Cubiculum FN | Divination

  • Es war Herbst geworden. Still und leise, noch weder sicht- noch hörbar, und doch war kein Zweifel daran, dass der Sommer vorbei war. Nachts wurde es manchmal schon empfindlich kühl, und die Sonne verschwand zeitig hinter dem Horizont, verkürzte die Stunden des Tages und verlängerte die der Nacht.


    Doch Sextus störte sich weder an der Dunkelheit, noch an der Stunde, noch an der Kühle. Er stand nackt im fast bodentiefen Fenster von Nigrinas Schlafgemach und sah hinaus in den Regen, der seit einigen stunden unablässig herniederging und die Welt da draußen noch herbstlicher erscheinen ließ. Sein Körper glänzte noch vom Schweiß der vergangenen Stunden, und doch frierte ihn nicht wirklich. Zu viele Dinge gingen in seinem Kopf herum und lenkten ihn davon ab. Selbst der Sex mit seiner Frau, die irgendwo in seinem Rücken im Bett lag und von der er nicht wusste, ob sie schon schlief oder doch noch wach war, hatte ihn nicht von seinen Gedanken vollständig ablenken können. Und das war etwas, das zum einen selten geschah, und zum anderen sehr ärgerlich war. Und Sextus drittens darin bestätigte, dass es schwerwiegende Dinge waren, die sorgsam durchdacht sein sollten und nicht einfach dem Zufall überlassen werden durften.


    Das Fenster ging nach Süden – einer der Hauptgründe, warum Sextus überhaupt hier stand. Es donnerte immer wieder, leise und rumpelnd in der Ferne, oder auch mal laut und krachend in der Nähe. Sein Blick suchte die Wolken ab, suchte nach den hellen Blitzen, ihre Form, ihre Richtung, ihre Farbe. Er brauchte Antworten, und auch, wenn er wusste, wie viel 'künstlerische Freiheit' in den Verlautbarungen steckte, die die Haruspices gern an ihre Klienten herausgaben: Er hatte Jahre damit verbracht, zu lernen, wie man diese Zeichen las. Er hatte sich mit jeder der sechzehn Sphären, in die der Himmel nur bei den Etruskern unterteilt war, endlos befasst, jede Neigung, jede Farbnuance gelernt, bis ihm die Ohren geblutet hatten vom ewigen Zuhören seiner Lehrer. Die Auspices von Rom kannten bei der Blitzdeutung nur zwei Antworten der Götter: Ja und nein. Zustimmung oder Ablehnung. Auch wenn sie es waren, die hier in Rom das erste Recht hatten, dies an die Pontifices zu vermelden: Sie waren darin dilettantische Stümper. Die Etrusker hatten schon vor hunderten von Jahren ebenso wie bei der Leber hier weit mehr Zeichen gefunden, weit mehr Nuancen des göttlichen Willen, und nicht nur den von einem Gott, sondern den des gesamten Pantheons.
    Und auch, wenn Sextus nicht wirklich religiös war oder den Göttern ein Übermaß an Frömmigkeit entgegenbrachte: Im Moment brauchte er antworten. War es der richtige Weg, den er ging? Übersah er etwas? Und vor allem: Wie lang sollte er mit seinen nächsten Schritten warten? Natürlich wäre es vorteilhafter, vom neuen Kaiser als Senator eingesetzt zu werden. Salinator war nicht sein Freund. Er würde auch nie auch nur annähernd freundlich dem Klienten des Tiberius Durus gegenüberstehen, zumal er selbst ebenfalls Patrizier war. Salinator positionierte gerade seine eigenen Männer mannigfaltig, um sie in den Senat zu bekommen. Was also sollte ihn dazu bewegen, ihn dorthin zu befördern? Richtig: nichts.
    Also half nur eine Sache: Bestechung. Und diese wäre in diesem Fall wohl nicht unerheblich. Was eigentlich nur ein geringfügiges Problem darstellen sollte. Einzig war die Sache, dass es eine Verschwendung war, Geld für einen Mann aufzuwenden,d er mit einem Bein schon im Grab stand.


    Sofern die Verschwörung Erfolg hatte! Immerhin barg ihre Unternehmung nicht unerhebliche Risiken, die aufgrund der letzten nicht einstimmig verlaufenen Abstimmung nicht kleiner geworden waren. Eine Spaltung innerhalb der Gemeinschaft war nicht gut. Sie mussten ihre Ressourcen bündeln und nicht aufsplittern, und Sextus war sich noch nicht über die Auswirkungen der Ablehnung des Viniciers ganz sicher. Das alles waren neue Faktoren in seiner Chancen-Nutzen-Rechnung, die die ganze Gleichung ungemein aufbauschten und zunehmend unübersichtlicher machten.
    Die Frage aber blieb: Was fing er jetzt an? Warten? Nicht warten? In Salinator noch investieren, auch wenn es ein Verlustgeschäft war, oder doch lieber nicht?


    Er ließ seine Sinne ins Zimmer hinter ihm schweifen, zu seiner Frau. Vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, ehe sie ein zweites seiner Kinder unter dem Herzen trug. Günstigstenfalls ein zweiter Sohn. Sextus perfekte Planung bestünde aus zwei Söhnen und dann einigen Töchtern, um politische Bündnisse eingehen zu können. Doch leider hatte er darauf wohl nur wenig Einfluss, außer auf die Produktion der Nachkommenschaft als solches.
    Seine Gedanken jetzt kreisten aber nicht nur um die Kinder, die er eventuell haben würde, sondern auch um Nigrina. Wenn ihre Verschwörung aufflog, hatte sie ein Problem. Sie war dann nicht nur die Witwe – Sextus wusste um die Gefahr seines eigenen Todes bei Misserfolg ihrer Sache – eines Verschwörers, sondern auch in der Gens eines anderen. Und Flavius Gracchus war nun niemand, den man einfach so vergessen konnte. Wenn er fiel, traf es wohl die gesamte Gens mehr als nur hart.
    Sextus hatte eigentlich kein Gewissen, schon gar kein schlechtes. Dennoch fragte er sich, ob ihr nicht wenigstens die Chance gegeben werden sollte, sich für so einen Fall zu wappnen, oder ob es besser war, sie in Unwissenheit zu lassen. Nicht, dass er ihr einen Verrat zutraute. Nicht, nachdem er ihr sagen würde, dass Gracchus da ebenso beteiligt war wie er. Aber manchmal war Unwissenheit ein Segen, und Sextus war sich über die Notwendigkeit, diesen zu stören, nicht gewiss.


    Und so stand er da, im Fenster, ausdampfend und in den Regen schauend. Er wusste, dass seine Frau, wenn sie ihn so sah, wusste, dass ihn etwas beschäftigte. Er wusste, dass er seine Maske nur unzureichend spielte. Aber er brauchte Antworten. Und das Gewitter sollte sie ihm liefern.

