Die Hütte des Hieras und seiner Familie

  • "Du kommst uns doch bald wieder besuchen?"


    Hanounah maß ihrer Frage an Quintus gar keine große Bedeutung bei. Sie stand im Eingang der Lehmhütte, die sie mit ihren Eltern Hieras und Fathia am westlichen Rande von Rhakotis bewohnte. Quintus war bereits hinaus getreten auf das schmale Gässchen, das nur wenige Baracken weiter in einem Nirgendwo endete, hinter dem die Totenstadt begann. Hanounah dagegen stand im Inneren der Hütte und würde dort auch bleiben, vielleicht würde sie noch einen Schritt hinaus machen und ihm nachwinken - ja, hinterher winken auf jeden Fall, da war Quintus sich sicher, und er hoffte es sehr -, aber weiter würde sie ihn nicht begleiten können.


    Für den Moment waren ihre Augen aber gar nicht auf ihn gerichtet, auch nicht, als sie ihre Frage nach seinem Besuch an ihn gestellt hatte. Für den Moment blickte sie neugierig auf das große, zusammengefaltete rechteckige Stück Stoff, das sie auf Geheiß ihrer Mutter gerade aus einer der Truhen im Inneren der Hütte geholt hatte. Vielleicht war es sogar jene Truhe gewesen, auf die Quintus abends immer einige Decken ausgebreitet und auf der er geschlafen hatte. Es gab vier große Truhen in jenem einzigen Raum, der das Innere der Hütte bildete. In den heißen Monaten hatte der Verginier dort zumeist allein genächtigt; nur manchmal hatte Hieras selbst eine der anderen Truhen in Beschlag genommen und den Raum zum Schlafen mit seinem etruskisch-römischen Mitbewohner geteilt. Die beiden Frauen hingegen schliefen in der warmen Jahreszeit so gut wie immer in einem Verschlag auf dem flachen Dach der Hütte, der selbst noch über eine verschiebbare Wand aus geflochtenem Schilf verfügte, um dem Ehepaar einen Hauch von privater Sphäre zu geben. Nur wenn heftiger Regen fiel in der Nacht oder der Winter über Alexandria hereinbrach, verlegten auch sie ihren Schlafplatz auf die beiden restlichen Truhen im Innern ihrer Hütte. In diesen vier Truhen bewahrte die Familie des Hieras all ihre wenigen Habseligkeiten auf; die Behältnisse waren daher mit schweren Beschlägen versehen, und obwohl die Familie sonst alles mit Quintus geteilt hatte, war ihm nicht bekannt, wo die Schlüssel zu ihnen aufbewahrt wurden.


    "Wenn du jetzt ein Gelehrter wirst, dann brauchst du doch ein Himation!" Fathia gehörte zu den Menschen, die ihr neckisches, verschmitztes Lachen nicht durch großflächige Grimassen zeigen mussten. Ihr reichten dazu ihre ausdrucksvollen dunklen Augen zusammen mit den zahlreichen Fältchen, die ihr eben dieses Lächeln ins Gesicht gegegraben hatte und auch ihr sicherlich nicht immer einfaches Leben: Geboren als Tochter eines echten Fellachen in Oberägypten, war sie mit etwa 14 Jahren - also in dem Alter, in dem Hanounah jetzt war - nach Alexandria zu Verwandten gekommen.


    Auf einen Wink ihrer Mutter hin tat Hanounah einen Schritt auf den Verginius zu und überreichte ihm strahlend das Himation, als das der Stoff in ihren Händen ja gerade enttarnt worden war. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir wissen alle, dass ihr viel, viel mehr für mich getan habt - für einen Fremden, der nicht einmal euren Gott verehrt -, als es selbst in vielen Familien üblich wäre." Die Verwandten der Fathia, bei denen sie in Alexandria zunächst gelebt hatte, hatten das Mädchen nämlich verstoßen, als Fathia ihren Mann Hieras kennenlernte - und mit ihm seine Religion. Quintus war sich nicht sicher, ob es die Lehren ihres Gottes waren - oder die seines Sohnes, das hatte der Verginier noch nie verstanden -, welche Hieras und seine Familie dazu brachten, so an ihm zu handeln, wie sie es getan hatten: ihn bei sich aufzunehmen wie ein eigenes Kind und über Monate hin ihr Leben mit ihm zu teilen.


