equile | More than this

  • When I offer you survival,
    You say it's hard enough to live,
    Don't tell me that it's over,
    Stand up, poor and tired,
    But more than this


    How do you know that you're right?
    If you're not nervous anymore…


    Bling – The Killers


    Wie lange sie im Tablinum auf dem Boden gesessen war, wusste Siv nicht. Vermutlich gar nicht mal so lange, immerhin war es ein öffentlicher Raum – aber es war ihr lang vorgekommen. Oder besser, sie schien vorübergehend irgendwie die Fähigkeit verloren zu haben, das Verstreichen der Zeit zu bemerken. Irgendwann jedenfalls hatte sie Geräusche gehört auf dem Gang, und schnell war sie aufgesprungen und war verschwunden. Und wie immer, wenn es ihr schlecht ging, wenn sie irgendetwas störte oder aufwühlte, hatten ihre Schritte sie in den Garten geführt. Nur musste sie leider recht schnell feststellen, dass es zu kalt war, selbst mit dem wärmenden Umhang, den sie immer noch dabei hatte, von dem Ausflug in die Stadt. Siv blieb dennoch einen Augenblick stehen, inmitten der Rasenfläche, stand einfach da und ließ ihre Gedanken treiben. Völlig zusammenhanglose Fetzen trieben durch ihren Kopf, bis ihr schließlich tatsächlich zu kalt wurde. Aber sie wollte nicht zurück ins Haus. Fast wie in ihrer Anfangszeit hatte sie das Gefühl, sie müsste ersticken, wenn sie dort hineinging, wenn die Wände sich um sie schlossen, sie einschlossen und sie erdrückten.


    Einen Moment zögerte sie noch, dann wandte sie sich um und schlug den Weg zum Stall ein. Sachte setzten ihre Füße einen Schritt vor den anderen, kamen erst zur Ruhe, als sie in dem Verschlag von Idolum stand. "Hey", murmelte sie und strich sachte über die weichen Nüstern. Mit der anderen Hand umfing sie den Pferdekopf, zog ihn zu sich her und legte ihre Stirn daran, und Idolum folgte, fast als spürte er, dass sie seine Nähe brauchte, schnaubte nur leise und stupste sie leicht mit dem Kopf an. "Ich bin frei." Die Worte klangen immer noch so… unglaublich. So unfassbar. Es änderte nichts daran, dass sie sie nun auf Germanisch aussprach. "Frei…" Es schien als ob sie es laut sagen musste, wiederholen musste, um es überhaupt glauben zu können, auch nur ansatzweise begreifen zu können. Und selbst damit gelang es ihr noch nicht wirklich. Zu viel schien es zu bedeuten, zu groß schien es zu sein, und dazu kam das Gespräch mit Corvinus, dass sie merkwürdig leer zurückgelassen hatte. Ausgehöhlt. Ja, sie fühlte sich irgendwie ausgehöhlt, als ob irgendjemand einen in ihrer Brust vergrabenen Schatz gehoben und dann vergessen hätte, das Loch wieder zu füllen, wenn schon nicht mit etwas ähnlich Wertvollem, dann wenigstens mit etwas Erde. "Ich könnte zurückgehen, nach Germanien. In… zu meiner Familie…" In meine Heimat, hatte sie eigentlich sagen wollen, aber das hätte nicht gestimmt. Germanien war nicht mehr ihre Heimat. Vielleicht, vermutlich, konnte es das wieder werden, aber zumindest für den Moment war es das nicht. Idolum wieherte leise und stupste sie erneut an, und ein trauriges Lächeln huschte über ihre Züge. "Nein, mein Kleiner, ich glaub nicht dass du mitkommen könntst." Siv spürte, wie wieder Tränen aufstiegen, und ihre Hand zitterte leicht, als sie kurz Idolums Hals tätschelte und versuchte sich zusammenzureißen, bevor sie ihr Gesicht in seiner Mähne vergrub und mühsam, gezwungen, tief ein- und ausatmete. Sie wollte nicht schon wieder weinen. Schon gar nicht, wenn sie eigentlich glücklich sein sollte. Sie hatte ihre Freiheit wieder, sie war keine Sklavin mehr – warum nur war ihr dann zum Heulen zumute? Warum konnte sie das nicht genießen, warum konnte sie nicht zufrieden sein mit dem, was er ihr gerade erst geschenkt hatte, was sie sich seit Beginn ihrer Sklaverei so sehr gewünscht hatte? Warum wollte sie mehr als das…