  • Lang ausgestreckt, auf dem Rücken, ein Knie leicht aufgestellt und eine Hand flach auf ihrem inzwischen wieder ebenso wunderbar flachen Bauch... so lag Nigrina auf ihrem Bett und lauschte den Regentropfen, die draußen herunter prasselten, und dem Donner, der in unregelmäßigen Abständen grollte. Sie fühlte sich träge, satt... befriedigt, und auch wenn sie inzwischen wieder zu Atem gekommen war: ausgelaugt. Schon allein die Nächte waren ein hervorragendes Argument dafür, einen jungen Kerl zu heiraten und keinen alten Knacker, wie Flora es hatte tun müssen – Macht hin oder her. Sextus würde sich im Lauf seines Lebens noch einiges an Macht angeln, davon war sie mittlerweile felsenfest überzeugt, und kombiniert mit seinen übrigen Vorzügen... reichte ihr das. Und seine Vorzüge waren in der Tat zahlreich, angefangen von den Nächten, die er trotz der anderen Weibsen, die er sich manchmal ins Bett holte, mit schöner Regelmäßigkeit bei ihr verbrachte, bis hin zu seinem Ehrgeiz und seiner kühlen Intelligenz, die ihn bei seiner Karriere beflügelten.


    Und sie vergalt ihm das auch. Kein schlechtes Wort über ihren Mann verließ jemals ihre Lippen, kein einziges. Nach außen war Nigrina das, was sie immer gelehrt worden war – eine tadellose Ehefrau, tadellos insofern jedenfalls, als dass sie Sextus absolut loyal war. Es kam für sie nicht in Frage, gegenüber anderen auch nur ein Wort zu verlieren, das ihn in einem schlechten Licht hätte da stehen lassen. Neben der Produktion von Erben war demonstrative Einigkeit das wirksamste Mittel, eine Ehe positiv für beide wirken zu lassen. Schon allein weil ihr Vater diese Verbindung arrangiert hatte, hatte sie von Anfang an gewollt, dass sie funktionierte... aber Sextus trug da durchaus seinen Teil dazu bei, dass es ihr trotz ihrer Art leicht fiel, sich an die Regeln zu halten.
    Dabei hatte er auch seine Nachteile. Nach wie vor gab es die Momente, in denen sie ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte, weil er sie mit seiner Art manchmal zur Weißglut trieb. Dass er wenig begeistert davon war, wann immer ihr Temperament mit ihr durchging, war eine Sache. Dass er sie dann regelrecht wie ein Kind behandelte, ärgerte sie jedes Mal maßlos, und was sie daran wohl am meisten aufregte war die Tatsache, dass Sextus ihr kein Contra gab. Kein vernünftiges, keines, womit sie etwas hätte anfangen können. Nicht wie Aulus, mit dem sie sich wunderbar streiten konnte. Nein, Sextus ließ sie einfach ins Leere laufen, wenn er sich denn überhaupt die Mühe gab, ihr in solchen Momenten zuzuhören. Es ärgerte sie so sehr, dass sie bald begonnen hatte, auch ihm gegenüber die Beherrschung an den Tag zu legen, die sie in der Öffentlichkeit zeigte. Sie hatte ihre Wutausbrüche schlicht auf später verlegt, wenn sie sicher sein konnte, dass er nichts mehr mitbekommen würde. Was ihr nicht gefallen hatte, und es gefiel ihr auch heute noch nicht immer... in erster Linie, weil sie es nicht mochte, ihm etwas vorzuspielen. Nicht weil sie mit der Tatsache an sich ein Problem hätte, sondern weil sie nicht geglaubt hatte, es in dieser Hinsicht tun zu müssen. Sextus war kein Weichei. Er war niemand, der klein beigab, der sich duckte, der erschrak. Niemand von der Sorte, dem das brave Frauchen vorgespielt werden müsste. Kurz, er war ein Mann von der Sorte, den sie tatsächlich respektieren konnte... und auf gewisse Art und Weise vertraute sie ihm. Den Menschen allerdings, denen sie vertraute, war sie gemeinhin auch ehrlich gegenüber, und das wiederum wusste ihr Mann effektiv zu vereiteln, indem er ihre Temperamentsausbrüche nicht tolerierte.
    Nigrina hatte eine Zeitlang gebraucht, bis sie das wirklich hatte akzeptieren können – dass Sextus sie nicht so nahm, wie sie war, sondern von ihr erwartete, dass sie sich seinen Vorstellungen wenigstens ein Stück weit anpasste... wollte sie nicht links liegen gelassen werden und nur das Frauchen an seiner Seite sein. Aber sie hatte sich angepasst... untergeordnet, mochte mancher es vielleicht auch nennen, auch wenn DAS ein Wort war, das Nigrina ganz sicher an die Decke hätte gehen lassen. So oder so: sie hatte es sich angewöhnt, sich auch in seiner Gegenwart zu beherrschen... und war dabei fast unmerklich ruhiger geworden, reifer. Erwachsener. Auch wenn sie das niemals zugegeben hätte, obwohl sie ja selbst merkte, dass sie bei weitem nicht mehr so häufig wie früher in die Luft ging.


    Mit einem leisen Seufzen drehte sie sich auf die Seite, als diese allumfassende Trägheit langsam aus ihren Gliedern zu schwinden begann... und öffnete dann die Augen. Sextus war vorhin aufgestanden, hatte ihre Räumlichkeiten aber nicht verlassen – und nun war er immer noch nicht wieder zurück ins Bett gekommen. Das war... ungewöhnlich. Normalerweise entschwand er immer recht bald in Morpheus' Reich, wenn sie miteinander geschlafen hatten und sie die Nacht über zusammen blieben. Dass er jetzt immer noch einfach nur da stand, aus dem Fenster sah und das Gewitter beobachtete, das... nun. Es zeigte, dass irgendetwas anders war, dass etwas nicht stimmte. Nigrina trauerte für einen Moment jenem süßen Gefühl der trägen Befriedigung hinterher, das sich zunehmend verflüchtigte, dann erhob sie sich leise und näherte sich ihm sachte. Bei ihm angekommen, schob sie sich nicht in sein Blickfeld hinein, sondern blieb halb neben, halb hinter ihm, legte ihm nur eine Hand sachte auf den Rücken, wo ihre Finger zu streicheln begannen, und lehnte ihren Kopf an seinen Oberarm. „Was ist los?“

  • Cicero hatte einmal den deutlichsten Unterschied zwischen Etruskern und Römern mit einfachen Worten so dargestellt: Römer glaubten, Blitze entstünden, weil Wolken aufeinandertrafen. Die Etrusker glaubten, dass Wolken aufeinandertrafen, damit Blitze entstünden. Deshalb lag in diesen auch ein göttlicher Wille, ein Zeichen etwas vermeidbaren oder nicht vermeidbaren. Oder in Sextus Fall: Vielleicht eine Antwort auf die alles entscheidende Frage: Was tun?


