Das Umland um Mogontiacum - Stanas saekjen


  • Albin führte die Kutsche eine Seitenstraße der Via Bingia aus der Stadt heraus. Sie fuhren gut eine Stunde über den holprigen Weg, verließen irgendwann die gepflasterte Straße und begaben sich in den Wald hinein. Der alte Mann fühlte in unregelmäßigen Abständen an seine Seite, um sich zu vergewissern dass das alte Sax immernoch dort hing wo es hingehörte. Mit einem Blick zur Seite registrierte er, dass der junge Thorgall ein Beil dabei hatte, was ihn noch mehr beruhigte. Nicht dass er Angst hatte, aber sicher war sicher. Sie ließen den Wald hinter sich, und überquerten einen Hügel... sie näherten sich ihrem Ziel.


    Unbewusst fing der alte Mann an zu singen, leise, aber doch hörbar:


    "Einst nahmen die Walgötter die erwaideten Tiere
    Zu schlemmen gesonnen noch ungesättigt:
    Sie schüttelten Stäbe, besahen das Opferblut,
    Und fanden, Ägirn fehle der Braukessel.


    Saß der Felswohner froh wie ein Kind,
    Doch ähnlich eher der dunkeln Abkunft.
    Ihm in die Augen sah Odins Sohn:
    "Gib alsbald den Göttern Trank."


    Der Ungestüme schuf Angst dem Riesen;
    Doch rasch erdachte der Rach an den Göttern:
    Er ersuchte Sifs Gatten: "Schaff mir den Kessel,
    So brau ich alsbald das Bier euch darin."


    Den mochten nicht die mächtigen Götter
    Irgendwo finden, die Fürsten des Himmels,
    Bis Tyr dem Hlorridi getreulich sagte,
    Ihm allein, Auskunft und Rat."

  • Ragin spürte jedes Schlagloch schmerzhaft an seinem Hintern. Was ihm gar nicht gefiehl war, dass Albin ein Sax dabei hatte und Thorgal ein Beil. Hätten die Beiden vorher was gesagt, hätten die Brüder ihre Saxas auch mitnehmen können. Warum sie wohl bweaffnet waren? Aber wahrscheinlich war es nur reine Vorsicht...


    "Albin, wohin fahren wir denn jetzt? Und vor allem, ist es noch weit? Mein Hintern bringt mich noch um bei dem verdammten Geruckel!"

  • "Im Osten wohnt der Eliwagar
    Der hundweise Hymir an des Himmels Ende.
    Einen Kessel hat mein kraftreicher Vater,
    Ein räumig Gefäß, einer Raste tief."


    Meinst du, den Saftsieder sollten wir haben.? -
    "Mit List gelingt es ihn zu erlangen."
    Sie fuhren schleunig denselben Tag
    Von Asgard hin zu des Übeln Haus.


    Selbst stallt er die Böcke, die stattlich gehörnten;
    Sie eilten zur Halle, die Hymir bewohnte.
    Der Sohn fand die Ahne, die er ungern sah;
    Sie hätte der Häupter neunmal hundert.


    Eine andre kam allgolden hervor,
    Weißbrauig, und brachte das Bier dem Sohn.


    "Verwandte der Riesen, ich will euch beide,
    Ihr kühnen Männer, unter Kesseln bergen.
    Manches Mal ist mein Geselle
    Gästen gram und grimmen Mutes."


    Mitten in seinem Singsang wurde Albin durch den jungen Ragin gestört, was ihn eine Miene verziehen ließ. Der junge Ragin hatte noch viel zu lernen... dass der junge Ratbald mitgesummt hatte, freute Albin, schienen die alten Lieder seiner Heimat immernoch auf offene Ohren zu treffen.
    Er entschied sich, dem frechen Jungen nicht zu antworten, und anstelle dessen darauf zu vertrauen dass er lernen würde dass ein Schmerz immer länger anhält als das, was ihn ausgelöst hatte.


    Nach einer weiteren halben Stunde, die Sonne kroch schon über die ersten Hügel, erreichten sie ihr Ziel: eine weite Ebene, die von Gras überwachsen war. Was aber sofort auffiel, war die Menge an größeren Steinen die hier herum lag. Ungeordnet, so wie Midgard sie zu Zeiten hingeworfen hatte.


