Domus Sulpicia | Das Domizil des Flavius Gracchus Minor

  • DOMUS SULPICIA


    Dies ist das Heim des Quintus Sulpicius Cornutus, eines römischen Aristokraten, welcher schon seit langer Zeit in Alexandria lebt. Er bewohnt indessen ein traditionelles alexandrinisches Haus unweit des Paneion, von wo er seinen Geschäften nachgeht.


    Im übrigen ist er ein entfernter Anverwandter des geschiedenen Statthalters von Dacia, ein des Klient des römischen Senators Secundus Flavius Felix und ein Freund der flavischen Familie insgemein.

  • Das Wetter wurde schlechter. Die See wurde rauer. Die Briefe in entfernte Provinzen waren länger unterwegs.


    Manius Flavius Gracchus Minor, Domus Sulpicia, Polis Alexandreia, Oikiai tes Alexandreias
    Provincia Alexandria et Aegyptus



    Werter Sohn,


    Ich hoffe, die Überfahrt nach Alexandria gestaltete sich dir halbwegs kommod und du konntest dich bereits ein wenig in der Provinz akklimatisieren, wiewohl die Neugierde mich treibt in Hinblick auf dein Ergehen - wie weit sind deine Studien gediehen, bei welchen Lehrmeistern und Kursen am Museion hast du dich eingeschrieben, welchen Schwerpunkt hast du dir gesetzt? Ich wünschte, ich könnte dir einen Besuch abstatten und auf jenen Pfaden des Wissens wandeln, welche du nun tagtäglich beschreitest!


    Doch nicht nur das imperiale Verbot hindert mich an solcherlei Reise, das Datum für meine Eheschließung mit Aurelia haben wir mit Zusage der Götter nun auf den sechzehnten Tage vor den Kalenden des Oktobers festgelegt. Obzwar es mir eine überaus große Freude wäre, dich an jenem Tage an meiner Seite zu wissen, so erwarte ich doch nicht von dir, deine Studien zu unterbrechen und die beschwerliche Reise anzutreten! Letztendlich ist es ohnehin nur eine Formalität, ein Handel zwischen unseren Familien zum Wohle eben dieser.


    Weitaus exzeptioneller ist die Kunde, welche ich dir von deinem Vetter Caius Scato zu berichten habe. Während so mancher Plebs aus den Provinzen an einer durchschnittlichen Amtszeit sich hätte gelabt, ja vermutlich damit noch geprahlt und stante pede zum nächsten Amte wäre gespurtet im tumben Glauben, die Akkumulation egozentrischer Potenz sei Sinn und Zweck des Cursus Honorum, so nahm Scato sein vergangenes Vigintivirat zum Anlasse, kritisch zu reflektieren und im Bewusstsein der virtutes die Entscheidung zu treffen, dies Amt noch einmal zu absolvieren, um seinem persönlichen Anspruche - welcher selbstredend weit über jenem des provinziellen Plebs liegt - genüge zu tun. Erstaunlicherweise waren nicht nur jene Männer, welchen stets dies zuzutrauen ist, sondern beinahe der gesamte Senat dazu in der Lage, die Bravour dieser Tat anzuerkennen, so dass Scato mit über 90 Prozent der Stimmen zu den Tresviri Capitalis wurde beordert!


    Gleichwohl ich nur allzu bereitwillig darin ein Zeichen politischer Genesung zu erkennen hoffte, wurde dies am selben Tage noch zunichte gemacht durch die Tatsache, dass eben jener Senat Tiberius Lepidus das Aedilat verweigerte und statt dies Amte einem pflichteifrigen, strebsamen und tatkräftigen Manne zu gewähren, welcher offenherzig die Unkultivierung unserer Sitten und Traditionen anprangert, es einem unbedeutenden Manne zusprach, welcher seine Amtszeiten allfällig nicht abgesessen, doch keinesfalls sich darin sonderlich hat hervorgetan. O tempora, o mores, mein lieber Sohn!


    Doch gräme dich nicht um Rom und seine Sorgen, Minimus, noch nicht! Tauche ein in die Welt der Wissenschaften und Künste, schärfe deinen Verstand und genieße die Vielfalt der Möglichkeiten, welche dir heute noch offenstehen!


    Übersende Sulpicius meine Grüße! Mögen die Götter ihm und den Seinen wohlgesonnen sein, und mögen sie stets eine schützende Hand über dich halten!



  • Sim-Off:

    Ob der bereits mich erreichenden Briefe scheint es doch vonnöten, beizeiten zum Einzug zu schreiten ;)


    Noch immer gänzlich derangiert von jenem Wechselbade der Impressionen, erstlich jener imposanten Kulisse, in welche er am Morgen war eingetaucht, endlich der lang ersehnten Ankunft und sogleich des peinvollen Degressus in die furchtgeplagten Untiefen bürokratischen Hochmutes, erfolgte endlich, gleichsam similär zur traditionellen Badetradition der Quiriten ein drittes Bad, in welches einzutauchen der junge Flavius beim Zug durch die Gassen der orientalischen Metropole die Freude hatte, da es doch familiare Remineszenzen bot, zwischen Menschenmassen sich fortzubewegen, obschon geradliniger und geräumiger denn in der Urbs, links und rechts flankiert durch einförmige Behausungen, obschon im Ganzen weitaus flacher denn in der Urbs, unterbrochen bisweilen von imposanten Tempeln und öffentlichen Bauwerken, obschon herausragender sich gerierend denn in der Urbs.


    Letztlich passierte die Sänfte, noch immer flankiert von Soldaten, die mit weitaus größerer Effektivität wie Brutalität als flavische Sklaven ihren Weg sich bahnten, einen imposanten Hügel, welchen Manius Minor bereits vom Meere aus erblickt zu haben glaubte, weshalb er zu dem ihm opposit lagernden Patrokolos bemerkte:
    "Haben wir diesen nicht bereits gesehen?"
    "Dies ist das Paneion, Domine. Wir sollten in Kürze am Ziel sein!"
    Mitnichten zeigte Manius Minor erstaunen ob der umfangreichen Kenntnis seines Dieners hinsichtlich der lokalen Baulichkeiten, kaum hatten sie jene Stadt betreten, weshalb ihm ebenso entging, dass der umtriebige Patrokolos sich bereits auf dem Schiff diesbezüglich hatte kundig gemacht, da doch Manius Maior dies zur Landmarke für den Wohnsitz des Sulpicius hatte erkoren.
    Und in der Tat sollte er Recht behalten, denn bereits in der unmittelbar benachbarten Straße jenes eigensinnigen Heiligtumes kam die Sänfte zum Stehen und der Optio, welcher die Eskorte des Jünglings anführte, meldete in zackigem, doch gebrochenem Latein:
    "Wir sind da, Kyrios. Hier lebt Sulpikios Kornotos."
    Amüsiert ob der possierlichen Intonation des römischen Namens entstieg der junge Flavius dem Gefährt, gestützt durch seinen Diener, dankte artig und richtete sogleich seinen Blick auf Patrokolos, welcher ihm nunmehr die Kleidung zu richten hatte, um in adäquater Weise jenem Freund der Familie gegenüberzutreten, welcher in der folgenden Zeit ihr Hausvater würde sein.