    Eine weitere Möglichkeit zur Vorgehensweise kam Sextus wieder in den Sinn. Er hatte bereits einmal darüber nachgedacht, ob es nicht lukrativer für ihn sein könne, wenn er sich doch an seine vermeintlichen Mordopfer wenden würde, und so das Risiko der Entdeckung der Sache umgehen würde. Andererseits barg diese Möglichkeit auch wieder das Risiko, dass seine jetzigen Verbündeten Freunde hatten, von denen er momentan nichts wusste, und die an ihm wegen des Verrats ans Leder wollten. Wobei man das sicherlich auch so darstellen konnte, dass auf ihn kein verdacht fiel und er lediglich das Glück hatte, sich aus der nachfolgenden Verhaftungswelle zu entwinden und das Gerichtsverfahren unbeschadet zu überstehen. Es musste ja niemand wissen, dass er derjenige war, die entscheidenden Informationen geliefert hatte. Nun, Tinia, wie würde es dir gefallen, wenn ich einen auf dich geschworenen Eid breche?
    Ein dumpfes Donnergrollen folgte wie als Antwort, und kurz darauf durchzuckte ein weiterer Blitz den Himmel, hellblau, fast weiß, und gabelte sich über den halben Himmel auf. Kurz zuckte einer von Sextus Mundwinkeln zu so etwas ähnlichem wie einem Lächeln. Eidbruch war nach wie vor nur dann eine Option, wenn die anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren.


    Hinter sich hörte er das verräterische Rascheln der Decke, gefolgt von dem sachten Tapsen nackter Füße auf dem kühlen Boden. Er fühlte seine Frau, noch ehe sie ihn berührte. Ihre warme Haut, der sanfte Duft nach den sündhaft teuren Ölen, mit denen sie sich gern ihre Haut einreiben ließ, jetzt überdeckt von Schweiß und Lust.
    Was los war? Wieder ein kurzes Lächeln, während ein weiterer Blitz über den Himmel zuckte, diesmal nicht so gewaltig, weißer, in der zwölften Sphäre, gerade und nur wenig vergabelt. Nur ein Moment, und dann wieder vollkommene, grollende Dunkelheit.
    “Ich suche Antworten“, meinte er ruhig und beobachtend, ohne sich umzudrehen. Er genoss ihre Nähe, dass sie zu ihm gekommen war. So wenig er auf Gefühle gab, er war nicht aus Stein. Natürlich fühlte auch er Verbundenheit, natürlich fühlte auch er Nähe. Wenngleich er den nützlichen Aspekt derselben verstandesgemäß in den Vordergrund stellte. So freute er sich über die Sorge in ihrer Stimme, sagte sie ihm doch, dass sein Wohl ihr am Herzen lag – ob nun aus unlogischen emotionalen Gründen oder aus den einfachen und existentiellen Gründen ihres eigenen Standes und der Zukunft ihrer Kinder war ihm hierbei gleichgültig. Und ebenfalls darüber, dass sie zu ihm gekommen war und nicht einfach vom Bett aus ihre Frage stellte, deutete das doch an, dass seine Anziehungskraft auf sie dementsprechend hoch war, sie gewillt war, ihm zu folgen, und sie bereits wusste, dass er nicht ihren Wünschen zwangsläufig entsprach und zu ihr gehen würde.
    Wie gesagt, er war nicht aus Stein. Er atmete einmal tief durch zu dem Streicheln ihrer Hand und sah hinaus in den Regenhimmel, wartete auf den nächsten Blitz. “Es gibt einige Entscheidungen, die anstehen. Mein Lehrer meinte immer, dass die Götter nie ohne Grund ein Gewitter schicken. Vielleicht wollen sie mir ja eine Antwort geben.“ Beim letzten Satz hob er auf eben jene Art und Weise seine Stimme, die klar machte, dass er selbst nicht so ganz daran glaubte. Dennoch beobachtete er weiter, sah auf die Zeichen. Es konnte nur nützen, wenn die Zeichen ihm keine Hilfe waren, war er auch nicht schlechter dran als jetzt schon.

  • Antworten suchte er. Nigrina hätte es sich eigentlich denken können – welchen Grund hätte ein Haruspex sonst haben sollen, so ins Gewitter zu starren? Allerdings gehörte Sextus nun nicht unbedingt zu der Sorte, die wegen alles und jedem die Götter zu Rate zogen, ganz im Gegenteil. Auch das sagte ihr also, dass da irgendetwas war, was ihn über das normale Maß hinaus beschäftigte, was an seinen Nerven zerrte. Die Frage war nur was... Sie forschte in ihrem Gedächtnis nach, aber sie konnte sich an nichts erinnern, was einen Hinweis darauf hätte geben können, was los war. Was nichts anderes hieß als: ihr Mann hatte bisher nicht gewollt, dass sie etwas bemerkte. Der Kerl verfügte über eine Selbstbeherrschung, die ihresgleichen suchte, auch wenn er häufig gar nicht so wirkte, sondern sich einfach oberflächlich-charmant gab. Aber so gut kannte sie ihn mittlerweile, dass sie wusste, dass das gar nichts bedeutete, wenn er unschuldig tat. Nicht das geringste. Aber gut, war bei ihr ja nicht anders, nur mit dem kleinen Unterschied, dass sie das nicht so gut konnte wie er – nicht was das eigentliche Schauspiel betraf, aber die Situationen, in denen sie in der Lage war, es abzuliefern.


    Aus welchen Gründen auch immer, ob er es nun nicht konnte oder nicht wollte – im Augenblick ließ Sextus sie sehen, dass ihn etwas beschäftigte. Entscheidungen. Nigrina überlegte einen Moment lang, ob sie einfach mutmaßen sollte, was für Entscheidungen das sein könnten... aber nachdem sie keinerlei Hinweis hatte, was es sein könnte, müsste sie rein ins Blaue hinein raten, und das wollte sie nicht. Zu großes Risiko, dass sie daneben lag und sich lächerlich machte, ganz abgesehen davon, dass sie durch wilde Raterei auch nicht schlauer werden würde – oder Sextus ihr etwas verraten würde. Und natürlich wollte sie nun genau wissen, was los war, immerhin hatte er gerade genug gesagt, um ihre Neugier erst richtig anzufachen. Gleichzeitig war da aber auch eine unterschwellige Sorge... wenn es ihm nur darum gegangen wäre, sie aufzuziehen, hätte er sich anders verhalten, meinte sie. Und er würde nicht hier stehen und Blitze anschauen.
    Ihre Finger bewegten sich sacht weiter auf seiner Haut, und sie atmete tief seinen Geruch sein, bevor sie erwiderte: „Was ist die Frage?“

  • Ein weiterer Blitz folgte, langgezogen und gleißend hell, doch der Donner ließ auf sich warten. Das Gewitter zog weiter. Nicht mehr lange, und nur in der Ferne wäre noch das ein oder andere Aufflackern von Licht zu sehen, während sich Rom wieder in vollkommene Dunkelheit hüllen würde.


