cella | Vereinsamt

  • Die Krähen schrein
    Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    Bald wird es schnein, -
    Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!

    Nun stehst du starr,
    Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
    Was bist du Narr
    Vor Winters in die Welt entflohn?

    Die Welt - ein Tor
    Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
    Wer das verlor,
    Was du verlorst, macht nirgends Halt.

    Nun stehst du bleich,
    Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
    Dem Rauche gleich,
    Der stets nach kältern Himmeln sucht.

    Flieg, Vogel, schnarr
    Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -
    Versteck, du Narr,
    Dein blutend Herz in Eis und Hohn!


    Die Krähen schrein
    Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    Bald wird es schnein, -
    Weh dem, der keine Heimat hat!


    - Friedrich Nietzsche


    Als Merit-Amun gegangen war, war dumpfe Verzweiflung über Siv zusammengeschlagen. Das wenige, dunkelgraue Zwielicht, das durch die offene Tür gefallen war, war ausgesperrt worden in dem Augenblick, in dem die Ägypterin die Tür hinter sich zugezogen hatte, und das leise Geräusch, als sie den Riegel vorlegte, ließ die Germanin zusammenzucken. Einige Momente – sie wusste nicht wie lange – saß sie einfach nur da und starrte in die Dunkelheit, zehrte von der Erinnerung an die Begegnung gerade eben, an die Zuversicht, die Merit ausgestrahlt hatte, aber nur zu bald war die Wärme aufgebraucht, die sie mit sich gebracht hatte. Die Hände vor das Gesicht geschlagen, glitt Siv schließlich seitlich von der Kiste herab, auf der sie saß, bis sie auf dem Boden aufkam. Verharrte kurz in einer zusammengekauerten Stellung. Sank dann weiter, zur Seite, rollte sich zusammen, der Rücken gekrümmt, die Beine eng an den Körper gezogen, die Arme darum geschlungen, während ihr Gesicht nun von ihren Knien geborgen wurden. Heiße, aber stumme Tränen liefen über ihre Wangen. Sie war allein. Allein. Und sie würde es bleiben. Jede Chance, eines Tages wieder nach Hause zu können, zu ihrer Familie, ihren Brüdern, hatte sie sich verbaut – nie wieder würde sie die Möglichkeit zur Flucht bekommen, davon war sie überzeugt, mehr noch, sie würde Germanien nicht mehr wieder sehen, wenn sie es, nun zum zweiten Mal in ihrem Leben, erst verlassen hatte. Das allein wäre aber nicht so schlimm gewesen, wäre sie nicht auch davon überzeugt gewesen, dass sie sich jede Chance darauf verbaut hatte, in Rom ein Leben zu führen, mit dem sie zufrieden sein konnte. Sie war zufrieden gewesen mit ihrem Leben – sicher hatte sie ihre Probleme damit gehabt, Sklavin zu sein, aber alles in allem war es ein gutes Leben gewesen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie, dass sie auch zu Hause nicht alles hatte tun und lassen können, was sie wollte. Sie hatte es versucht, sicher – aber spätestens als sie verheiratet worden war, war auch für sie der Ernst des Lebens angebrochen. Sie hatte jede Freiheit genutzt, die ihr geblieben war, und das waren vergleichsweise viele gewesen, war Ragin doch vernarrt in sie gewesen. Aber sie hatte auch ihre Pflichten gehabt, und sie erfüllt – und sie wusste nur zu gut, dass Ragin ein wahrer Glücksfall für sie gewesen war, dass kaum ein anderer Mann ihr so viel Freiraum gelassen hätte. Sie gab es nicht gern zu, aber verglichen mit dem, was ihr zu Hause hätte widerfahren können, hatte ihr Leben in Rom ihr mehr Freiheiten geboten.