    Sodann war alles präpariert und man klopfte an der Pforte, meldete sich an und stand schließlich inmitten eines erquicklichen Gartens der Gestalt des Sulpicius Cornutus gegenüber, eines Herren reifen Alters mit säuberlich gestutztem Barte, gehüllt in einen rötlichen Chiton dorischer Provenienz mit güldener Spange. Konträr zu jener Konfrontation mit dem alexandrinischen Beamten, doch noch immer bewegt von jener Xenophobie, welche der junge Flavius seit frühester Kindheit zur Gänze niemals hatte abgelegt, ergriff er diesmalig, da es um einen Freund der Familie sich handelte, persönlich das Wort:
    "Salve, Sulpicius. Ich bin Manius Flavius Gracchus Minor, der Sohn des Manius, des Vetters deines Patronus."
    Obschon es dem Jüngling ob seiner Hypermetropie entging, zogen die Mundwinkel des Cornutus sich in die Höhe und er trat rasch näher, um sich hinabzubeugen zum Antlitz seines Gastes und ihm zwei Küsse auf die Wange zu hauchen, wie es in weiten Kreisen der Aristokratie dem Brauche entsprach.
    "Ave, Flavius. Dein Vater hat dich bereits angekündigt, aber ich hatte nicht so früh mit deiner Ankunft gerechnet!"
    "Oh, ich hoffe dir nicht zur Last zu fallen."
    , replizierte Manius Minor artig, obschon selbstredend er präsumierte, dass er seinen Gastgeber mitnichten in Kalamitäten würde stürzen, was in der Tat sofort konfirmiert wurde:
    "Nein, nein, tritt ein. Es wird einen Augenblick dauern, bis dein Zimmer bezugsfertig ist."
    Mit größter Satisfaktion nahm der junge Flavius Notiz, dass sich, kaum war er der sengenden Sonne des Boulevards entflohen, eine erquickliche Kühle auf der feuchten Haut verbreitete, während er an der Seite des Sulpicius das Haus betrat.
    "Hat man dir gleich geholfen am Hafen? Hast du dein Gepäck mitgebracht?"
    "Nun, zuerst gab es einige... Irritationen. Doch du scheinst einige Reputation zu genießen, denn kaum dass dein Name fiel, waren sämtliche Beamte überaus zuvorkommend."
    Ob der Proximität von Gast und Gastgeber vermochte ersterer nicht zu erkennen, dass aufs Neue zweiterer ein sanftes Lächeln präsentierte, doch war der Färbung seiner Stimme das Amusement allzu deutlich zu entnehmen.
    "Nun, ich habe einige Freunde unten am Hafen."
    Mochte jene Äußerung dem gemeinen Pöbel impressiv erscheinen, nahm der junge Flavius kaum Notiz davon, da es doch dem Usus seiner Familie entsprach, einflussreiche Personen an den diversesten Stellen der Macht zu kennen und jene Kontakte zum Wohle seiner selbst und der Seinen sich dienstbar zu machen. Insofern war sein eigener Kommentar doch eher ein inhaltsleeres Kompliment gewesen, welches eine Beobachtung des Erwartbaren repräsentierte.


    Einen Augenschlag wandelten sie schweigend Seite an Seite, ehe ein belangloses Gespräch, konsistierend eine Reihe ritualisierter Fragen bezüglich der Umstände der Reise, des Befindens beider Familien und der Novitäten aus der Urbs, ehe final Cornutus seinen Gast in dessen Schlafgemach entließ, um ihm die Option zu bieten sich zu erfrischen und Rekreation von den Strapazen der Reise zu genießen.

  • Nach einigen Tagen kam – wie versprochen – einer der Sklaven des Museions zum Haus des Quintus Sulpicius Cornutus gelaufen. Nach dem Anklopfen an die Eingangstüre überreichte er mit einer kleinen Verbeugung eine Abschrift der Bestätigung, dass der junge Gast des Hauses sich ab sofort Schüler des Museions zu Alexandria nennen durfte.

  • Erfüllten einerseits die Novitäten aus Rom den jungen Flavius mit einiger Elation, da doch die Tage der Trübsal und Isolation in der Domus Sulpicia, deren Hausherr oftmals den gesamten Tag andernorts seinen mysteriösen Geschäften nachging, und der Irritation im Museion, wo trotz der Massen gelehriger Eleven und gebildeter Philosophen kaum einer von jenem rundlich, untersetzten Jüngling Notiz nahm, dessen Xenophobie ihn von einer Kontaktaufnahme jenseits der basalen Necessitäten abhielt, dadurcb um ein gewisses Maß wurden erhellt, doch verpuffte jene wärmende Regung allzu rasch, als er von der Terminierung der Eheschließung hörte, welche indirekt die mangelhafte Wirkung seiner Defixio belegte. Neuerlich hatten seine Wünsche und Pläne sich annihiliert. Neuerlich spien die Parzen ihm ihr hönisches Lachen ins Antlitz, von welchem selbst die Große Mutter sich hatte distanziert. Nichts schien die Misere der altehrwürdigen Flavia aufhalten oder fürs mindeste prokrastinieren zu wollen, sondern gleich dem Sturze vom Tarpeischen Felsen, der so inimaginabel weit entfernt für Frevler und Verräter wie seinen hasenhaften und pflichtvergessenen Vater bereit stand, raste diese uralte Familie ihrem fatalen Schicksal entgegen, während Manius Minor als einer der wenigen, potentiell zum Handeln kapablen ihrer Sprosse gleich einem Marcus Antonius im dekadenten Osten das süße Leben genoss, respektive zur Untätigkeit verdammt war.


    Dennoch blieb der Jüngling ein Gefangener der guten Sitten seiner Edukation, sodass er mitnichten es über sein tristes Herz brachte, jene Zeilen unerwidert zu lassen, sondern vielmehr schlussendlich seinen geliebten Patrokolos zum Diktat bat:


    M' patri suo s.d.
    ich bin wohlbehalten in Alexandreia angekommen und wurde von Sulpicius Cornutus herzlich empfangen. Wir mir scheint, verfügt er über exzeptionelle Kontakte zu den hiesigen Behörden, was mir angesichts der erstlichen bürokratischen Unannehmlichkeiten, welche in dieser Metropole des Hellenentums gar die der Urbs beiweitem übertrumpfen, bereits famose Dienste erwies.


    Im übrigen erfreue ich mich bester Gesundheit, habe die Strapazen der Überfahrt glänzend bewältigt und mich gemäß der Planungen im Museion als Akroates immatrikuliert, wofür zugleich es erforderlich war mich als Proxenios jener Stadt zu registrieren, womit ich nunmehr ein zwiefaches Bürgerrecht mein eigen zu nennen die Ehre habe. Im übrigen habe ich beschlossen mich an hiesiger Bildungsstätte vorerst der Philosophie zuzuwenden, welche ja bereits Dexter so trefflich gerühmt hatte. Um einen spezifischen Kurs zu belegen entbehre ich jedoch derzeit noch der Orientierung, sodass ich mal hier, mal dort bei diversen Lektionen hospitiere und somit gewissermaßen von allem einen Gaumenschmeichler goutiere.