    "So, wir sind da. Absteigen.", kommandierte Albin, kletterte von der Kutsche und besah sich die Ebene genauer. Dann wandte er sich zu den beiden Jungen um, und entschied ihnen direkt reinen Met einzuschenken: "Jungs. Euer Onkel Sigmar ist im Dienste der Römer bei einer Schlacht in Borbetomagus gefallen. Ebenso sein Vetter Gero, Sohn der Ferun. Wir sind hier um ihnen zwei Steine für ihre Hliwaz (Gräber) zu suchen. Ich denke die Ehre gebührt euch, seid ihr doch schließlich seine nächsten Verwandten."
    Er zweifelte keine Sekunde an der Art dieser Erklärung, so war das Leben.

  • Ragins Gesichtszüge entgleisten. Sigmar war tot? Warum war jeder gleich tot, wenn er von ihm erfuhr? Ragin legte sich erstmal auf den Rücken ins Gras und starrte in den Himmel. "Albin, warum hast du uns das nicht früher gesagt? Seit wann weist du das?" Seine Gedanken waren düster. War sein Onkel gestorben, weil die Norne sein Leben verschont hatten?

  • "Wir wissen es seit gestern.", beantwortete Albin die Frage ehrlich, "Viel früher hätte ich es euch auch nicht erzählen können. Ich habe gestern Abend erst den Auftrag dafür bekommen, mit euch zwei Stanaz zu suchen."
    Er verschränkte die Arme, sah erst nicht ein warum er sich hier überhaupt rechtfertigen sollte, doch dann merkte er wie sehr es dem Jungen nahe ging.
    "Sigmar war ein guter Bursche, damals, zuhause, in unserer Heimat. Aber er hat den Weg in sein neues Leben nicht gefunden, und deshalb haben ihn die Nornen vielleicht zurück geholt. Genauso mit Gero. Sie kamen, sie gingen, wir sahen nie wieder etwas von ihnen. Und wenn es etwas wichtiges im Leben eines Menschen gibt, dann ist es die Familie.. wer entwurzelt ist, der tut sich sehr schwer damit wieder Halt zu finden. Und eine Schlacht ist immer ein Sturm der zuerst die Schwachen dem Leben entreißt."

  • Ratbald senkte traurig den Kopf als Albin das von der Familie erzählte. Plötzlich war er sehr froh die Duccier um sie zu haben. Auch der griesgrämige Albin schien ihm in diesem Moment sympathischer als gewöhnlich.

  • "Aber genau das ist es ja. Unsere Mutter ist tot, unser Vater ist tot, nun ist auch noch unser Onkel tot und von den Geschwistern unsere Eltern scheint auch keiner mehr zu leben, denn alle sind sie früh gestorben. Du darft das nicht falsch verstehen, ich bin froh hier eine Familie gefunden zu haben und bin euch sehr dankbar, aber direkte Verwandte haben wir fast keine mehr. Höchstens Dagmar und die ist in einem fremden Land am anderen Ende der Welt."


    Irgendwie fühlte sich Ragin total ermattet, obwohl er seinen Onkel ja nie kennengelernt hatte.
    "Meinst du die Norne haben sein Leben genommen, weil sie meines verschont haben?" Die Idee war total abwegig, aber irgendwie fühlte sich der junge Germane schuldig, weil er noch lebte und seine ganzen Verwandten starben. Zum Glück war Ratbald ein Fels in der Brandung, den eigentlich nichts umhauen konnte. Sonst hätte Ragin durchaus in Panik geraten können bald der letzte seiner Linie zu sein...

  • Ratbald blickte seinen Bruder an. Was für ein abwegiger Mist, über sowas sollte er lieber nciht nachdenken. Dann legte er den Arm um seinen Bruder.


    "Ragin, dass ist vollkommener Schwachsinn, das weißt du genau. Die Fäden Nornen verstehen wir aus guten Gründen nicht. Was passiert passiert eben, da können wir nichts dagegen machen. Denk nicht so viel."

  • Albin konnte die Sorgen des jungen Ragin schon verstehen, immerhin war der Clan Wolfriks seit Jahr und Tag von Problemen und Katastrophen gebeutelt. Erholung von den Schicksalsschlägen hatten die Nornen ihnen bisher noch nicht zukommen lassen.
    Als Ratbald die Sorgen seines Bruders mit einer Hand fortwischte, runzelte der Alte die Stirn.


    "Wie stehst du mit den Göttern, junger Ratbald, wenn ich fragen darf?"