  • ~ Einen Tag später ~


    Siv war an dem Nachmittag noch lange bei Idolum geblieben. Und sie war zurückgekommen, am nächsten Tag. Sie wusste, dass sie sich verkroch. Aber sie wollte gar nichts dagegen tun. Sie meinte es nicht aushalten zu können, anderen zu begegnen. Glückwünsche zu hören oder wahlweise schneidende Kommentare, die den Neid nur zu deutlich durchklingen ließen, denn natürlich hatte es sich inzwischen herumgesprochen, was Corvinus getan hatte. Was er ihr geschenkt hatte. Genauso natürlich hatte es die Gerüchteküche wieder angefeuert. Und Siv wollte nichts davon hören, nichts davon wissen. Sie war immer noch verwirrt, hauptsächlich darüber, wie wenig sie in der Lage zu sein schien, sich über ihre Freiheit zu freuen. Im Gegenteil hatte sie seit jenem Nachmittag mehr Tränen vergossen als in den Monaten davor, und Siv war derzeit ohnehin recht nah am Wasser gebaut, für ihre Verhältnisse zumindest. Nicht dass andere davon viel mitbekamen, denn dass sie auf Hel komm raus gegen Tränen ankämpfte, wenn andere zugegen waren, dass sie lieber Zuflucht in Wut und Trotz suchte und andere vor den Kopf stieß, das hatte sich nicht geändert.


    Nein, wirklich freuen schien sie sich nicht zu können. Und das verwirrte sie zutiefst. Nur langsam begann sie zu ahnen, woran das liegen mochte – an der Entscheidung, die sie letztlich zu treffen hatte. Sie hatte Corvinus gesagt, dass sie nicht gehen wollte. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass sie nicht bleiben wollte. Nicht, wenn es so weiterging wie bisher. Der Punkt war doch: bisher hatte sie schlicht keine Wahl gehabt. Wäre die Situation wirklich unerträglich geworden für sie, hätte sie ihn bitten können, sie gehen zu lassen, und sie war sich sicher, dass er ihrem Wunsch entsprochen hätte. Aber sie hatte nie darum gebeten, hatte nie die Notwendigkeit gespürt, es zu tun. Und selbst das eine Mal, als er ihr die Freiheit angeboten hatte… die Entscheidung war einfacher gewesen, als es nur darum ging, die Freiheit abzulehnen und sich im Anschluss daran wieder darauf verlassen zu können, dass sie keine Wahl hatte. Dass sie seine Sklavin war. Aber jetzt… jetzt hatte sie die Wahl. Jetzt konnte sie nicht mehr vorschieben, dass sie nicht entscheiden konnte. Jetzt konnte und musste sie entscheiden, ob sie das noch würde aushalten können. Nein, besser: wollen. So lange war sie schon hier… und von Anfang an war es doch so gewesen. Immer waren sie doch irgendwie aneinander geraten. Sie waren einfach… anders. Als Siv an diesen Punkt kam in ihren Gedanken, war der Moment wieder da, in dem sie – wie so oft in den letzten Tagen – ihr Gesicht in Idolums Mähne vergrub und lautlos zu weinen begann. Sie wollte diese Entscheidung nicht treffen. Sie wollte es einfach haben, wollte ihr aufgewühltes Inneres damit beruhigen können, dass sie ohnehin nicht die Wahl hatte, sie… Siv würgte, an den Tränen, an dem Kloß in ihrem Hals, vor allem aber an dem Gedanken, der ihr gerade zum ersten Mal wirklich bewusst geworden war: sie wollte wieder Sklavin sein. Es war so einfach gewesen, sich für ihn und für dieses Leben hier zu entscheiden, jeden Tag aufs Neue, vor allem dann jedes Mal, wenn Corvinus und sie wieder einmal so zueinander standen wie jetzt, wenn er wieder einmal… so zurückhaltend, so abweisend war, als sie noch nicht wirklich die Wahl gehabt hatte.

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