    Ich darf dir die besten Grüße seitens Sulpicius bestellen, insonderheit selbstredend auch an Onkel Felix, sofern du ihn kontaktieren solltest. Meinerseits grüße mir ebenso Scato (welchem ich zu seinen politischen Triumphen herzlichst gratuliere), Tante Domitilla, Dexter (welchem ich die Grüße eines gewissen Philostratos von Antiochia bestellen soll), speziell jedoch Titus und Flamma. Ich hoffe sie sind ebenso wohlauf.

    http://www.niome.de/netstuff/IR/SiegelCaduceus100.png


    Vide ut valeas
    M' Flavius Gracchus Minor


    Der Kommentierung weiterer Aspekte enthielt er sich, um wenigstens einen sublimen Protest hinsichtlich seiner politischen Kaltstellung angesichts der Konkurrenz der inkonzipierten Leibesfrucht jener natterhaften Stiefmutter zu artikulieren, weswegen selbstredend auch Annotationen oder gar Gratulationen zur nunmehr terminierten Eheschließung und somit präparierten Legitimierung der aurelischen Bastarde zur Gänze entfielen, was faktisch somit eher ein Ausdruck verbliebenen Respektes zu seinem Vater repräsentierte, da jedes Wort in dieser Hinsicht nur als Gift und Galle sich hätten erweisen mögen.


    Insofern verblieb zuletzt ein profundes Maß an Unwohlsein, nachdem der Brief aufgesetzt und endlich mit jenem Signet war versehen, das Manius Maior zu, retrospektive noch als gülden zu definierenden Zeiten (in Komparation mit den hiesigen) Manius Minor hatte vermacht. Der Gedanke jener verlustigen Zeiten indessen vergällte dem Jüngling eine holographische Signatur, welche Patrokolos nach der finalen Rezitation des Briefes durch ein Stummes Präsentieren von Feder und Papyrus erwartete. Schlichtweg wandte der auf einer Kline sich lagernde Manius Minor von jenem Konnex zu seiner verdammten Familia ab, was der Sklave mit einem schlichten Schulterzucken quittierte, um sodann per procurationem den Namen seines Herrn zu subskribieren.

  • Seit geraumer Zeit nun bewohnte der junge Flavius die Domus Suplicia zu Alexandreia, visitierte tagtäglich einmal hie, einmal dort die Lektionen des Museion, füllte die Pausen mit gemeinsamen Reflexionen mit seinem Diener Patrokolos, welchem es stets auch oblag, die Worte der Philosophen zu protokollieren, über des Gehörte und kehrte am Abend in sein Gasthaus zurück, wo Sulpicius nicht selten Gäste empfing, um mit ihnen in hellenischer Manier Symposion zu halten und die Gänge der lokalen Politik, insonderheit jedoch den örtlichen Tratsch und Novitäten aus der Provinz zu disputieren. Dem jungen Flavius erschien dies für gewöhnlich überaus ennuyant, da die Granden der Stadt ihm ebenso unbekannt waren wie die Mechanismen demokratischer Verfasstheit, welche dem rhomäischen Aristokraten ohnehin überaus umständlich und kompliziert erschienen. Da indessen eine grundsätzliche Kritik der Umstände insonderheit den Einheimischen nicht zur Diskussion stand, zog der Jüngling sich für gewöhnlich recht bald in sein Cubiculum zurück, wo er sich allzu gern der wohltuenden Gnade des Hinabgleitens in das Reich des Morpheus überantwortete. Die surrealen Welten seiner Träume waren es, welche ihn zurückkehren ließen in angenehmere Tage, als seine geliebte Mutter ihn noch hatte behütet, sein Vater noch ein strahlender, Immitation gebietender Recke war gewesen, sein eigenes Leben hingegen einen beschaulichen Kosmos des Spieles, der Faszination täglicher Novitäten, vermittelt durch seinen Paedagogos Artaxias, und erhellt durch ein noch zur Gänze intakten Augenlichtes hatte repräsentiert. Hier allein fand er vertraute Angesichter, traf seinen geschätzten Vindex, der ihm Soldatenmären erzählte, scherzte mit Iullus und amüsierte sich über das possierliche Verhalten seines Bruders Titus, stritt leidenschaftlich mit seiner Schwester Flamma, um sogleich durch die mahnenden Worte der Amme oder das weise Urteil seiner Mutter versöhnt zu werden. In der Tat hatten die Gespinste. welche immer wieder sich des Nachts seiner bemächtigten, um Angst und Schrecken in ihm zu evozieren, ihn, seitdem er das italische Festland hinter sich gelassen hatte, nicht mehr bedrängt, womit es ihm nun endlich wieder ohne Furcht war verstattet, sein Bett zu ersteigen.


    Dennoch bot der Schlaf auch ihm nur eine vergiftete Heimat, einen Widerhauch des Vergangenen, das niemals würde mehr sein, nachdem die Götter ihm sein Flehen hatten abgeschlagen und die Eheschließung Manius Maiors mit jener grässlichen Aurelia ohne jede Hinderung war vollzogen worden. Manius Minor war genötigt, ein neues Refugium sich zu erschaffen, wozu Alexandreia, jene pulsierende Metropole, trotz sämtlichen Schmerzes der Trennung von seiner Vaterstadt, durchaus geeignet erschien. Insofern fühlte der junge Flavius sich auch genötigt, seinen Gastgeber genauer zu explorieren, welcher nunmehr bestimmt erschien, zu einem alter Vindex in seinem zur Infinität verdammten Exil zu mutieren.


