwortet. "Ich weiß es nicht." Jetzt sieht sie doch in die Richtung, in der ihr Dorf liegt. Sie atmet tief ein, fühlt sich ratlos. Natürlich fehlt es ihr, irgendwie. Aber das seltsame Gefühl, das sie hatte, als sie ihren Neffen gesehen hat, ist während der kleinen Führung stärker geworden. "Es fehlt mir, ja. Sie fehlen mir. Das werden sie wohl immer, einem Teil von mir." Wieder schweigt sie für einen Moment, bevor sie zögernd, leise, hinzusetzt: "Aber ich weiß nicht, ob ich dort noch hingehöre." Sie meint sein Erstaunen spüren zu können, obwohl sie erst nach einer kleinen Weile wieder den Kopf zu ihm dreht. Gerade noch rechtzeitig, um seine Zungenspitze zu sehen. "Was lässt dich zweifeln?" Ja, was lässt sie zweifeln? Es ist nicht nur die Tatsache, dass sie lange genug fort gewesen ist, dass ihr Neffe sie nicht mehr erkennt. Es verstärkt nur, was ohnehin schon da ist, das Gefühl, dass ihr Platz nun woanders ist. Dass ihr Platz an seiner Seite ist, wo auch immer das sein mochte. Sie sieht ihn an, die vertrauten Gesichtszüge, und sie spürt eine Welle von warmer Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Zum ersten Mal realisiert sie es wirklich. Was der Mann neben ihr ihr tatsächlich bedeutet. Sie hat es ihrem Vater bereits gesagt, aber erst jetzt wird es ihr bewusst – sie erkennt es mit einer solchen Klarheit, beinahe übernatürlichen Schärfe, dass es ihr den Atem wegnimmt: Sie liebt ihn. Ohne jede Erwartung, ohne Bedingung. Nur das: Sie liebt ihn.


    Dennoch ist sie sich nicht sicher, was sie antworten soll. Ob sie ihm sagen soll, was ihr klar geworden ist. Oder ob sie ausweichen soll. Sie haben so viel geteilt, und sie weiß, spürt, hofft, dass sie ihm nicht egal ist, dass sie ihm auch etwas bedeutet. Aber selbst wenn er ebenso empfindet wie sie… Sie weiß, dass es nicht sein kann. Aber sie kann sich nicht selbst belügen, und sie kann ihn nicht belügen. Auch das weiß sie. Und noch bevor sie zu einer Entscheidung kommen kann, bevor auch nur wirklich auffallen kann, dass sie mit der Antwort zögert, fallen auf einmal Tropfen vom Himmel. Er springt auf, fasst ihre Hand und zieht sie hoch, aber schon nach wenigen Schritten sind sie bereits durchnässt, und sie bleiben stehen, mitten im Regen. Sie steht dicht vor ihm, so dicht, dass sie die Wärme seines Körpers spüren kann. Sieht das Wasser in seinen Haaren perlen und sein Gesicht hinabrinnen. Das Rauschen des Regens löscht jeden anderen Laut, umgibt sie wie einen Kokon und vermittelt ihr das Gefühl, dass es nur noch ihn und sie gibt auf der Welt. Er beugt sich zu ihr, und noch bevor sie reagieren kann, haben seine Lippen schon die ihren gefunden, und bereitwillig teilen sie sich, gewähren ihm Einlass und erwidern sein leidenschaftliches Spiel. Wie von selbst heben sich ihre Arme und legen sich auf seine Schultern, um seinen Nacken, lässt sich von ihm an sich pressen und drängt sich ihm noch mehr entgegen. Sie sehnt sich nach ihm, und sie lässt keinen Zweifel daran, während eine ihrer Hände hinabgleitet und sich einen Weg sucht durch nassen Stoff, bis ihre Finger auf regenfeuchte, heiße Haut treffen.


