L. Annaeus Seneca- Heuchler oder Philosoph?

  • Mal ne andere Frage:
    Als jemand, der sich nächste Woche durch eine Lateinkursarbeit über die "Epistulae Morales ad Luclilium" quälen muss ;), habe ich natürlich auch viele verschiedene Beurteilungen über den Oberstoiker der römischen Kaiserzeit gelesen - und war überrascht und verwirrt, welche Bandbreite die Bewertungen dieses Herren abdeckt. Die einen halten ihn wegen seiner Nähe zu Nero und seiner grauzonlichen Aktivitäten in Politik und Wirtschaft für einen der größten Heuchler der Geschichte. Z.B.:


    "Der vielerfahrene Meister hat seinen gelehrigen Zögling gewissenhaft in alle Laster eingeweiht und bald sah der junge Prinz genauso feist und selbstgefällig aus wie der alte Lebemann und Amateurphilosoph" (E.Stauffer:Christus und Caesaren; 1952 S.150f.)


    Die Anderen sagen, er hätte unglaublich viel für die Philosophie, Rhetorik und Ethik an sich geleistet und Nero wär sowieso in den Wahnsinn abgedriftet.. Z.B.:


    "(...) seine Glanzzeit hat er jedenfalls dazu genutzt um Großes zum Segen der Menschheit zu vollbringen"(M.Pohlenz: Die Stoa; 1970 S.327)


    Was ist denn eure Einschätzung zu diesem Thema? War er dieses, oder jenes? Keins von beiden?


    Danke im Voraus schonmal für euren Input :)

  • Ich war mal so frei, das ins Historia-Board zu verschieben, da es hier meiner Meinung nach doch besser passt.


    Und bei Seneca gilt für mich wohl dasselbe, was man über jeden in der Geschichte sagen kann: Wer hat über ihn geschrieben und was waren dessen moralische Vorstellungen?
    Man bekommt wohl über niemanden ein korrektes Bild, sondern nur das Bild desjenigen, der über jemanden schreibt. Und der eine bestimmte Person eben leiden mag oder auch nicht.


    Auch muss man alle geschehnnisse im damaligen geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext sehen.
    Mein liebstes Beispiel ist da Livia, die dafür gelobt wurde, dass sie ihrem Ehemann Augustus zur Befriedigung dessen sexueller Vorlieben öfter junge Mädchen zugeführt haben soll.
    Wenn man das nach heutigen, christlichen Maßstäben sehen würde, hieße das, sie hat ihrem Mann geholfen, Ehebruch zu begehen, und hat dafür Mädels in sein Bett gebracht, die nichtmal 16 Jahre alt waren. Wirft nach heutigen Moralvorstellungen weder ein gutes Licht auf die Kaisergattin, noch unbedingt auf Augustus...


    Ähnliches kann man auch über Nero an sich sagen, der ein so schlechter Kaiser vermutlich nicht einmal war. Das meiste, was über ihn gesagt wurde, ist nachweisbar unwahre Propaganda. Allein das mit dem "Anzünden von Rom", der Kerl war zu der Zeit nichtmal in der Nähe von Rom. Und sobald er die Nachricht gekriegt hat, ist er zurück nach Rom und hat dort alles kaisermögliche getan, um den Leuten zu helfen.
    Aber er war halt trotzdem unbeliebt. Folglich waren auch Leute in seiner unmittelbaren Nähe bei einigen unbeliebt.


    Daher nehme ich etwas, das ein protestantischer Philosoph über jemanden aus dem Umfeld Neros schreibt, nicht ernster als irgendwas anderes. Erst recht nicht, wenn man sich allein den wikipediaeintrag zu besagtem Autoren durchliest: http://de.wikipedia.org/wiki/Ethelbert_Stauffer
    Und dann dabei bedenkt, in welchem ideologischen Kontext besagter Schriftsteller besagtes Zitat wohl von sich gegeben haben mag.


    Damit sag ich nicht, dass Herr Pohlenz dadurch, dass das andere Zitat nicht unbedingt uneingeschränkt glaubwürdig ist,, recht hat. Der kann genauso daneben liegen mit seiner Lobhudelei.


    Langer Rede kurzer Sinn: Bei jedwedem Zitat in jedwedem Kontext sollte man sich immer darüber im Klaren sein, wer da etwas schreibt, und warum derjenige etwas schreibt. Neutral ist niemand. Auch Geschichtsschreiber nicht.

  • Auch wenn mein Wissen zu Seneca denkbar dünn ist, würde ich dir dennoch, auch mit Blick auf Axillas Beitrag, vielleicht raten, mal in der jüngeren Forschung zu schauen, was dort gesagt wird. Vielleicht hilft auch, für einen ersten Blick, der Neue Pauly o.ä.

  • @ Iunia: Diese beiden Zitate hab ich nur mal exemplarisch aus einer ganzen Latte von sich völlig widersprechenden Textstellen ausgewählt, weil sie die beieden Extrempositionen am besten auf den Punkt bringen. Natürlich haben wir mit Stauffer einen prüden Kirchenmann am Werk, aber soweit ich das aus dem herauslesen konnte, was andere über S. geschrieben haben, zieht sich diese Ansicht schon durch die Bank; die Philosophie und Vorleben des Autors nicht trennen wollte oder konnte.
    Genauso, wie die Ansicht, dass Seneca überhaupt ein Gott der lateinischen Sprache und Philosophie gewesen ist, die sein außerphilosophisches Leben vergisst.
    es gibt aber auch einige Zwischentöne, die sagen: "mhm, ja, äh nein... oder so. Äh prima Latein auf jeden Fall :D".