    Als somit ein Tag sich ergab, da der Sulpicius keine Gäste empfing, der Flavius somit neben dem Gesinde als solitärer Hospitant verblieb, ergriff selbiger, nachdem die Speisen waren verräumt, das Wort, wobei er es schätzte, sich wieder einmal des Lateinischen zu befleißigen, welches ihm in dieser Stadt derartig selten zu gebrauchen verstattet war, dass bisweilen gar in seinen Träumen die Akteure das Hellenische gebrauchten:
    "Sulpicius, woher ist dir eigentlich Onkel Flavius bekannt? Vater hatte vergessen, dies zu erwähnen..."
    "Oh, ich diente vor vielen Jahren unter ihm in der Classis Misenensis. Der gemeinsame Militärdienst brachte uns zusammen."
    Der Sulpicius schenkte dem Jüngling ein reserviertes Lächeln, während die Stimme, welche die singuläre Quelle Manius Minors zur Dechiffrierung der Emotionen seines Gegenübers verblieb, jene vertraute Distanz kommunizierte, die zu überwinden jenem bisher niemals war vergönnt gewesen.
    "Habt ihr gemeinsam im Felde gestanden?"
    , mühte sich der junge Flavius dennoch ein Zwiegespräch zu entfalten, welches ihm erlaubte, dem geheimnisumwitterten Gastgeber weitere biographische Informationen zu entlocken. Jener indessen offerierte nunmehr ein betretenes Hüsteln, ehe er in beinahe torquiertem Tonfall anhob:
    "Nun, ich war eher ein Schreibtischtäter. Der Kriegsdienst war nie eine Herzensangelegenheit für mich. Aber mein Vater war der Meinung, dass ein bisschen Kriegsdienst jedem Römer gut ansteht. Außerdem gab es ja noch meinen berühmten Großonkel... Kurzum: Am Ende blieb ich dann doch eher in der Verwaltung."
    Der Sulpicius griff zu seinem Becher und nahm einen kurzen Schluck, während vor Manius Minors geistigem Antlitz das Bild Manius Maiors, jenes Feiglings erschien, der ebenso wie augenscheinlich dieser den Mut missen ließ, sein Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Zweifelsohne würde dieser kaum jene Admiration zu gewinnen imstande sein, die sein geschätzter Vindex im fernen Cremona durch den furchtlosen Dienst im Exercitus errungen hatte. Ein wenig desillusioniert ob jenes Umstandes führte der Jüngling die Fragen somit in die präsenten Zeiten, in welchen die häufige Absenz des Hausherrn, oftmals über den gesamten Tag, seinerseits Rätsel offerierte:
    "Aber derzeit bekleidest du kein Amt, nicht wahr? Welchen Geschäften gehst du hier in Alexandria nach?"
    "Hier?"
    , erwiderte Sulpicius hastig und für den Anschein eines Augenschlags glaubte Manius Minor einen Anflug von Insekurität aus der Stimme zu extrahieren. Es folgte eine irritierende Pause, dann aber hob sein Gegenüber neuerlich zu sprechen an:
    "Mein letztes Amt brachte mich hierher und ich habe ein lukratives Geschäft aufgebaut, dem ich mich widme. Es ist aber ein wenig komplex, weshalb ich dich nicht damit langweilen will."
    Augenscheinlich verspürte Cornutus keine Neigung, seine tagtäglichen Okkupationen genauer zu explizieren, dennoch packte der Vorwitz des Jünglings, verbunden mit seinem aufrichtigen Wunsch, ein größeres Maß an Verständnis seines zu prävisionablen Ersatz-Vaters zu gewinnen:
    "Es interessiert mich durchaus, Sulpicius. Worum handelt es sich? Ist es der Handel?"
    Sogleich verstieg er sich zu Spekulationen, was seinem Gastgeber zu berichten so inkonvient mochte erscheinen: Selbstredend existierten zahllose Okkupationen, die einem ehrenhaften Quiriten nicht wohl anstanden, begonnen beim Krämertum, über jedwede Form händischer Arbeit bis hin zu abhängiger Lohnarbeit, zu schweigen vom Schauspiel und sämtlichen damit verquickten Tätigkeiten, was somit die Majorität sämtlicher der Plebs obliegenden Arbeit inkludierte. Hingegen verfügte Sulpicius Cornutus augenscheinlich über einigen Reichtum, welchen er in seinem Haus, seiner erlesenen Kleidung wie auch den exklusiven Gäste, die bei ihm sich die Klinke in die Hand gaben, zur Schau stellte, womit er zu derartigen gemeinen Arbeiten niemals konnte genötigt sein. Es verblieben folglich im Grunde lediglich Professionen, die jenseits des Rahmens des Gesetzes ihren Erwerb suchten, was den Jüngling bereits eine Sensation in der nunmehr inevitablen Replik wittern ließ.
    Dessenungeachtet griff Cornutus stumm zur Serviette, tupfte sich achtsam den Mund und erklärte in dezidiertem, Widerworte im Vorhinein bereits unterbindendem Tonfalle:
    "Mir ist ein wenig unwohl. Ein ander Mal vielleicht."
    Damit erhob er sich und verließ erhobenen Hauptes das Triclinium. Zurück blieb ein überaus derangierter Flavius. Wer war Suplicius?

  • Das Jahr hatte sich geneigt. Nicht in Alexandria, wo man in antipodischer Manier zum quiritischen Kalender zur heiteren Sommerszeit das neue Jahr begrüßte, doch dort, wo noch immer das Herz des flavischen Jünglings schlug, Stadien entfernt in der Urbs, die dieser Tage trotz der winterlichen Witterung zweifelsohne nicht in einem derartigen Maße von Niederschlägen wurde heimgesucht wie das ägyptische Exil, waren dies die bunten Tage, in welchen Sklave und Herr die Rolle tauschten, wo jeder, ob Knabe oder Greis, Mann oder Frau, Herr oder Knecht gleichermaßen als schlichter Mensch in Äquität zum anderen der Ägide des Saturnus gedachte. Waren die Straßen in Rom somit erfüllt von trunkenen Männern, liberierten Dienern und jenen, welche schlichtweg in stiller Freude den Entsatz vom mühseligen Tagewerk genossen, so herrschte in Alexandreia ein similäres Treiben gleich zu jedem Tage, das Museion offerierte seine Lektionen und lediglich bei intensiver Observation der Straßen vermochte man hier und dort eine Gestalt mit dem römischen Pileus auf dem Haupte zu erblicken, die als unzweifelhafte Minorität in jener so farbenfrohen Metropole außerstande waren, jene Festivität der Bevölkerung zu approximieren, die ebenso erst in einem halben Jahr nicht inäqual den römischen Saturnalia das güldene Zeitalter des Kronos zu zelebrieren pflegten.