    Wie die Frage lautete? Sextus sah in den Himmel zu den dräuenden Wolken und seine Mundwinkeln zuckten wieder leicht als Äquivalent eines Lächelns. Vermutlich konnte Nigrina es von ihrer Position aus nicht einmal sehen. Aber ihn amüsierte die Frage aus einfachem Grund: So ganz genau wusste er die Antwort nicht darauf. Es waren viele Fragen, und ebenso viele möglichen Antworten. Denn auch ein 'Was soll ich tun?' würden die Götter wohl kaum umfassend antworten, selbst wenn er die ganze Nacht dem Gewitter zuschauen würde. Und er selbst wollte sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen und wusste selbst nicht so genau, was ihn dazu trieb, jetzt hier in diesen Omen nach Antworten zu suchen. Und das allein war schon, neutral und von Außen betrachtet, für sich amüsant genug, um darüber zu grinsen.
    Sextus fasste nach hinten, nach ihrer streichelnden Hand, und zog sie zu sich nach vorne. Unweigerlich musste Nigrina näher rücken, bis er ihre warme Haut auf seinem Rücken fühlte, ihren Atem zwischen seinen Schulterblättern. Er legte ihre Hand so auf seine Brust, dass sie seinen Herzschlag fühlen konnte, ruhig und tief. Frauen mochten das aus einem für ihn unerfindlichen Grund. Er genoss eher die Wärme ihres Körpers, die Berührung an sich und die darin und in ihrem Duft enthaltene Erinnerung an die letzten Stunden.


    “Die Frage...“ begann er mit einer Antwort und ließ die Worte zwischen ihnen anwachsen, ehe er fortfuhr. “Ich stehe an einer Weggabelung. Beide Wege können zu hoher Macht und Ehre führen, oder aber auch ins Verderben. Gehe ich bei einem von beiden auch nur um ein weniges fehl, lauern schon die scharfen Klingen und Zähne der Unterwelt darauf, sich in mein Fleisch zu schlagen.
    Ein Weg erscheint einfacher, aber sein Ende ist im Nebel verborgen. Er erweckt mehr Feinde, mehr Stolpersteine und Klingen, die ich nicht vorhersehen kann. Sich hier verborgen zu halten ist vom Willen anderer abhängig, aber er verspricht schnellen Erfolg.
    Der andere hingegen ist verborgener und verschlungener, nicht so einfach zu durchschauen, mit wankelmütigen Verbündeten und nur langsamen Vorankommen. Hier muss ich Geld aufwenden, um weiter zu kommen, obwohl ich weiß, dass es verschwendet sein wird.“
    Und Nigrina wusste darum, dass er es hasste, irgend etwas zu verschwenden. Vor allen Dingen Geld.
    “Und nun stehe ich, habe die Wahl zwischen Skylla und Charybdis, und frage mich, welches das kleinere Übel wohl ist. Denn es ist unvermeidbar, dass ich mich entscheide.“


    Vermutlich war das weit kryptischer, als Nigrina es gewollt hätte. Und dennoch war es so offen, wie Sextus sein konnte, ohne irgend etwas zu sagen. Und die Frage, ob er sie einweihen sollte, hatte er für sich ebenso wenig geklärt wie die nach seinem weiteren Vorgehen.
    Sextus Gedanken waren aber schon weiter geeilt. Die Blitze wurden spärlicher, der Donner immer ferner und kaum mehr als ein bloßes Grollen im Nichts. Auch der Regen ließ nach und erlaubte der kühlen Luft, ihre Gerüche hoch zu dem Fenster zu tragen. Nasse Erde, Stein, Pflanzen. Frischer als der Gestank der sonstigen Stadt, vor allem an trockenen Tagen.


    “Ist es eigentlich dein Wunsch, dass Lucius zu den zehn jungen Männern gehören soll, die das hier lernen, wenn er alt genug ist?“ Die Frage kam ohne vorwarnende Vorzeichen. Überhaupt fragte Sextus Nigrina nie nach ihren Wünschen, erst recht nicht in Bezug auf den gemeinsamen Sohn. Manches Mal erfüllte er einen von ihr ohne von ihm zuvor vorgetragene Frage verbalisierten Wunsch, sofern es ihm vernünftig oder schlicht opportun erschien, aber sie wirklich gefragt hatte er seit ihrer Hochzeit nie. Und auch jetzt hieß es nicht, dass er sich an ihre Wünsche halten würde, aber er wollte sie zumindest dieses eine Mal wissen. Was hielt seine Frau von den Haruspices? Es war eine Ehre, die nur wenigen Familien zuteil wurde, aber es war auch ein harter Weg des Lernens fern von der Familie für viele Jahre, der am Ende nicht immer den erhofften Ruhm brachte. Es gab zu viele Skeptiker in Rom, die die alten Traditionen nicht achteten und keine Ehrfurcht vor der Kunst hatten, durch Beobachtung und Betrachtung der inneren Organe von Tieren, insbesondere der Leber, sowie Blitzen, Wunderzeichen, Losen, von Vogelflug und Rauch von verbranntem Weihrauch den Willen der Götter zu erkunden. Was also hielt Nigrina von der Sache? Was hielt sie davon, dass er hier stand und in den Regen schaute? Er hatte sie nie gefragt, es hatte ihn auch nie besonders interessiert. Aber im Moment wollte er ihre Meinung hören und zog sie dabei auch so um sich herum, dass er ihr einen Arm um die Schultern legen konnte und ihre Augen sehen. Er wollte die Wahrheit und keine hinter seinem Rücken perfekt vorgetragene Lüge.