    Ihre Lippen scheinen miteinander zu verschmelzen, während sich auch ihre zweite Hand dazu gesellt und sich beide daran machen, die einfachen Verschnürungen zu lösen, die sein Gewand zusammenhalten. Sie braucht nicht lang dafür, und als sein Oberkörper ohne Schutz dem warmen Regen ausgesetzt ist, lösen sich ihre Lippen erstmals wirklich von seinen. Atemlos sieht sie ihn an, legt beide Hände an sein Gesicht. Zieht ihn erneut zu sich und schmeckt ihn erneut, lässt ihre Zunge mit seiner spielen, bevor ihre Hände auf seine Schultern sinken und ihr Mund beginnt, hinab zu wandern. Sie küsst die Tropfen von seiner Haut, erforscht seinen Hals, seine Schultern, seine Brust mit Lippen und Zunge und Zähnen. Hunger lodert in ihr auf, beinahe unstillbar erscheint er ihr. Mit jeder Berührung zeigt sie ihm, lässt ihn spüren, wie sehr sie nach ihm giert, und jede Berührung schürt ihren Hunger nur noch mehr. Der Regen prasselt weiter auf sie herab, rinnt an ihr hinunter, sucht sich seinen Weg bis auf ihre Haut, aber sie achtet nicht mehr darauf. Mit Fingern und Lippen zeichnet sie die Konturen seiner Muskeln nach, erforscht, erkundet, worauf sie lang, viel zu lang, so erscheint es ihr, verzichtet hat. Ihre Finger gleiten tiefer, lösen seine Beinlinge, und ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln, als sie seine Reaktion spürt, während gleichzeitig Hitze in ihr selbst aufflammt. Sie richtet sich wieder auf, macht einen Schritt vorwärts, presst ihren Körper an den seinen, legt eine Hand auf seine Schulter und drängt ihn mit sanftem Druck nach unten, wo er auf dem Rücken zu liegen kommt. Ihre Hände stützen sich rechts und links von seinem Kopf ab, während sie auf ihm liegt, und ihr Mund umspielt ein verheißungsvolles Grinsen, bevor sie ihre Lippen wieder auf seine Haut senkt und sie nach unten wandern lässt, immer weiter nach unten. Ihr Körper scheint zu brennen, und das Pochen in ihrem Unterleib fordert etwas ganz anderes, aber dieses Mal möchte sie ihn verwöhnen, so lange er sie lässt, und so setzen Finger und Lippen ihr Spiel fort, dort, worauf sich ihre ganze Lust konzentriert.


    Sie genießt jeden Moment, in dem sie freie Hand hat, in dem er sie gewähren lässt und sie ihn in allen Einzelheiten entdecken kann. Und sie nutzt jeden davon, ahnt sie doch, dass ihre Zeit begrenzt ist, dass jeder Augenblick, der verstreicht, sich fast qualvoll in die Länge zieht, sie dem Moment näher bringt, in dem er die Führung übernehmen wird. Sie will, dass es passiert, und gleichzeitig will sie es noch hinauszögern, will ihm weiter schenken, was sie ihm geben kann, und genau das tut sie. Seine Hand krallt sich in ihr Haar, in einer Geste, die gleichzeitig haltsuchend wie antreibend scheint, und sie reagiert auf letzteres, intensiviert ihre Bemühungen noch, während ihr eigener Körper mehr und mehr danach schreit, eins zu werden mit ihm. Regentropfen prasseln auf ihren Rücken, treffen mit dumpf klingenden Lauten auf den vollgesogenen Stoff ihres Kleides, während es um sie herum platscht und zischt und rauscht, so heftig kommt das Wasser vom Himmel herunter. Immer größer wird das Verlangen, immer schwerer fällt es ihr, ihm nicht nachzugeben, und als ob er das spürt, zieht er sie auf einmal hinauf, zu sich. Von einem Moment zum nächsten treffen die Regentropfen auf Haut anstatt auf Stoff, perlen an ihrem nackten Rücken hinab, zeichnen Muster darauf, während ihr Schoss zu brennen beginnt, als sie endlich eins werden. Ihr Herz rast, ihr Atem geht keuchend und ihr Rücken biegt sich durch, während Schauer um Schauer sie durchlaufen. Eingespielt sind sie, kein Zögern ist da, kein Zaudern, nur Reaktionen aufeinander und miteinander, bekannt, vertraut und doch immer wieder neu. Mit geschlossenen Augen folgt sie seinen Bewegungen, fügt ihre hinzu und erschafft mit ihm einen gemeinsamen Rhythmus, der beiden schließlich Genugtuung bringt.