    Manius Minor hingegen verspürte eben in jenen Winterstagen eine schier unbändige Neigung, jenes frohe Fest aus Kindertagen in der Fremde zu begehen, als würde jenes demonstrative Festhalten an den Ritualen und Rhythmen seiner Heimat ihn davor bewahren, seiner Identität im Exil am anderen Ende der Oikumene und getrennt von den Bindungen, die einen Quiriten mehr definierten denn jedwede persönliche Eigenschaft, verlustig zu gehen. Deplorablerweise indessen boten die Umstände an jenem ersten Saturnalientage, an welchem im Templum Saturni die Bande des Gottes gelöst zu werden pflegten, ein weniges auf, um jenem Bedürfnis des Jünglings zu entsprechen, denn weder schien der Himmel geneigt, die güldenen Tage durch ebensolche Wetter zu zelebrieren, sondern verhüllte sich in graue Wolken, die beständig dünne Fäden von Nieselregen auf die Prachtboulevards der Alexanderstadt warfen und damit jedwedes Verlassen des Hauses in eine unerfreuliche Tortur wandelten, noch wies innerhalb der Domus Sulpicia irgendetwas auf jene uralte Tradition, welcher Cornutus augenscheinlich nicht im geringsten zugeneigt war, sodass das Erscheinen des jungen Flavius mit seinem Diener, beide angetan mit je einem roten Pileus und ebensolcher Tunica, die beide am Vortage auf den Märkten hatten erworben, zum Prandium lediglich ein pikiertes Naserümpfen des ausschließlich hellenisch sozialisierten Gesindes evozierte.
    "Io Saturnalia!"
    , jubilierte der Jüngling dessenungeachtet in den Raum, in welchem einer der Sklaven soeben noch eine Platte mit leichten Köstlichkeiten drapierten, ehe ihr Hausherr sich zum Speisen niederließ, und ihrem Usus gemäß nur ein leises,
    "Chaire, Kyrie."
    , intonierten.
    "Heute sind Saturnalia! Ihr seid dieser Tage eures Dienstes ledig!"
    Selbstredend war man in der eher konservativ gesinnten Villa Flavia Felix niemals derartig weit gegangen, dass Herr und Sklave zur Gänze ihre Rollen hatten invertiert, doch nun, da Manius Minor mitnichten unter die Knaben mehr war zu numerieren, ja in juvenilem Übermut gar sich kapabel erachtete, sich noch ein wenig mehr um die Gleichheit aller Menschen in jenen Tagen verdient zu machen, war er keineswegs geneigt die tollen Tage in diesem seiner Herberge unbeachtet verstreichen zu lassen, sodass er prompt hervortrat und dem Sklaven das Tablett aus der Hand nahm.
    "Nicht doch, Kyrie!"
    , wies hingegen der Sklave (sein Name mochte Diogenes sein, doch realisierte der junge Flavius just in diesem Augenschlage, dass ihn hinsichtlich dessen eine gewisse Insekurität plagte, was angesichts der Intention der Festivitäten doppelt skrupulös ihn stimmte) jene Offerte ein wenig genant und zugleich alarmiert von sich. Zuerst war Minor darauf geneigt, auf seinen Anspruch zu beharren, doch wurde ihm rasch bewusst, dass er ob seiner Fehlsicht keineswegs qualifiziert mochte sein, derartigen servierenden Tätigkeiten nachzugehen, ohne diese oder jene Glasschale oder Köstlichkeit einem Missgeschicke zu opfern, weshalb er endlich, selbst ein Knecht seiner Gewohnheit, das Tablett an Patrokolos weiterreichte, erst im Nachgang realisierend, dass dieser ebenso ein Anrecht darauf hatte seine Libertät zu genießen wie jener. Ein wenig derangiert zog er das Tablett somit aufs Neue an sich und stellte es auf den Tisch. Signifikant minder euphorisch ob der Selbsterkenntnis seiner Inkapabilität, seinem engsten Freund und zugleich am stärksten okkupierten Diener die Freiheit zu gestatten, ließ er sich endlich auf die Kline sinken und murmelte:
    "Nehmt Platz. Ich denke, dieses Angebot ist suffizient."
    Diogenes (welcher in der Tat diesen Namen trug) seinerseits war auf ein derartig inprävisibles Verhalten des Hausgastes mitnichten präpariert, weshalb noch immer in einiger Konfusion er das Schauspiel beobachtete, während der gutmütige Patrokolos bereits seinen Platz auf der Kline einnahm und jenem ermunternd riet:
    "Setz dich, Diogenes. Heute essen wir alle zusammen!"
    Hingegen exigierte eine derartige Offerte den Horizont eines griechischen Sklaven, der niemals in diesem Hause die Saturnalia auch nur in Approximationen an jene Gebräuche hatte verlebt, dem selbst die Kronia im Sommer lediglich als singulären Tag minderer Dienste waren bekannt, sodass er endlich, noch immer sichtlich konfundiert erklärte:
    "Ich... möchte lieber in der Küche essen, wenn es recht ist."
    Noch ehe der junge Flavius jenes Ansuchen abzuschlagen imstande war, schritt Patrokolos, wie gewöhnlich die Finessen serviler Befindlichkeiten besser ermessend, ein und gestattete dies in großmütigem Tone:
    "Natürlich. Nehmt euch etwas von den herrschaftlichen Speisen zur Feier des Tages!"
    Somit verblieben Manius Minor und sein Sklave, wie so oft allein im sprichwörtlichen Regen, der sehr real vernehmlich am heutigen Tage des Saturn auf die Ziegel des Hauses prasselte und gluckernd sich in der urbanen Kanalisation verlustierte.

  • Kaum waren Herr und Knecht vorangeschritten, sich an jenen bereits aufgetragenen Speisen gütlich zu tun, wobei Patrokolos genötigt war, bisweilen selbige in mundgerechte Happen zu teilen, nachdem der originär dafür prävisierte Diener ja hinauskomplementiert worden war, da trat der Hausherr in das Haus und blickte erstaunt in die Runde.
    "Wo ist Diogenes?"
    , fragte er und fixierte missbilligend den Leibsklaven seines Gastes, der, einem wahrhaften Kyrios gleich, sich auf den Klinen hatte niedergelegt.
    "Saturnus regiert!"
    , erwiderte der flavische Jüngling vergnügt, das Stirnrunzeln des nähertretenden Sulpicius nicht erfassend, welcher indessen sogleich zur Replik ansetzte:
    "Oh, tatsächlich. Hier in Alexandria begehen wir dieses Fest nicht."
    Nun erst, das acide Timbre in der Stimme seines Opponenten ponderierend, erkannte Manius Minor den Degout, den augenscheinlich sein Gastgeber gegen diese Feierlichkeiten hegte, was seinerseits die Unkenntnis des Gesinde bezüglich der Gepflogenheiten des närrischen Treibens plausibilisierte, hingegen ihn als einen die Bande hospitabler Zurückhaltung exzedierenden Invasoren in die Gepflogenheiten seiner Gaststätte entlarvte. Sichtlich konfundiert formulierte er so nach einigem betretenen Schweigen den Versuch einer Defension, um die cornutische Ungunst zu zerstreuen:
    "Mir schien, jedweder römischer Haushalt pflegt dieses Fest auch in der Fremde zu zelebrieren. Verzeih, Sulpicius."

  • "Ich hatte niemals sehr viel für diesen Humbug übrig."
    , äußerte Cornutus positionierte sich mit verhaltenem Ächzen auf der freien Kline.
    "Holt also Diogenes zurück und lasst ihn auftragen. Und spart euch Appetit für heute Abend auf, da empfange ich Gäste."
    Die Miene des jungen Flavius entglitt gänzlich, als so schroff sein Ansinnen, ja sein überaus legitimer Wunsch nach einem Hauch von Heimat ward abgewiesen. Schließlich kam ihm als rettender Ast in der anwogenden Flut des Alltags zumindest die Pflicht eines jeden Römers zur Pietas in den Sinn, sodass er sich erkundigte:
    "Aber das Saturnalienopfer wird doch zweifelsohne zumindest vollzogen werden?"
    Sulpicius präsentierte hingegen lediglich eine achtlose Handbewegung.
    "Wenn es dir ein Bedürfnis ist, steht dir mein Hausaltar offen. Ich empfinde keine Verbindung zu Saturnus, die eines Opfers bedürfte."
    Einen Augenschlag betrachtete der Jüngling noch seinen Gastgeber in der Hoffnung, jener würde sein Verdikt nochmals revidieren, ja selbiges womöglich als Saturnalienstreich entlarven und sich der Festivität anschließen, doch ereignete sich nichts dergleichen, sodass der junge Flavius endlich desillusioniert seinen Pileus ergriff und selbigen vom Haupte zog.
    "Was ist nun mit dem Essen? Hole Diogenes zurück!"
    , befahl Cornutus schließlich mit einiger Unrast. Patrokolos, der ebenso wie sein Herr zur Einsicht war gelangt, erhob sich rasch und ssnkte das Haupt.
    "Ja, Domine."
    Mit dieyen Worten entschwand, den Pileus noch immer aufgezogen, der Sklave aus dem Triclinium und zugleich dem Blicke seines Herrn, dessen Appetenz weiter auf der Tür verharrte, bis Diogenes dortig mit einem weiteren Tableau voll kleiner Köstlichkeiten erschien. Patrokolos indessen zog es vor, bis zum Abschluss des Mahles nicht mehr in Erscheinung zu treten.