  • Nigrina ließ sich bereitwillig näher an ihn heranziehen, bis ihre Haut die seine berührte, ihre Brust an seinem Rücken lag und ihre Stirn zwischen seinen Schulterblättern zu ruhen kam. Sie legte auch noch ihren zweiten Arm um ihn, und mit geschlossenen Augen lauschte sie auf seinen Atem und wartete auf eine Antwort… die, als sie dann kam, zwar wunderbar ausführlich, aber im Grunde ziemlich nichtssagend war. Na toll. Zwei Wege. Beide mit möglichem Gewinn, beide gefährlich. Aber er sagte nichts dazu, worum es da eigentlich ging. Sie presste für Augenblicke die Lippen aufeinander, als sie irgendwo in sich ein wenig Ärger aufwallen spürte. Gleichzeitig wusste sie allerdings auch, hatte gelernt mittlerweile in ihrer Ehe, dass es nichts bringen würde, wenn sie sich jetzt aufregte oder ihn mit Fragen zu löchern begann. Wenn Sextus ihr etwas sagen wollte, sagte er es. Wenn nicht, dann nicht – und dann half auch nichts, was sie tat. Und nachdem sie das realisiert hatte, war sie auch in solchen Situationen sehr schnell dazu übergegangen, sich vornehm zurückzuhalten. Wenn keinerlei Reaktion kam, bekam fortwährende Fragerei sehr schnell entweder den Beigeschmack des Quengelns oder des Bettelns. Aber sie war eine Flavia. Sie bettelte nicht. Auch nicht darum, dass ihr Mann ihr irgendwelche Informationen gab. Nur... Verderben. Wenn er seine Worte tatsächlich so meinte und nicht übertrieb, würde das womöglich auch sie beeinflussen, wenn er eine falsche Entscheidung traf. Massiv beeinflussen... und das bereitete ihr dann zugegeben doch ein wenig Bauchschmerzen.
    Dennoch: das erste, was hier zu tun war, war: eigene Rückschlüsse zu ziehen. Worum es ihm hier ging, schien also wichtig zu sein, und das einzige, was Nigrina sich da vorstellen konnte, war seine Karriere – wofür auch Ruhm und Ehre sprach. Nachdem er nun die Quaestur absolviert hatte, stand als nächstes die Erhebung in den Senatorenstand an… allerdings war bekannt, dass der Praefectus Urbi kein Freund von Patriziern war. Irgendwas würde Sextus sich da also überlegen müssen, um den Mann dazu zu bringen, ihn zum Senator zu machen – trotz der Tatsache, dass er Patrizier war, eine Patrizierin geheiratet und einen Patrizier zum Patron hatte… Alles wunderbare Beziehungen, aber nutzlos, wenn es sich um jemanden wie diesen Emporkömmling handelte, der nichts darauf gab, aber leider viel zu viel Macht hatte. Nur: das allein konnte es nicht sein. Mit ein wenig Geduld, den richtigen Fürsprechern und Bestechung dürfte sich das irgendwie regeln lassen… Was also war da noch? „Klingt alles recht neblig“, kommentierte sie trocken in seinem Rücken. Sie wollte wissen, worum es ging. Aber wer wusste schon, vielleicht ließ er sich ja so ein wenig mehr herauslocken, wenn sie auf seine Wortspielereien einging. Streiten wollte sie jetzt in jedem Fall nicht, damit würde sie nur die Atmosphäre zerstören, sie und ihn vielleicht auch sauer machen, und sich wohl der Chance berauben, ein wenig später noch einmal die letzten Stunden neu aufzulegen... aber ganz sicher nicht erreichen, dass er antwortete. „Aber wenn du mich fragst: nimm Skylla. Wenn schon untergehen, dann mit Stil… und einem hübschen Gesicht vor Augen. Wobei es freilich besser wäre, du könntest es Iason gleich tun.“


    Die nächste Frage dann ließ sie ihre Augen öffnen. Er fragte sie nach ihren Wünschen? Für den Fratz? Das kam überraschend. Natürlich plante Nigrina, im Leben ihrer Kinder eine andere Position einzunehmen als ihre Mutter in ihrem – und die Chancen standen gut, schon allein aufgrund der Tatsache, dass ihr Mann dankenswerterweise nicht die Angewohnheiten ihres Vaters hatte… dazu kam, dass sie charakterstärker war als die unterschiedlichen Weiber, die ihr Vater sich immer anlachte – selbst wenn es eine von denen mal länger ausgehalten hatte, war doch nie eine dabei, die Aetius oder seinen Kindern wirklich das Wasser hätte reichen können. Ihr Vater mochte das in einer Frau an seiner Seite… aber seinen Töchtern hatte er anderes mitgegeben.
    Dennoch machte sie sich nichts vor. Der Vater war wichtiger, egal welche Rolle die Mutter nun genau einnahm, und sie akzeptierte das ohne es in Frage zu stellen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Wie auch, bei dem, was ihr eigener Vater ihr bedeutete, welchen Dreh- und Angelpunkt er ihr gesamtes bisheriges Leben für sie dargestellt hatte – was sich erst seit ihrem Umzug nach Rom und der damit verbundenen räumlichen Trennung angefangen hatte langsam zu verändern? Die Mutter konnte unterstützen, im Hintergrund lenken, insbesondere in den ersten Lebensjahren durchaus auch prägen… und sie hatte vor, in dieser Hinsicht alles auszuschöpfen, was ihr als Mutter möglich war. Aber der Vater hatte den wesentlicheren Einfluss im Leben eines Kindes. Auch wenn die Bälger das häufig erst in späteren Jahren realisierten, wenn sie älter waren.
    Und Sextus sah das genauso wie sie, oder jedenfalls hatte er bislang keinerlei Anzeichen gegeben, er könnte ihr als Mutter eine größere Rolle einräumen als sie annahm. Umso mehr wunderte sie nun, dass er sie fragte, was sie wollte… ob sie sich vorstellen könnte, dass ihr Sohn ebenfalls Haruspex wurde. Die leichte Verblüffung war auch noch in ihren Augen, auf ihren Zügen zu sehen, als er sie nun nach vorne zog und sie ansah. „Ehm“, machte sie zunächst nur, weil sie tatsächlich überlegen musste. Bisher hatte sich ihr diese Frage gar nicht gestellt gehabt – weil das seine Entscheidung war. Was also hielt sie von dieser Idee? Abgesehen von dem, was die Haruspices konnten im Hinblick auf Deutung des göttlichen Willens in den unterschiedlichsten Zeichen – eine Wissenschaft, von der Nigrina kaum mehr Ahnung hatte als die meisten anderen Römer, und dieses bisschen mehr nur deshalb, weil sie mit einem Haruspex verheiratet war und dadurch das ein oder andere mitbekam, die ihr aber zweifellos nützlich erschien, auch wenn die Antworten nicht immer brauchbar oder verständlich sein mochten: die Haruspices waren ein zweischneidiges Schwert. Angesehen und respektiert, mit nicht zu verachtenden Einflussmöglichkeiten, hingen Entscheidungen doch oft an ihrer Weissagung – und gleichzeitig immer ein wenig, nun, anrüchig. Misstrauisch beäugt, von manchen vielleicht gar verachtet, gerade wegen der Macht, die ihnen zueigen war. Sie hatten also nicht den besten Ruf unter Roms religiösen Disziplinen. Allerdings: Nigrina war eine Flavia, und ihre Gens mochte zu den angesehensten überhaupt gehören – aber das hieß nicht, dass sie von allen positiv beurteilt wurden. Und mehr noch: sie war Aetius‘ Tochter – und ihr Vater hatte alles mögliche, nur nicht das, was man gemeinhin unter einem guten Ruf verstand.
    Aber Rom war kein Beliebtheitswettbewerb, in dem derjenige Erfolg hatte und Macht gewann, der sich mit allen am besten verstand. In Rom kam der vorwärts, der das Zeug dazu mitbrachte und seine Vorteile zu nutzen wusste… und nicht wer Wert auf einen guten Ruf legte. Die Leute hatten Respekt vor dem, der sich Respekt verschaffte – und nicht vor dem, der darum bat. Sofern ihr Sohn also diese Lebensweisheit verinnerlichte und danach handelte, war ihr im Grunde recht gleichgültig, ob er nun Haruspex wurde oder etwas anderes, was ihm auf Dauer Macht und Einfluss bescherte. „Ich will, dass er später Karriere macht – und vorher dafür alle Voraussetzungen bekommt, die er braucht“, antwortete sie schließlich. „Die Ausbildung als Haruspex kann ihm dabei nur helfen, denke ich.“ Die war schließlich hart und umfassend genug, dass ihm das auch in der Politik von Nutzen sein würde. „Und ein möglicher Posten im Collegium später genauso.“