    Langsam lässt sie sich hernach sinken, legt ihren Kopf auf seine Schulter, während Atem und Herzschlag sich nach und nach wieder beruhigen und sie dem Nachhall der verklingenden Lust in sich lauscht. Ein erschöpftes, gleichwohl zufriedenes, wohliges Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Als er sie zu sich zieht, auf seine Seite, mischt sich Zärtlichkeit in das Lächeln, und sie schmiegt sich an ihn, ihre Beine mit seinen verschlungen, ihr Arm über seinem Oberkörper, ihre Fingerspitzen an seinem Kinn, ihr Kopf nach wie vor an seiner Schulter. Wieder ist es erst seine Stimme, die sie dazu bringt, sich mit seiner bloßen Nähe nicht mehr zufrieden zu geben, ihn anzusehen. "Zweifelst du?" Sie muss nicht überlegen. "Nein", antwortet sie leise, aber nichtsdestotrotz in einem Tonfall, der verrät, dass sie die Wahrheit sagt. "Nein", wiederholt sie noch einmal, und dann: "Und du?"


    ~~~


    Langsam glitt Siv ins Wachsein. Sie räkelte sich unter der Decke, wusste nicht was sie aus den Tiefen des Traums befördert hatte, dachte auch nicht weiter darüber nach, war sie doch noch zu gefangen darin. Im Haus war es stockdunkel, nichts rührte sich – es musste noch mitten in der Nacht sein. Und du… Schwerelos schwebten die Worte durch ihr Bewusstsein, hallten, substanzlos und schwer greifbar. Zu träge war ihr Geist, ganz im Gegensatz zu ihrem Körper. Ihr Atem, der während des Traums rasant angestiegen war und sich dann wieder beruhigt hatte, wurde wieder schneller, und ebenso reagierte ihr Herz, als sie sich in die Erinnerung verstrickte an das, was sie im Schlaf erlebt hatte. Ihre Hände wanderten, streichelten, liebkosten und fanden schließlich den Weg zu pulsierender Hitze, während ihr Atem keuchend ging und ihr Herzschlag raste, immer weiter, immer schneller, bis sich die Anspannung schließlich mit einem Schlag entlud. Ermattet lag sie anschließend da, die Augen geschlossen, die Gedanken treibend, keinen Muskel rührend. Der Traum… welche Wirkung hatte er auf sie, wenn er solche Träume auslöste? Und du… Die Frage tauchte wieder auf, und nun, in dem Zustand wohliger Erschöpfung, in dem sie sich befand, war sie nicht in der Lage sie abzuwehren oder zu ignorieren. Und du… Sie hatte die Frage gestellt, aber sie wollte die Antwort nicht hören – ihr Traum-Ich war in der Lage, damit umzugehen, mit allem umzugehen, schien es, aber ihr waches Ich war sich da nicht so sicher. Und trotzdem war die Frage da – genauso wie das, was ihr klar geworden war im Traum. Sie liebte ihn. Tat sie das wirklich? Während Wärme und Zärtlichkeit in ihr aufstieg, als sie an ihn dachte, griffen gleichzeitig Verwirrung, Verunsicherung und Angst nach ihrem Herzen und schienen zuzudrücken, und Siv lag noch lange wach da und grübelte vor sich hin, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

  • Die Zeit, die sie im Keller verbrachte, verging schleppend. Irgendwie versuchte Siv, sich abzulenken, vor allem in den Stunden, in denen oben, in einer für sie scheinbar anderen Welt, die Sonne schien, was sie nur daran sagen konnte, dass niemand kam. Und obwohl sie des Nachts Besuch bekam, fiel Siv es schwer einzuschätzen, wie die Zeit verging. Sie schlief, sie tastete sich durch den Keller, wenn sie den Mut aufbrachte, sie rannte durch den Keller, wenn die Panik sie wieder überwältigte, und sie saß oder lag einfach nur zusammengekrümmt da, wenn sie die Kraft verließ. Schlafen konnte sie nur schlecht – zum einen war da der harte Steinboden, der schon nach kurzer Zeit dazu führte, dass ihr alles weh tat, und zwar so sehr, dass sie meistens davon wieder aufwachte. Zum anderen gab es die Grübeleien, die sie fest im Griff hatten. So viel schwirrte durch ihren Kopf, zu viel, und wenn sie endlich völlig erschöpft einschlief, dann verfolgten sie die Gedanken bis in ihre Träume hinein, die in diesen Tagen, in der Dunkelheit, nie erholsame Bilder für sie bereit hielten.