  • Manius Flavius Gracchus Minor, Domus Sulpicia, Polis Alexandreia, Oikiai tes Alexandreias
    Provincia Alexandria et Aegyptus


    Mein Sohn,


    nur allzu gerne würde ich dir noch einmal erfreuliche Neuigkeiten berichten aus deiner Heimat, doch muss ich dir deplorablerweise mitteilen, dass deine Schwester in das Elysium übergetreten ist. Hier wie dort in der Ferne deines Aufenthaltes bleibt nicht mehr als ihrer Iuno ein Opfer zu bringen, auf dass sie Frieden finden mag.


    Mögen die Götter über dich wachen und dich beschirmen!



  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Er stapfte durch dichten Nebel, dem Espenlaube gleich zitternd und fröstelnd, da doch seine Degout evozierende Tunica mitnichten war geeignet, ihn vor der abscheulichen Kälte zu bewahren, obschon ihr widriger Odeur durch den süßlichen Duft des Todes wurde übertüncht, welcher der der Fracht jenes Karren entströmte, den er unter Ächzen bewegte, während zuvorderst des Gefährtes sein Vater dem Libitinarius die Lampe hielt. Das morbide Bukett indessen evozierte in ihm eine kaum mehr zu bändigende Blümeranz, die die Misslichkeit der Lage weiters zu intensivieren geeignet war. Blickte er von der endlos behäbig dahinfließenden Straße auf, zeichnete sich vor dem trüben Himmel eine Kumulation von Leichnamen ab, von welchen ein lebloses Haupt mit ungepflegtem Barte sich ihm auf ängstigende Weise approximierte, sobald ein Unebenheit des Obens den Karren erzittern ließ.
    Schritt um Schritt nötigte er sich vorwärts, setzte all seine durch Hunger und Durst exhaustierten Kräfte ein, um den Wagen zu bewegen und zugleich nicht selbst über einen losen Stein des Pflasters zu seinen Füßen zu stürzen.


    Die Ermattung seines Nackens nötigte ihn endlich doch, aufzublicken, woraufhin ihn die toten Augen des Bärtigen seinen Blick erwiderten. Mühte er sich, die schauerliche Inspektion zu ignorieren, gesellte sich zu der tempestatischen, äußeren Kälte eine innere Kälte des Grauens.
    "Bleib stehen, wir sind da!"
    , befahlen endlich die gesprungenen Lippen und gleich dem Spruch eines Magiers war er genötigt, inne zu halten, um furchtsam um sich zu blicken, wo aus dem Nebel Grabmonumente der großen Familien Roms sich materialisierten, direkt zu seiner Rechten jenes wohlvertraute Mausoleum der Flavii. Inprävisabel kehrte seine Erinnerung angesichts jener Szenerie zurück: Sogleich würde er des verstorbenen, zum Leben erwachten Paares ansichtig werden, sodann würden die Verblichenen aus den Gräbern um ihn sich regen, zuletzt würde seine Mutter auftreten, um ihn mit sich in den Orcus zu reißen, wo all jene Gestalten in Ewigkeit ihn würden torquieren.
    Die Perspektive jener grässlichen Vorgänge allein war geeignet, seine Furcht in Panik zu elevieren, sodass er sogleich in einem Schrei seiner Agonie Ausdruck zu verleihen genötigt fühlte:
    "Neeeiiii..."


    ~ ~ ~


    "...iiin!"
    , rief Manius Minor aus und schreckte hoch. Doch keineswegs kalmierte die Erkenntnis, einem Traume entflohen zu sein, seine Panik, denn mitnichten fand er sich in der ihm wohlvertrauten Liegestatt seines Cubiculums der Villa Flavia Felix wieder, sondern in einem infamiliären Bett, in einem inidentifikablen Raume! Übermannt von seinen Emotionen stieß er somit die Decke vom Leib und strampelte in Abscheu um sich.
    "Domine! Domine! Beruhige dich!"
    , drang endlich ein vertrauter Reiz an sein Ohr, der ob seiner Zuneigung zu dessen Emittenten, seinem geliebten Patrokolos, ihn inne halten und um Klarifizierung flehen ließ:
    "Patrokolos, wo sind wir?!"
    "Wir sind in Alexandria, im Hause des Sulpicius! Beruhige dich, Domine!"
    , replizierte die kalmierende Stimme und aktivierte damit den Sensus Realitatis des jungen Flavius, dem gleich der fatalen Einsicht inmitten seines Traumes schlagartig seine exilbedingte Situiertheit wurde bewusst:
    "Die Träume sind zurück!"

  • Die Abscheu gegen die neuerlich ihn torquierenden Träume drückten die Verfasstheit des jungen Flavius an jenem Morgen zutiefst, weshalb er bereits zum Ientaculum durch den übermäßigen Konsum von Honigkuchen, welche er mit bleizuckergesüßtem Wein hinabspülte, darüber hinwegzutrösten sich mühte, ehe er endlich voller Trübsinn den Weg ins Museion antrat, nachdem Patrokolos ihn hatte persuadiert, sein Leiden durch die Zerstreuung während seiner Studien zu diminuieren.