    Dass sie ihm jetzt zum Abschied noch ein Himation schenkten, war nicht das erste Mal, dass sie für seine Kleidung sorgten. Nachdem er zunächst beide Hände ausgestreckt hatte, um den zusammengefalteten Mantel von Hanounah entgegenzunehmen, hielt er diesen jetzt nur noch mit seiner rechten Hand fest. Die Finger seiner Linken aber glitten demonstrativ von seiner linken Achselhöhle angefangen an seinem Chiton entlang hinab. Dabei malte sich ein Grinsen auf dem Gesicht des Römers, und er blickte Hanounah schelmisch an. Ein paar Mal wanderte der Blick des Mädchens zwischen Quintus' Gesicht und seiner Linken hin und her, dann musste auch sie lachen, denn sie begriff, was seine Finger in Erinnerung zu rufen sich bemühten: Sie zeichneten die Naht nach, die Hanounah angelegt hatte, als sie das Kleidungsstück für den Römer an seinen athletischen Körper angepasst - und das hieß: erweitert - hatte. Ursprünglich war es offenbar für jemanden mit schmalerer Statur geschneidert worden, doch ursprünglich war es wohl auch fehlerfrei gewesen, was sich während des Transports des guten Stückes und einem langen Dasein als Ladenhüter an einem Stand des Fremdenmarkts gründlich geändert hatte. Besagter Stand gehörte der Stoffhändlerin, für die Hanounah arbeitete, immer unter dem wachsamen Auge ihrer Mutter, welche der Händlerin schon seit ihrer Jugendzeit zur Hand ging und bei ihr mittlerweile eine Vertrauensstellung innehatte. Hanounah hatte das unverkäufliche Kleidungsstück mit nach Hause nehmen dürfen und es Quintus gleichsam auf seinen Leib genäht; die seltsamen Verfärbungen aber, die den Chiton nach seiner Zeit als Ladenhüter zierten, hatte auch sie nicht heraus waschen können. Doch das störte weder sie noch Quintus so richtig; schließlich sollte er das Stück ja auch bei seiner Arbeit im Hafen und in den Docks anziehen, bei der er Hieras kennengelernt hatte und bei der es auf ein ein paar Flecken keineswegs ankam. Wichtiger war, dass der Stoff genauso strapazierfähig war wie seine Nähte - und darauf hatte Hanounah penibel geachtet.


    Auch ihre Mutter hatte natürlich Quintus' plumpe Anspielung auf den geschenkten Chiton und die Naht bemerkt, und ihre Augen verrieten nun ein noch größeres Vergnügen, als sie es schon zuvor zum Ausdruck gebracht hatten. Neben ihr und Hanounah stand Hieras, und er lächelte in diesem Moment als einziger nicht: "Lass gut sein. Geh' zum Museion und sei ein fleißiger Akroates." Mehr sagte er nicht, und Quintus meinte, aus diesen trockenen Worten die Enttäuschung herauszuhören, die er dem gebürtigen Alexandriner dadurch bereitet hatte, dass er mit seinem Gott und dessen Sohn nicht hatte warm werden können, trotz all der Dinge, die Hieras, seine Frau und seine Tochter für ihn getan hatten. Vielleicht war aber auch Hieras einfach nur der einzige, der begriff, was dieser Abschied wirklich bedeutete - der einzige außer Quintus Verginius Mamercus selbst.


    Er würde nun einen Weg einschlagen, auf den sie ihm nicht folgen könnten, einen Weg, den ihm seine Götter eröffnet hatten und sein römisches Bürgerrecht. Dies alles und noch einiges andere trennte sie, und Quintus hatte natürlich immer gewusst, dass nie mehr werden würde aus seiner Zuneigung zu Hanounah. Er hatte sich nach Kräften bemüht, seine Gefühle niemals auch nur im Ansatz zu offenbaren, und er hatte Grund zu der Vermutung, dass er mit diesem Bemühen so erfolgreich gewesen war, dass auch Hanounah selbst in ihm nichts mehr sah als einen lustigen Kumpel. Dass sie diesen Abschied so leicht nahm, gar nicht wirklich mit bekam, dass er ein Ende war - das schmerzte ihn am meisten.


    "Du kommst uns doch bald wieder besuchen?"


    "Ja, natürlich komme ich."


    Aber es würde nie wieder so sein, wie es bisher lange Zeit gewesen war.

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