    Diese Widersprüchlichkeit steht bei Seneca (wie auch bei Augustus und anderen) auf einem handfesten historischen Fundament und ist nicht nur durch die jeweilige "politisch-religiös-moralische" Haltung der beurteilenden Historiker zustande gekommen:
    Seneca hat, wi er auch selbst schreibt ab einem gewissen Punkt Neros Ausscheifungen nicht mehr kontrollieren können und musste wohl oder übel bei der Party mitmachen. Auch seine Rolle in dem Mord an Neros Stiefbruder Britannicus ist unklar... wikipedia ist da sehr aufschlussreich ;)
    Außerdem war da natürlich seine Raffgier. Das Geld, das man ihm schuldete hat er brutal eingetrieben. Dagegen hat er in seiner Philosophie immer das schöne Mantra, dass der Arme glücklicher als der Reiche ist, wenn er nur die nötige Virtus hat.


    Auf der anderen Seite wiederum hat er versucht seinen Reichtum, mit dem die Stoa ja so ihre Probleme zu haben scheint, zu rechtfertigen, aber:


    Aus Wikipedia:"Seneca-Experten bemängeln, große Teile dieser Arbeit dienten der Rechtfertigung des eigenen Reichtums mithilfe zweckhaft ausgewählter Philosopheme. Richard Mellein spricht in diesem Zusammenhang von Senecas „scheinheiligem Opportunismus“.[67]"


    und die entsprechende Fußnote 67
    "Richard Mellein, De vita beata, in: Kindlers Literaturlexikon, Kindler Verlag, Zürich 1964, S. 2613. Der Altphilologe Vasily Rudich kommt zu dem Schluss, dass Seneca sich in dieser Schrift nicht vom Streben nach intellektueller Klärung der Spannung zwischen verba und acta, von „Worten“ und „Taten“ habe leiten lassen, sondern von seinem Eigeninteresse habe leiten lassen. Außerdem wendet er ein, Seneca habe die Untersuchung unter Hintanstellung der psychologischen und politischen Implikationen rein auf die Ethik beschränkt. Daher sei ihm eine unparteiische Stellungnahme unmöglich gewesen. (Vasily Rudich, Dissidence and Literature Under Nero. The Price of Rhetoricization, Routledge, 1997, S. 88–96)"


    Im ganzen geht Seneca in seinen Briefen also seinem Freund Lucilius mit Belehrungen über Tugenden auf die Nerven, die er selbst gar nicht vorleben konnte.


    Zu deinen Argumenten, dass man solche Dinge mit der damilgen Moral und Ethik betrachten sollte: S. Handlungsweisen passten wie gesagt oftmals weder zur Stoa, noch zum Mos Maiorum (genausowenig wie die Handlungsweise des Augustus, ja eigentlich ein Fan von Virtus, Pietas; und der Livia, die du angesprochen hast ;)
    Wer genau hat Livia denn gelobt? Wenns Ovid war... in der Ars Amatora breitet er ja ganz andere Moralvorstellungen aus. Also fast gar keine 8)


    Auch über Nero kann man glaub ich diskutieren. Ob er jetzt Rom angezündet hat, oder nicht, jedenfalls hat er nicht die zerstörten Stadtviertel wieder aufgebaut, sondern sich ne schicke Hütte mit dem bezeichnenden Namen "Domus Aurea" dorthin gestellt.


    worauf ich hinauswill: Wie würdet ihr, wenn man die vielleicht tendentiöse Überlieferung und Kommentierung mal außer Acht lässt, Seneca nur aufgrund seiner Taten und Schriften beurteilen?
    Sollte man Leben und Schriften trennen und sagen das ist der Mensch und das die Philosopie, oder gehört das zusammen?


    Wenn man nachdenkt, trifft das ja nicht nur auf Seneca zu. Viele haben Wasser gepredigt und Weil getrunken. Sollte ma ndas also bei einer Beurteilung berücksichtigen oder nicht. Das ist hier die Frage :)


    @Helvetius: Danke, den Pauly werd ich mir mal anschauen :)

  • Man kann zugleich genialer Denker bzw. Philosoph und und Heuchler bzw. Arschloch sein. Da Fallen mir auch in der Neuzeit einige Kandidaten ein (Heidegger, Kierkegaard, Marx, etc.). Das muss also schon nicht unbedingt ein Widerspruch sein. Es sei denn man vertritt einen normativ aufgeladenen Begriff des 'Philosophen'.

  • Normativ ist das Wort, mit dem ich das geschwätz von Seneca als erstes bezeichnen würde. Seine Briefe sind etikettiert als Moralpredigten (der Fachman nennt sowas "Diatribe" #informationdiekeinerbraucht )


    Seneca will seine Mitmenschen informieren, wie man leben soll, um glücklich/weise zu werden. Wenn er diesem Bild nicht entspricht schaded das der Integrität seiner Ausführungen schon ziemlich.

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