    In der Tat waren die nokturnalen Qualen ihm entfallen, als er am frühen Nachmittag in die Domus Sulpicia retournierte und fröhlich mit seinem Diener eine amüsante Begebenheit während der Lektion des Platonikers Strabon beschwatzend durch die Pforte schritt, welche Diogenes ihm hatte geöffnet, wobei er in gewohnter Beflissenheit berichtete:
    "Kyrie, du hast einen Brief aus Rom erhalten. Von deinem Vater!"
    Diese Nennung seines Genitoren bereits war indessen geeignet, die unbefangene Heiterkeit des jungen Flavius zu trüben, da sogleich Remineszenzen an seinen Traum erstanden, da selbiger ob der seit seiner Ankunft in Alexandreia bestehenden Verschonung vor jenen Heimsuchungen mit dem düsteren Rom aufs Engste war assoziiert. Dennoch ahnte er selbstredend nicht, welch grässliche Novität selbige Notiz ihm würde eröffnen, weshalb sein Gemüt zwar gedämpft, sein Vorwitz hingegen ungetrübt verweilte und er nach wenigem Zögern befahl:
    "Hole ihn sogleich hervor!"
    Ohne eine nähere Inspektion des Siegels erbrach der Jüngling sodann die Rolle, welche der griechische Sklave von einem Tischlein hinter der Pforte hervorholte, inspizierte kurz deren überaus knappen Inhalt und reichte sie sodann an Patrokolos zur Lektüre, welche ihm ja deplorablerweise war verwehrt, weiter.
    "Es scheint nur eine knappe Notiz. Worum handelt es sich?"
    , annotierte er diesem, da die augenscheinliche Kürze des Schreibens seine Indiskretion nur intensivierte, wo es doch nicht um einen gewöhnlichen Rapport über die Vorgänge innnerhalb der Familia Flavia Romae, sondern zweifelsohne um eine schlichte Information sich handelte, die keinerlei Kontextualisierung bedurfte, was vermuten ließ, dass es ein politisches oder gesellschaftliches Ereignis betraf, dessen Bedeutung schlicht evident war. Einen Augenblick erwog er die Potentialität, dass seine Tante Domitilla ihrem neuen Gatten womöglich einen Erben geschenkt habe, wurde sodann gewahr, dass es sich ebenso um einen Halbbruder seiner selbst mochte handeln. Jener Schrecken indessen verflog jedoch sogleich, da sein Manius Maior ihn zweifelsohne bereits über die Gravidität der Aurelia hätte informiert, weshalb er ohne konkrete Ahnungen der Rezitation lauschte, während er zugleich sich seines Himation entledigte:
    " Mein Sohn, nur allzu gerne würde ich dir noch einmal erfreuliche Neuigkeiten-"
    , begann Patrokolos ganz unbefangen, stoppte dann jedoch und riss die Augen auf, was selbstredend Manius Minor verborgen blieb, sodass der Jüngling nicht recht imstande war, jenes Stocken zu interpretieren und irritiert forderte:
    "Lies weiter!"
    Vernehmlich sog der Sklave die kühle Luft der Empfangshalle ein und aus, ehe er mit nunmehr belegter, ja flehentlicher Stimme replizierte:
    "Du solltest dich setzen, Domine."
    Die Weise jener Aussprache genügte, um schlimmste Befürchtungen in dem jungen Flavius zu erwecken, denn obschon Patrokolos stets war bemüht, seinen Herrn vor allen Widrigkeiten des Lebens, begonnen bei einem losen Stein auf dem Pflaster bis hin zu Kalamitäten beim Philosophen-Studium, zu bewahren, so ließ doch ein derartiges Verhalten Gravierendes erwarten. Dessenungeachtet verspürte er eine irrestistible Unrast, den Inhalt jenes suspekten Schreibens zu erfahren, sodass er keinesfalls imstande sich sah, das Lauschen jener Nachricht auf einen ruhigen Moment in trauter Zweisamkeit des Cubiculum, wo er, gleichsam in die Watte der Vertrautheit gepackt, am schonendsten mit ihrer Verarbeitung mochte beginnen, zu prokrastinieren und seine Ordre repetierte:
    "Lies weiter!"
    Mit zitternder Stimme, die höchste Pein kommunizierte, setzte sein Diener daraufhin dem Schicksale sich ergebend erneut an und begann zu lesen:
    "nur allzu gerne würde ich dir noch einmal erfreuliche Neuigkeiten berichten aus deiner Heimat, doch muss ich dir deplorablerweise mitteilen, dass deine Schwester-"
    Neuerlich stockten Patrokolos' Worte und er schluckte, was dem jungen Flavius Raum gab, den Fortgang der Nachricht zu antizipieren, während die Lippen seines Dieners jene schreckliche Realität infallibel Wort für Wort konfirmierten:
    "-in das Elysium übergetreten ist. Hier wie dort in der Ferne deines Aufenthaltes bleibt nicht mehr als ihrer Iuno ein Opfer zu bringen, auf dass sie Frieden finden mag."
    Manius Minor erstarrte. Kälte legte sich um sein kleines Herz inmitten des adipösen Leibes. Flamma war tot! Sein Geist mochte reflexhaft sich mühen, jene grässliche Novität als Irrtum oder sinistre Desinformation infrage zu stellen, doch war dem Jüngling intuitiv wohlbewusst, dass sein Vater ihm derartiges trotz aller Zwietracht, in welcher sie voneinander waren geschieden, nimmermehr hätte zugemutet, wäre es nicht die deplorable, beweinenswerte Wahrheit. Flamma war tot.
    "Mögen die Götter über dich wachen und dich beschirmen! Manius Flavius Gracchus."
    Als sein eigener Name war gefallen, blickte der junge Flavius, der ganzen Gravität und Erschröcklichkeit jener Hiobsbotschaft so lange als möglich ausweichend und sich daher auf reale, dem Leben verhaftete Fragen klammernd, fragend zu seinem Diener:
    "Nichts weiter?"
    Patrokolos hatte den Brief bereits sinken gelassen und trat auf ihn zu, schien einen Augenblick zu erwägen, ob er seinen Herrn zum Troste herzen sollte, doch da dieser die Initiative nicht ergriff, verharrte er endlich unschlüssig und replizierte:
    "Nichts weiter. Das ist der gesamte Brief."
    Vor dem mentalen Auge Manius Minors materialisierte sich mit einem Male jene Kälte, die in den Fluchtträumen ihn stets erfüllte, glaubte er den toten Blick des Bärtigen, die grässlichen Fratzen des dahingerafften Paares im Rücken, doch ergriff er jenen rettenden Strohhalm der Distraktion, jenen unerhörten, doch inkomparabel mit dem Horror des Todes seiner Schwester zu ponderierenden Umstand, dass sein Vater ihm eine derartige Nachricht über ihr Ableben ließ zukommen, sodass er in einiger Empörung rief:
    "Nichts weiter? Kein warum? Kein wo? Kein wie?"
    Gerechter Zorn, ja Hass blitzte auf in den Augen Manius Minors und empört reckte er die Faust zum Himmel, doch dann obsiegte der Schmerz des Eigentlichen, jene schlichte Einsicht des Verscheidens seiner Schwester, independent von den konkreten Umständen, ob sie einer Krankheit oder einem Unfall oder einen Fluch der Götter mochte zum Opfer gefallen sein, indifferent, ob sie in Rom, in Baiae oder den Albaner Bergen das Zeitliche mochte gesegnet haben. Flamma war tot.
    Jener Schmerz fuhr ihm in die Glieder, krümmte ihn, raubte ihm den Atem und entlud sich endlich in einem leisen, einem geprügelten Köter gleichen Winseln, während zugleich sein Blick sich noch weiter denn gewöhnlich durch bittere Tränen trübte.
    Nun endlich fasste Patrokolos sich ein Herz, trat heran und umschlang seinen Herrn mit den Armen, als vermochte er ihn mit jenem hilflosen Gestus vor der grausigen Welt zu beschirmen.