  • Neblig. Sextus Mundwinkel zuckten amüsiert. Dass Nigrina seine Ausführungen nicht zufriedenstellten, war nur allzu deutlich zu hören. Aber deutlicher zu werden hatte er keine hinreichende Veranlassung. Noch nicht. Ob er jemals genügend Anlass haben würde, würde sich zeigen.
    Als sie dann aber meinte, er solle Skylla wegen dem hübscheren Gesicht wählen, musste er tatsächlich einen Moment lang fast lachen. Kurz zuckte sein Körper und er kicherte lautlos, als er sich fragte, wer wohl das hübschere Gesicht hatte: Sein alternder Patron mit dem kaputten Bein oder aber der fette glatzköpfige Vescularier. Wenn das rein nach Schönheit zu entscheiden wäre, hätten beide wohl schlechte Aussichten zu gewinnen. Am Ende würde Sextus noch den Kaiser selbst wählen ob dessen bezaubernder Gemahlin.


    Nein, solche Aussagen wie die jetzige waren es, die Sextus in seiner Meinung bestärkten, dass Frauen für die Politik schlicht nicht geeignet waren. Sie waren viel zu sehr auf das Oberflächliche beschränkt, auf Äußerlichkeiten, um hinter die Fassade des Ganzen zu schauen und die tiefgreifenden Verknüpfungen richtig zu verstehen. Er hatte da eine Theorie, dass dies damit zusammenhängen mochte, dass sie selbst kaum Aufgaben hatten, außer schön auszusehen und sich eben um den Schein nach Außen zu kümmern. Natürlich gab es auch politisch interessierte Frauen und solche, die ihre Möglichkeiten zur Einflussnahme sehr effektiv nutzten. Dennoch war sich Sextus darüber sicher, dass nur der kalte Verstand eines Mannes für ernsthafte Politik die Befähigung verlieh.
    Dennoch sah er sich mit echtem Interesse das Spiel des Lichtes in ihren Augen an, immer wieder erhellt von einem der immer ferner einschlagenden Blitze, als sie nach der passenden Antwort auf seine Frage suchte. Sie wollte, dass ihr Sohn Erfolg hatte, und wenn das Collegium dazu ein geeignetes Mittel darstellte, war es ihr nicht unrecht. Eine fast schon nüchterne Einstellung. Sextus nickte einmal und zog sie dann an sich heran, küsste sie auf die Stirn. Er ließ sie nicht wieder los, als dass sie von ihm hätte abrücken können. Er musste seine soeben erfolgte Entscheidung, die so wohlüberlegt wie gleichzeitig paradoxerweise plötzlich gefällt war, noch einmal rekapitulieren, und ihre Nähe und wärme war dabei angenehm.


    “Morgen werde ich Turms opfern.“ Inzwischen hatte sich Nigrina sicher daran gewöhnt, dass er mitunter die etruskischen Namen für Gottheiten wählte, wie seine Mutter es getan hatte. Und diesen Gott hatte er unter vielen Namen kennengelernt. Sein Großvater nannte ihn Turms, sein Vater Mercurius. Seine Freunde in Athen hatten ihn Hermes genannt, in Alexandria schließlich nannte man ihn Thoth, oder manchmal auch Anubis, was dem etruskischen Pendant eigentlich am nächsten kam. Aber alle hatten sie gemeinsam, dass sie ein Gott des Handels waren. Und damit auch der Bestechung.
    “Und ich werde mich darum bemühen, den Preafectus Urbi zum Essen einzuladen.“ Bei diesen Worten sah er noch einmal zu ihr herunter in ihre Augen, wollte ihre Reaktion auf den Vescularier abschätzen. Dass er kein Freund von Patriziern war, war wohl jedem klar. War nur die Frage, in welchem Maße seine Frau im Gegenzug den Vescularier nicht leiden konnte. “Und mit etwas Glück nach diesem Essen zum Senator Roms ernannt werden.“ Dass dies Sinn und Zweck des ganzen war, war seiner Frau vermutlich schon zuvor bewusst, er sagte es aber dennoch, um ihre Vermutung in Gewissheit zu verwandeln.
    Vermutlich war dieser Weg der risikoärmere. Auch wenn Sextus Verschwendung aufrichtig hasste.

  • Nichts. Kein Hinweis darauf, um was es sich inhaltlich drehen könnte, so dass sie noch etwas hätte sagen können. Es kam gar keine Antwort mehr, nicht einmal mehr eine weitere neblige. Nicht einmal darauf, ob es denn nun eine Möglichkeit war, es Iason gleich zu tun, oder ob es in seinem Fall keinen Mittelweg gab. Er sagte auch nichts zu ihrer Antwort auf seine nächste Frage, weder was er davon hielt noch warum er sie überhaupt gestellt hatte.
    Und es ärgerte sie – und ödete sie zugleich an. Mit Sextus war so einfach kein Gespräch möglich, weil es immer so... so einseitig war. Manchmal kam sie sich so vor, als könnte an ihrer Stelle auch irgendein Sklave stehen. Oder auch irgendein Gegenstand. Im Grunde hätte ihr Mann sich auch mit der Wand unterhalten können, so viel wie er auf ihre Kommentare einging. Mit zusammengepressten Lippen, aber widerstandslos ließ sie sich noch näher an ihn ziehen und schloss die Augen, als sie seine Lippen auf ihrer Stirn fühlte. Verharrte so, als er sie nicht wieder losließ, Haut an Haut, ihr Kopf an seiner Brust. Sie wusste es einfach mittlerweile besser, als sich jetzt aufzuführen. Sie konnte sich später abreagieren – oder in diesem Fall wohl: morgen, und ihre Sklaven würden ganz sicher ihre schlechte Laune zu spüren bekommen, die sich durch die mangelnde Möglichkeit, sie gleich auszulassen, bis zum nächsten Tag vermutlich eher noch gesteigert haben würde. Aber jetzt? Nein. Sextus, das wusste sie, würde nur in einer Art reagieren, die sie noch wütender machen würde, und ihr würde es nicht das Geringste bringen. Ein Streit mit ihm verlief für gewöhnlich noch einseitiger als dieses Gespräch... und das war frustrierend auf eine Art, die ihr gar nicht gut tat. Da war es immer noch besser, den Frust jetzt einfach zu schlucken und später vernünftig abzubauen, als ihn nur immer weiter und weiter zu steigern, bis er so groß war, dass sie am liebsten das ganze Zimmer verwüstet hätte. Ja... besser, jetzt zu schlucken und sich so zu geben, als sei nichts, so schwer ihr das auch fiel. Und so utopisch das auch war, denn natürlich gab sie sich nicht so, als sei nichts. Sie versuchte es – aber um ihren Frust zu schlucken, verschloss sie sich zugleich auch. Und das war etwas, was sie selten tat, und nur dann, wenn sie etwas traf oder ärgerte, war sie im Grunde doch ein recht offenherziger Mensch.