    ~~~


    Sie liegt neben ihm, in strömendem Regen. Eine Frage schwebt durch ihren Kopf… Und du? Hat er geantwortet? Hat sie sie überhaupt gestellt? Sie weiß es nicht, vermag sich nicht zu erinnern. Sie schließt die Augen, genießt die warmen Tropfen, die auf sie fallen, die sie einhüllen, jeden Laut dämpfen. Fühlt sich geborgen, in seinem Arm.


    Von einem Moment zum anderen ist der Regen eiskalt und stechend, prallt winzigen Hagelkörnern gleich von ihrer Haut ab und hinterlässt kleine, brennende Male. Erschrocken springt sie auf, hält Ausschau nach einem Unterschlupf, aber die Wiese ist verschwunden, der Wald, der See, die Rauchsäulen am Himmel. Um sie herum ist nur noch Dunkelheit. Sie dreht sich zu ihm um, eher verwirrt als verängstigt, aber er ist ebenfalls nicht mehr da. Verschwunden. Fort. Er hat sie allein gelassen. Allein in dieser Finsternis. Erneut dreht sie sich um, hastig diesmal, kann nur schwer einen ersten Anflug von Panik unterdrücken. Sie weiß nicht, was sie tun soll – sie will losgehen, nach etwas Bekanntem suchen, will nicht an diesem Ort bleiben. Aber was wenn er zurückkommt, und sie ist nicht mehr da? Was wenn sie sich nicht mehr finden? Die Dunkelheit schließt sich immer mehr um sie, dringt auf sie ein, scheint ihr die Luft zum Atmen abzuschnüren, und schließlich hält sie es nicht mehr aus, sie geht los, gezwungen langsam zuerst, aber schon nach wenigen Schritten läuft sie, rennt schließlich.


    Irgendwann bleibt sie wieder stehen. Sie hat nichts gefunden, was ihr helfen könnte, keinen Ausweg aus der Dunkelheit, keine Lichtquelle, nichts. Sie hat ihn nicht gefunden. Warum ist er gegangen? Sie spürt, dass es ihre Schuld ist, dass sie etwas getan hat, dass sie ihn enttäuscht hat, aber dennoch fragt sie sich beinahe verzweifelt, warum er fort ist. Warum er sie nicht hat erklären lassen, denn dass da eine Erklärung ist, das spürt sie ebenso, wenn er nur gewillt ist, sie zu hören, sie zu verstehen. Hoffnungslos steht sie in der Finsternis, lässt den Kopf sinken, und das Gefühl der Reue, der Einsamkeit, der Sehnsucht nach ihm zerreißt ihr schier das Herz. Sie weiß nicht, wie lange sie so dasteht, als plötzlich eine Stimme ertönt, seine Stimme. "Warum, Siv. Warum. Wie konntest du nur." Leise sind die Worte, und der Vorwurf, der darin klingt, trifft sie stärker als ein Hieb. Dennoch hebt sie den Kopf, sieht sich nach ihm um, sucht nach ihm – aber die Finsternis ist undurchdringlich. Sie vermag ihn nicht zu sehen, und sie kann noch nicht einmal genau sagen, aus welcher Richtung die Stimme gekommen ist, weil die Schwärze alles einhüllt und sogar die Geräusche zu verzerren scheint. Sie hebt die Hände, tastet nach ihm, macht zögernd ein paar Schritte, aber schon bald bleibt sie wieder stehen, aus Angst, sich von ihm fortzubewegen. Tränen sammeln sich in ihren Augen, ziehen selbst in der Dunkelheit sacht glitzernde Spuren über ihre Wangen. "Wo bist du?" Ihre Hände sind immer noch ausgestreckt, fassen aber nur ins Leere. "Lass mich nicht allein", wispert sie, flehend, aber sie weiß nicht, ob ihre Stimme bis zu ihm trägt. Die Worte haben ihren Mund verlassen, aber je mehr sie spricht, desto mehr hat sie den Eindruck, dass die Finsternis um sie herum die Worte aufsaugt, abfängt, sie nicht zu ihm dringen lässt. "Es tut mir leid. Es tut mir so leid…"