    Nein, sie gab es nicht gern zu, selbst jetzt noch nicht, wo sie es verspielt hatte. Aber das war ohnehin nur noch zweitrangig. Sie würde damit leben müssen, so einfach war das. Was ihr wirklich Schwierigkeiten machte, war etwas anderes, was sie sich noch viel weniger gern eingestand – welche Gefühle sie dem Mann entgegen brachte, dem sie das zu verdanken hatte. "Corvinus…" Ein leises Wispern war es nur, das über ihre Lippen kam, selbst für ihre eigenen Ohren kaum hörbar. Ich vertraue dir. Noch etwas enger zog sie die Beine an ihren Körper, noch etwas fester schlangen sich die Arme um ihre Knie. Ein leises Schluchzen drang aus ihrer Kehle. "Es tut mir leid…" Bilder wirbelten durch ihren Kopf, Bilder von gemeinsam Erlebtem – halb belustigte, halb verzweifelte Versuche, ihm ihre Sprache näher zu bringen; Scherben, die sich unter ihren festen, aber sanften Fingern aus winzigen Wunden lösten; gutmütiger Spott als einzige Reaktion auf ihre zahlreichen Ausbrüche, bereits am ersten Abend schon; stilles, gegenseitiges Verständnis, in einer mondhellen Nacht… Eine ihrer Hände löste sich etwas, wanderte an ihrem Knie vorbei zu ihrem Hals, wo ihre Finger nach dem Anhänger tasteten und ihn umschlossen. Wie hatte sie sich nur in ihn verlieben können. Sie hatte sich, im besten Fall, lustig gemacht über die Liebe, hatte immer weit von sich gewiesen, dass ihr das mal passieren könnte, hatte auch Cadhla gegenüber noch zugegeben, dass sie davon nichts wusste… Und auch nichts wissen wollte. Ihrem Vater hatte die Liebe nur weh getan, nie war er über den Tod ihrer Mutter weggekommen. Und sie, als einziges Mädchen, ihrer Mutter so ähnlich und zugleich das Kind, dessen Leben mit dem ihrer Mutter gemeinsam an einem hauchdünnen Faden gehangen hatte, hatte die Trauer, den leisen Schmerz am meisten gespürt, mehr als ihre Brüder. Wie ihr Vater sie hatte schützen wollen vor allem Unbill; wie er ihr nie etwas hatte abschlagen können; und wie er sie manchmal angesehen hatte, mit dieser wehmütigen Zärtlichkeit im Blick, die seinen Schmerz viel deutlicher verriet, als er es je geahnt hatte.


    Sie hatte nie etwas von Liebe wissen wollen. Nicht von dieser Art von Liebe. Und sie hatte auch gar nicht daran glauben können, dass ihr das je passieren könnte. Hatte es nicht erwartet, nicht damit gerechnet. Wie war es dann trotzdem geschehen? Wie hatte sie sich verlieben können, noch dazu in einen Mann, der ihr letztlich so fremd war, so fern, schon allein weil er Römer war und sie Germanin, der in einer ganz anderen Welt lebte, der es sich nicht leisten konnte, ihre Gefühle zu erwidern – und es wohl auch gar nicht tat? Sie war nichts weiter als eine Sklavin, seine Sklavin, die ihm gehorchen musste, und die nun noch dazu versucht hatte zu fliehen, die sich seines Vertrauens als unwürdig erwiesen hatte. Siv presste Lider und Lippen so fest zusammen, dass sie vor ihren Augen Sterne sah und ihr Mund zu einem blutleeren Strich wurde. Es hatte wohl seinen Grund, dass ihre Frage in ihrem Traum unbeantwortet geblieben war. Sie war ihm nicht egal, jedenfalls war sie ihm nicht egal gewesen, das war ihr selbst in diesem Moment klar – aber wenn sie ihm erst einmal gestanden hatte, was passiert war, würde es damit vorbei sein. Sie hatte doch gesehen, wie er Merit behandelt hatte, sie hatte ihn darauf angesprochen, und er hatte es ihr ins Gesicht gesagt… ohne Reue, ohne Verständnis, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sie waren Sklaven, alle miteinander, nichts weiter. Wenn einer ihn enttäuschte, war er in seinen Augen nur noch ein Hund, ein Nichtsnutz – nicht einmal mehr einen Moment seiner Aufmerksamkeit wert. Sie wollte es nicht glauben, versuchte beinahe verzweifelt, sich vom Gegenteil zu überzeugen, sich an das zu klammern, was Merit gesagt hatte – aber die beklemmende Atmosphäre um sie, das was heute passiert war, das Zusammentreffen mit den Soldaten, das durch ihre alten Ängste so nervenaufreibend für sie gewesen war, das absolute Unverständnis, das ihr von Ursus, und die Verachtung, die ihr von Matho entgegen geschlagen war… Sie befand sich viel zu sehr in einem Wirbel aus düsteren, unheilschwangeren Gedanken, als dass sie sich momentan daraus aus eigener Kraft hätte befreien können. Er würde sie nicht verstehen. Der Gedanke schien mit eisigen Fingern nach ihr zu greifen und sie zu umklammern. Er würde nicht verstehen. Es war ihr egal, welche Strafe er sich für sie ausdachte, solange sie nur die Gewissheit hatte, dass er verstand, irgendwie, was passiert war, was sie getrieben hatte, und dass es nicht daran lag, dass er ihr nichts bedeutete oder er ihr nicht vertrauen konnte – aber er würde nicht verstehen. Und schon gar nicht würde er sie wieder an sich heranlassen, würde wieder Momente der Nähe, des Vertrauens, der Intimität zulassen. Er würde vermutlich nicht einmal mehr an sie denken, und die Gewissheit, zu der sich diese Gedanken in ihr formten, brach ihr fast das Herz, weil sie weder ändern konnte, was sie empfand, noch es wieder verdrängen, nachdem es ihr einmal klar geworden war. Und so lag sie auf dem Boden, zusammengekrümmt, beinahe lautlos schluchzend, überwältigt von Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit, bis sie irgendwann einschlief.

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