    Sie starrte reglos vor sich hin, als er wieder weitersprach. Turms. Mercur also. Sie sagte nichts darauf, aber Sextus mochte ihr Nicken spüren können, die sachte Bewegung ihres Kopfes an seiner Brust, das Reiben ihrer Haare über seine Haut. Erst beim nächsten Satz sah sie wieder nach oben. Den Praefectus Urbi wollte er also einladen... um Senator zu werden. Das hieß Bestechung. Hieß es zugleich auch, dass er sich schon entschieden hatte, für die zweiten seiner beiden ominösen Wahlmöglichkeiten? Der Praefectus Urbi konnte in jedem Fall als wankelmütiger Verbündeter gezählt werden, jedenfalls was einen Patrizier betraf.
    Sie deutete ein leichtes Achselzucken an. „Am Vescularius führt wohl kein Weg vorbei, wenn du bald Senator werden möchtest.“ Was ihr ja nur Recht war. Wenn er dafür einem homo novus Geld oder Geschenke in den Rachen werfen musste, war ihr das egal, so lange es nur etwas brachte. Sie hatte sich nicht so mit Geld und Verschwendung wie er. Der Praefectus Urbi war nun niemand, den sie sonderlich hätte achten können... Plebejer, homo novus, dazu... nun ja... eher unansehnlich und auch nicht sonderlich charmant im Umgang. Das einzig Positive das er ausstrahlte, war die Aura der Macht, die er besaß. Und eben jene machte es nun mal notwendig, ihn sich gewogen zu machen, wenn Sextus Senator werden wollte. Nigrinas Meinung über den Praefectus Urbi war recht eindeutig... aber das hinderte sie nicht daran, die Tatsachen zu sehen. Und sich an ihnen zu orientieren. Selbst gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen war ihr weit wichtiger, als Leuten wie dem Vescularius zu zeigen, was sie von ihm hielt. „Weißt du schon was du dir für das Essen vorstellst?“ Dann konnte sie am nächsten Tag einen Teil ihres Frusts vielleicht in nützliche Energie umwandeln und dieses Essen schon mal organisieren.

  • Davon, dass seine bessere Hälfte mit seinen Ausführungen nicht so glücklich sein mochte, bekam Sextus nichts mit. Für seine Verhältnisse war er schon sehr offen ihr gegenüber gewesen, pflegte er doch derlei Dinge überhaupt nicht mit ihr zu diskutieren. Dass er allein ihre Meinung erfragt hatte, war für ihn schon außergewöhnlich. Gewöhnlicherweise beschränkten sich ihre Gesprächsthemen auf andere Dinge, sofern sie sich überhaupt längere Zeit ernsthaft unterhielten.


    Ihre Reaktion auf den Vescularier fiel erfreulich ruhig aus. Nicht einmal ihre flavischen Augenbrauen zuckten verräterisch in die Höhe, wie sie es sonst gern taten, wenn ihr irgendwas missfiel. Sie überlegte zwar, es arbeitete hinter ihrer Stirn, aber er musste keine Angst haben, dass sie ihren Gast mit dem dargereichten Essen zu vergiften versuchen würde, oder ihn mit Unhöflichkeit vergrätzen. Insofern war Sextus sehr zufrieden und nickte zu ihren Worten.
    Als sie dann aber nach weiteren Spezifika des Essens fragte, war es an Sextus, zu überlegen und zu grübeln. Was hatte er sich vorgestellt? Ein Tisch mit Essen drauf und einer Kline davor, allenfalls noch Korbsessel für Nigrina. Aber wenn er das so sagen würde, wäre seine bessere Hälfte wohl weniger begeistert.
    “Nun, ich hatte gehofft, dass du dich um die näheren Details kümmerst. Es sollte natürlich eine exquisite Qualität aufweisen, allerdings nicht zu protzig sein. Immerhin ist der Praefectus Urbi kein Freund von Patriziern und könnte allzu opulente Darbietung als Angebertum missinterpretieren, was meiner Absicht abträglich wäre.“ Nigrina als Herrin des Hauses war seines Verständnisses nach ja für derlei Fragen auch zuständig. So wie er sie nicht in seine Zuständigkeiten hineinreden ließ, mischte er sich nur bei gebotenen Einzelfällen in die ihren.

  • Immer noch an ihren Mann gelehnt, obwohl ihr die Nähe im Moment etwas zu viel wurde angesichts der Stimmung, in der sie sich gerade befand – obwohl sie diese versuchte sich nicht anmerken zu lassen –, nickte Nigrina ein weiteres Mal leicht, als sie seine Worte hörte. Exquisit, aber nicht zu protzig. Das war eine Ansage, mit der sie arbeiten konnte... der Vescularius stand zwar auf Prunk, aber vermutlich nicht, wenn er diesen in einem anderen Haus als dem seinen vorfand... vorausgesetzt, er übertraf das, was er selbst hatte. Aber diese Gratwanderung traute Nigrina sich zu. Dazu ein paar hübsche Sklavinnen, die bedienten... und natürlich das Essen. „Gut. Ich werd sehen ob ich in Erfahrung bringen kann, was seine Vorlieben sind.“ Beim Essen. Beim Trinken. Und bei Frauen. Wenn sie nichts passendes da hatte, konnte sie sich sicher aus der flavischen Zucht etwas organisieren.


    „Gib mir Bescheid, wenn der Termin feststeht“, meinte sie und löste sich nun von Sextus, um ein paar Schritte zu einem Tischchen zu gehen, das in der Nähe des nächsten Fensters stand. Nur noch dumpf war der Donner zu hören, aber hin und wieder draußen noch ein Wetterleuchten zu sehen, dass ihr Gemach in schwaches Licht tauchte und ihren nackten Körper beinahe weiß aufleuchten ließ. Sie schenkte sich einen Becher voll dunklen, roten Wein ein und sah zu ihrem Mann hinüber. „Weißt du schon, was du ihm anbieten wirst?“ Kurz hob sie die Karaffe und fügte noch eine Frage an: „Möchtest du auch einen Becher?“

  • “Das wirst du“ meinte Sextus nur sachlich und ruhig zu ihrer Bemerkung, dass sie herausfinden wollte, was der Präfekt bevorzugte. Es war weder beruhigend noch aufmunternd, wie er es sagte, sondern eher eine feststehende Tatsache, als hätte sie soeben gemeint, am nächsten Tag würde die Sonne aufgehen. Sextus hatte keinen Grund, an ihren Fähigkeiten und ihrer Pflichterfüllung zu zweifeln. Er hätte sich keine bessere Gattin wünschen können und war froh, dass sein Vater für ihn diese hier ausgesucht hatte.