    Die Dunkelheit lichtet sich nicht, aber sie bekommt eine andere Qualität. Partikel verschieben sich, lassen zu, dass ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnen und einen schemenhaften Schatten erkennen. Sie wendet sich in diese Richtung, ohne zu wissen, ob es die richtige ist, aber sie bewegt sich nicht, scheint nicht in der Lage dazu zu sein. Noch mehr scheint sich die Dunkelheit zu verändern, ohne an eigentlicher Dunkelheit zu verlieren, aber sie wird weniger greifbar, weniger stofflich, und langsam scheint aus dem Schatten eine Gestalt zu werden – eine Gestalt, die kalt wirkt, abweisend. Die keine Regung zeigt. Nichts. Nur Kälte kommt ihr entgegen, so stark, dass sie fast meint, sie wie einen eisigen Windhauch im Gesicht zu spüren. Ihre Augen weiten sich um eine Winzigkeit, sie starrt ihn an, den sie immer noch nicht im eigentlichen Sinn sehen kann, vielmehr spürt sie ihn, spürt seine ablehnende Haltung, die Kälte, den Zorn, die seiner Gestalt vage Umrisse verleihen. Unwillkürlich prallt sie einen Schritt zurück, als seine Stimme erneut ertönt, laut, scharf, anklagend. "Dir tut es leid? DIR?" Sie wimmert, zuckt unter jedem seiner Worte zusammen wie unter einem Hieb. "Und das soll ich dir glauben? Nachdem du mich so hintergangen hast?" So sehr sie es möchte, aber sie kann nicht mehr vermeiden, dass ihr Tränen über die Wangen laufen. "Es tut mir leid. Wirklich, es… tut mir so leid…", stammelt sie. Es scheint, als ob sie nicht fähig wäre, etwas anderes zu sagen als das. Immer noch weiß sie nicht, was sie tatsächlich getan hat, ahnt es nur, ahnt dass sie enttäuscht hat, zutiefst enttäuscht. Und genauso hat sie nur eine Ahnung, dass es etwas gibt, was sie sagen könnte – aber ahnt noch nicht einmal was es ist. Jetzt, in diesem Moment, gibt es nichts, was sie sagen könnte. Kraftlos und mutlos sinkt sie gen Boden, streckt erneut ihre Hand nach ihm aus, ohne ihn auch nur berühren zu können. "Bitte… bleib bei mir… es tut mir doch leid…" Ihre Worte werden wieder zu einem Wispern, dann weiten sich ihre Augen erneut, diesmal sichtbar, als die Dunkelheit sich erneut wandelt, sich wieder wie ein Tuch über sie legt. "Marcus?" wispert sie, dann ein leiser Aufschrei: "Marcus!" Sie steht auf, ohne ihre übliche katzenhafte Geschmeidigkeit, aber nichtsdestotrotz schnell – aber da scheint niemand mehr zu sein. Wieder tasten ihre Hände, suchen, aber die Finsternis verdichtet sich immer mehr um sie, immer mehr, und die Panik nimmt wieder zu, wirft sich wie ein wildes Tier gegen die Fesseln, die sie ihm angelegt hat. "Oh bitte…" Ein Schluchzen entringt sich ihrer Kehle, dann sprengt die Panik in ihr die Ketten, und sie läuft los, rennt schon bald, rennt und rennt und rennt, aber egal wohin sie rennt, die Dunkelheit scheint überall.


    ~~~


    Unruhig warf Siv sich auf dem harten Boden hin und her. Leise, wimmernde Laute kamen über ihre Lippen, und nur langsam tauchte sie auf aus den Tiefen des Traums, der sie gefangen hielt. Löste sich schließlich aus diesen Fängen, nur um in genauso tiefer Dunkelheit zu erwachen, so dass sie zunächst fast glaubte, doch noch zu träumen. Für einen Moment klammerte sie sich sogar an den Gedanken, dass sie noch träumte, denn das hätte bedeutet, dass das Erwachen noch bevor stand, und damit die Hoffnung bestand, dass sie in einem weichen Bett lag, und neben sich den Mann spüren würde, den sie einfach nicht mehr aus ihrem Kopf und ihrem Herz bekam, und der sie in den Arm nehmen würde, wenn sie nun mit wild klopfendem Herzen aus diesem Alptraum erwachte… Sie wusste, dass es nur Wunschdenken war. Dennoch drehte sie sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit über sich, ohne sich zu rühren, ohne sich zu regen, und gab sich dieser Vorstellung hin. Aber es dauerte nicht lange, und auch in ihrem Tagtraum nahm Corvinus’ Gesicht vorwurfsvolle Züge an.

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