  • Ragin schaute gespannt zwichen Albin und seinem Bruder hin und her. Er war gespannt, was der Alte wohl auf diese Antwort reagieren würde. Die Frage nach den Göttern war schwer gewesen, Ragin wusste nicht, wie er sie hätte beantworten sollen. Die Götter waren wichtig, und er glaubte an sie. Aber tat das nicht jeder? Sich über so etwas Gedanken zu machen war schon irgendwie komisch.

  • "Aha.", knurrte der alte Mann, "So haben schon einige gedacht. Zwei dieser Leute tragen wir heute Abend zu Grabe." Die Antwort gefiel ihm ganz und garnicht, auch wenn der Kerl noch jung war: so jung war er nun auch wieder nicht, als dass es sich damit rausreden ließ. Die Götter waren wichtig, sehr wichtig, und kaum einer würde es verzeihen wenn man nichtmehr glaubte. Er tat die Antwort als altkluge Antwort ab, und wandte sich dann wieder dem Steinfeld zu: "So, Jungs, sucht euch zwei aus. Aber achtet darauf dass man die noch zu viert hochbekommt..."


    Er musste lachen... die Erde, sich um etwas drehen? Der Junge hatte seltsame Vorstellungen von Midgard.

  • Ragin schaute sich die Steine angestrengt an, er wollte keinen falschen Stein aussuchen. Er lief eine Weile rum, bevor er sich für einen entschied: Seine erste Wahl fiel auf einen großen Stein, der ihn ein wenig an einen Baum erinnerte. Er war unten schmaler und wurde dann am oberen Ende, also an der "Baumkrone" auf beiden Seiten breiter. Der Stein wog locker so viel wie Ragin selbst, aber das sollte doch zu schaffen sein.


    "Hier, wie wäre mit dem hier? Irgendwie muss ich an Yggdrasil denken, wenn ich ihn sehe und das wäre doch ein trostspendendes Zeichen für Onkel Sigmars Grab."

  • "Yggdrasil?", sprach Albin mit leicht abschätzigem Ton in der Stimme, "Für mich sieht dieser Fels eher aus wie ein überdimensionierter Trollschwanz."


    Ein breites Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, und er musste lachen...

  • Auch Ragin musste lachen.


    "Danke Albin, jetzt seh ich da auch kein Yggdrasil mehr. Damit ist dieser Stein gestorben! Ich kann doch meinem Onkel keinen Trollschwanz auf sein Grab stellen!", erwiederte er gespielt empört um dann doch wieder lachen zu müssen.
    "Was ist Ratbald, hast du auch schon einen Stein gefunden?", rief er zu seinem Bruder herrüber.

  • Albin schien dem jungen Ratbald mit seiner Antwort zu denken gegeben zu haben, denn dieser schien sie garnicht zu beachten... was Albin ganz recht war. Je eher man den jugendlichen Leichtsinn bei Worten über die Götter ablegte, desto glücklicher waren die Nornen beim Spinnen des Schicksalfadens.


    Der alte Mann ging ein paar Schritte über das Feld der Steine und erinnerte sich dabei an die vielen Male, die er so etwas gemacht hatte.


    "So viele Gräber...", murmelte er vor sich hin während er die Steine betrachtete.

  • "Bist du von Sinnen?", fuhr Albin den Jungen an, "Wenn ich es wagen würde die Gräber anderer Leute zu schänden, nur weil ich ihre Legungen so hübsch finde, hätten mir die Nornen schon lange den Faden um meinen faltigen Hals gewickelt, Junge..."


    Er hielt inne, und betrachtete den Jungen mit einer Mischung aus Erheiterung und Ärger, wie konnte man nur so dumme Fragen stellen?


    "Ich meine die Gräber der Familie. Ich habe mittlerweile so viele junge Leute beerdigt, dass es schon fast wie ein Fluch meines Alters scheint... das ist nicht recht. Das Alte muss vor dem Jungen sterben, so war es immer. Doch ich habe das Gefühl dass sich die Jungen mittlerweile besonders viel Mühe geben den Alten zuvor zu kommen..."

  • Ragin zog refelexartig den Kopf ein.


    "Entschuldige. Dann hab ich dich wohl ganz falsch verstanden. Aber es geht nicht nur dir so. Bei mir ist fast die ganze Verwandschaft tot, und ich bin noch jung. Aber ich werde versuchen nicht auch vor dir zu sterben, wenn du mir versprichst steinalt zu werden." Er zwinkerte dem Alten zu. "Aber wenn jemand im Kampf gestorben ist, dann war es ein guter Tod, auch wenn derjenige noch jung war. Trotzdem sollte man um die Gefallenen trauern, damit sie sehen dass man sie vermisst."

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