    Doch dann löste sie sich unvermittelt von ihm, und Sextus blieb allein im Fenster stehen. Wo ihr Körper gewesen war, hinterließ der Nachtwind eine unangenehme Kühle. Er sah ihr nach, wie sie hinüber zu der Weinkaraffe ging und sich etwas einschenkte, einen Schluck nahm. Das Blitzlicht tauchte sie in grellen Kontrast zur Umgebung. Sie hatte diesen Gesichtsausdruck, den sie häufiger hatte, wenn sie etwas störte.
    Sextus merkte, wie andere, weniger trübsinnige Gedanken wieder anfingen, sich in seine Überlegungen zu schleichen. “Ich werde es dir unverzüglich mitteilen. Ich denke, innerhalb der nächsten zwei Wochen.“ Etwas Vorlaufzeit musste er seiner Frau für so eine Feier auch zugestehen.
    Was er ihm anbieten wollte, die Frage gestaltete sich schon schwieriger. “Ich hoffe, er gibt sich mit Geld zufrieden“, antwortete er so wahrheitsgemäß wie vage. Für den Fall, dass Salinator mehr wollte, hätte Sextus durchaus etwas von Wert anzubieten, allerdings war er nach wie vor unschlüssig, ob er dieses Mittel einsetzen sollte. Es war ein gefährliches Spiel, ebenso gefährlich wie das, was er ohnehin schon spielte. Und Sextus war kein großer Spieler.


    Sie bot ihm Wein an, und Sextus kam langsam und schweigend zu ihr herüber. Er hatte keinen Durst, nicht nach Wein. Achtlos schob er den dargebotenen Becher im Näherkommen beiseite und zog sie wieder an sich, an seine nackte Haut, wo sie ihn zuvor schon gewärmt hatte. Dieses Mal aber mit anderer Intention.
    “Wollen wir nicht aufhören, zu reden?“ küsste er ihren Hals. Er merkte durchaus, dass sie irgendwas verstimmt hatte. Aber er kannte einen guten Weg, ihre Verstimmung in Wohlwollen umzuwandeln. Vor allen Dingen aber, ihre Verstimmung zu genießen. Nigrina war besser, wenn sie wütend war. Widerborstig und leidenschaftlich.
    “Lass uns doch noch ein wenig das Bett kaputt machen“ raunte er ihr zu, während seine Hände schon sehr besitzergreifend auf Wanderschaft zu gehen anfingen. Nein, er wollte sich jetzt definitiv nicht weiter den Kopf zerbrechen.

  • Geld. Nigrina trank einen Schluck von ihrem Wein. Es wäre natürlich die einfachste Lösung, wenn der Praefectus Urbi sich mit Geld zufrieden geben würde – aber selbst wenn nicht: jeder Mensch hatte irgendetwas, mit dem man ihn dazu bekommen konnte zu tun, was man von ihm wollte. Man musste nur heraus finden, was das war... und gerade bei einem Menschen wie diesem Homo novus sollte das doch nicht allzu schwer sein. Das war das erfreuliche an Machtmenschen: man konnte mit ihnen reden. Und sie hatte da vollstes Vertrauen in ihren Mann. Sextus würde schon etwas finden, was den Praefectus Urbi überzeugen konnte, ihn zum Senator zu machen. Vielleicht nicht unbedingt sofort, bei diesem ersten Gespräch, aber längerfristig auf jeden Fall, da war sie sich sicher.


    Sie überlegte gerade ihm anzubieten, dass die ein oder andere exquisite Sklavin aus flavischer Zucht nicht nur bei dem Gastmahl bedienen, sondern dem Vescularius tatsächlich als Geschenk angeboten werden könnte – auch wenn das wahrhaftig eine Verschwendung war, aber wenn Sextus dafür Senator wurde, war ihr beinahe jeder Einsatz recht –, als Sextus sich nun vom Fenster löste und auf sie zukam. Und noch bevor er sie erreicht hatte, noch bevor er den angebotenen Becher einfach beiseite schob und sie wieder an sich zog, konnte sie ihm ansehen, dass er nicht mehr in der Stimmung für Gespräche war. Die Art, wie er sich bewegte, langsam, aber trotzdem unter Spannung, wie sein Namensgeber auf der Pirsch... und dazu dieser Gesichtsausdruck, der sie seinen Hunger bereits ahnen ließ. Ohne dass sie es wollte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, reagierte ihr Körper bereits auf diese Anzeichen, und als er dann bei ihr war und sie seine Lippen an ihrem Hals spürte, seinen gewisperten Kommentar hörte, war es im Grunde schon um sie geschehen. Sie war nicht gut auf ihn zu sprechen im Moment. Sie wollte eigentlich sauer auf ihn sein. Nicht dass es etwas bringen würde, aber es störte sie schlicht und ergreifend jedes Mal, wenn er so über sie hinweg ging, und daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er das nahezu immer tat in solchen Situationen. Ja, sie war eingeschnappt. Und was sie ganz sicher nicht wollte war, jetzt mit ihm zu schlafen, Leidenschaft zu teilen, als ob da nichts gewesen sei, und ihren Frust auf diese Weise so effektiv los zu werden, dass sie später vermutlich nicht einmal mehr wirklich würde sagen können, warum genau sie eigentlich sauer auf ihn sein wollte.


    Nur: ein verräterischer Teil von ihr war da ganz anderer Ansicht, wollte das hier, wollte sich auf diese Weise abreagieren, die einfach die beste, weil befriedigendste war, wollte dass er sie nahm... Und ihr Körper, die verräterische Sau, machte sowieso was er wollte. Der reagierte schon längst, während sie innerlich noch mit sich kämpfte. Ihre Haut prickelte, wo seine Finger fordernd darüber strichen, Schauer breiteten sich aus, und ihr Atem beschleunigte sich unwillkürlich. „Mmmh“, machte Nigrina auf seine erste Frage, halb Seufzen, halb Stöhnen, während sie eine Hand hob und in seine Haare grub und ihre andere ebenfalls auf Wanderschaft ging, um nichts weniger besitzergreifend und eindeutig als seine, ihr Körper eine einzige Reaktion auf seine Berührungen... während ihr Kopf noch zwiegespalten war, was aber überhaupt keine Rolle spielte, sondern nur dazu führte, dass sie ihm nicht beipflichtete, nicht in Worten jedenfalls. Bei seinem nächsten Kommentar allerdings war es auch darum geschehen, und sie lachte kehlig auf. „Ja... sollten wir unbedingt...“, murmelte sie noch rau, bevor sie auch den letzten Gedanken daran, sich ihm möglicherweise zu entziehen, aufgab und mit ihren Lippen die seinen suchte. Sie liebte den Sex mit ihm schlicht und ergreifend, liebte es viel zu sehr, als dass sie eingesehen hätte, darauf zu verzichten, nur weil er auch seinen Spaß dabei hatte. Und dass sie gefrustet war, noch dazu wegen ihm, machte das Ganze letztlich ja nur umso reizvoller, weil es noch leidenschaftlicher wurde... aggressiver. Und selbst wenn es anders wäre... Sextus wusste zu genau, was er tat und wie er es tun musste, war verdammt noch mal zu gut, als dass sie wirklich hätte widerstehen können. Oder wollen.

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