  • Wenige Zeit später fand sich der junge Flavius doch in seinem vertrauten Schlupfwinkel, dem Cubiculum im Obergeschoss des Hauses, zusammengekauert und verkrochen unter einer Decke wieder, um sich vor dem Schmerz zu verbergen, der doch jede physische Barriere leichtlich durchdrang und in immer neuen Schüben in seinem Geiste eine derartige Konfusion evozierte, dass nach seinem Abklingen lediglich Desperation als einzige Emotion in ihm verblieb: Flamma, seine geliebte Schwester war verschieden! Niemals wieder würde er ihre Anmut von Ferne zu bewundern imstande sein! Niemals seine Unterredungen mit ihr vollenden können! Und niemals würde er sie ins Vertrauen ziehen und mit ihr eine Konspiration gegen ihren schwächlichen Vater schmieden, um trotz seiner Exilierung und ihrer femininen Schwäche zumindest ihrem Bruder Titus ein adäquates Schicksal zu ermöglichen. Insonderheit jener finale Gedanke verharrte schließlich in seinem mäandernden Geiste und vollzog dabei eine Metamorphose zur autodestruktiven Akkusation seiner selbst, da letztlich er selbst es war, der beim Schutze seiner Geschwister sich als Versager hatte erwiesen.
    "Es ist meine Schuld, Patrokolos."
    , klagte er somit dem inzwischen schweigend vor seinem Bette ausgestreckten Diener, der zum innumerabelsten Male an diesem Tage sich mühte, seinen Herrn zu kalmieren:
    "Unsinn, Domine. Sie ist hunderte Meilen entfernt, vermutlich fiel sie einem hässlichen Fieber oder einem unglücklichen Unfall zum Opfer!"
    "Und doch ist es meine Schuld! Ich hätte mich dem Exil meines Vaters nicht beugen dürfen! Ich hätte meine Geschwister niemals im Stich lassen dürfen! Ich bin ein ebensolcher Feigling wie mein Vater!"
    Jene Einsicht, dem paternalen Dämonen niemals entronnen zu sein, traf Manius Minor neuerlich wie ein Peitschenhieb und neue Tränen füllten seine bereits rötlich verschwollenen Augen.

  • Die Analogie seines eigenen Verhaltens zu dem seines Vaters klarifizierte sich Manius Minor allzu deutlich: Gleich Manius Maior, welcher seinen Sohn in Mantua hatte zurückgelassen, um sein Heil im Verborgenen zu suchen, ohne das Schicksal seines Sprösslings zu beachten, war er selbst nach Alexandreia aufgebrochen und hatte seine Geschwister achtlos der Gefährdung durch ihre Stiefmutter ausgesetzt. Gleich jenem hatte auch er sich letztlich lediglich seinen eigenen, gänzlich privaten Ängsten gebeugt und jeden Widerstand ungeprobt lassen erlahmen, als sein ihm erdachtes Schicksal war verkündet gewesen. Und gleich dem Falle seines Vaters erwies auch seine Divergenz zwischen hochtrabenden Vorsätzen, Bruder und Schwester löwengleich zu defendieren, und jenem jämmerlichen Zurückweichen seinen prätendierten Mut, seine Prinzipien und sein vermeintlich altruistisches Sinnen als Schall und Rauch bar jedweder Substanz.
    Er war seines Vaters Sohn, zweifelsohne. Eine Flavius wie er. Ein Gracchus wie er. Und ein Feigling wie er.
    Der massige Leib des Jünglings erbebte unter einem neuen Schwall jener dolorösen Einsicht.
    "Unsinn, Domine. Du hättest sie sicherlich nicht retten können! Und wem hätte es genutzt, wenn du in offenen Streit mit deinem Vater getreten wärst? Er hätte dich fortgeschickt, ob du gewollt hättest oder nicht! Das sagtest du doch selbst!"
    , mühte der Sklave sich aufs Neue, die fortschreitende Autodestruktion des jungen Flavius zu hindern, doch wieder wehrte selbiger jede Option der Defension seiner selbst prompt ab:
    "Mein Vater ist ein Feigling wie ich! Es wäre minimal zu versuchen gewesen!"
    Obschon Patrokolos sich stets eifrigst mühte, innerhalb der intergenerationalen Zwistigkeiten seines jungen Herrn keine Stellung zu beziehen, wagte er nun doch einen Vorstoß in dessen zuweilen ihm verquer anmutende Logik, unter deren Prätext einst auch jene Defixio gegen Prisca war platziert worden:
    "Vergiss nicht deine Stiefmutter! Du sagtest selbst, er sei ihrem Einfluss völlig erlegen! Was wäre hier zu gewinnen gewesen?"
    Die familiare Titulatur der aurelischen Natter ihrerseits vermochte kaum, den Jüngling zu beschwichtigen, sondern vielmehr erweckte es zu seiner Trauer noch Zorn über jenen Urgrund der gesamten Misere seines Hauses. Sie war es gewesen, die seinen Vater dessen Sprösslingen durch ihr Eindringen hatte entfremdet, zweifelsohne hatte auch sie das Exil des flavischen Stammhalters entschieden und womöglich, ja womöglich gar sich sodann dem nächsten Rivalen ihrer eigenen Brut zugewandt! Welch grässlicher Verdacht! Und doch mochte dies erklären, warum sein Vater in derart knappen Worten einen derart deplorablen Todesfall hatte kommentiert, warum weder Ursachen, noch Umstände jenes Dahinscheidens waren thematisiert worden! Daraus indessen war zu schließen, dass folgend nun der kleine Titus in höchster Gefahr schwebte!
    Mit einem Male fiel jedes Selbstmitleid und sämtliche Trauer von Manius Minor ab. Mochte er in Flammas Fall miserabel versagt haben, so war es just ob der nunmehrigen Einsicht seines Fehls die höchste Pflicht, sämtliche Mittel zu aktivieren, um seinen jüngsten Bruder den Klauen der Aurelia zu entreißen!
    "Patrokolos, welch wahre Worte! Aurelia ist der Lemur, welcher unsere Familie heimsucht! Sie hat mich vertrieben, hat Flamma gemeuchelt und wird selbiges nun mit Titus versuchen! Wir müssen ihn retten!"
    Hastig setzte der junge Flavius sich auf und stieß die lästigen Decken und Kissen von sich.
    "Wir müssen unverzüglich nach Rom zurückkehren! Wir müssen Titus entführen und in Sicherheit bringen!"
    Patrokolos fixierte seinen Herrn, als sei dieser nunmehr gänzlich der Agonie verfallen (was dessen Hirngespinste ja in der Tat suggerierten), sodass er einige Augenblicke um Worte hatte zu ringen, ehe er erklärte:
    "Domine, welch ein Unsinn! Niemals hätte Aurelia... niemals hätte dein Vater es zugelassen, dass seine einzige Tochter getötet wird! Bedenke doch, welchen Irrsinn du sprichst!"
    "Er wurde von ihr behext! Sie muss mit Giftmischern und Magoi paktieren, die ihr einen Liebestrank brauten. Sie bewahrten sie zweifelsohne auch vor unserer Defixio!"
    Als litten nicht nur die Augen seines Leibes, sondern auch jene seines Geistes an unscharfem Blick, welcher nunmehr sich klärte, fügten sich all jene losen Fäden seiner misslichen Lage zu einem konformen Gespinst, deren Knoten Mächte und Künste bildeten, denen ein aufgeklärter, philosophisch geschulter Aristokrat für gewöhnlich kaum Glauben oder lediglich Beachtung schenkte, welche aber als Motive durch zahllose Komödien und Epen vagierten und somit in der emotionalen Konfusion Manius Minors als nützliche Bausteine sich erboten.
    Patrokolos indessen schüttelte nur den Kopf ob so viel Verirrung, sah sich jedoch nicht imstande, seinem Herren, wie es womöglich die weiseste Option wäre gewesen, einige Ohrfeigen zu verabreichen, um ihm den Kopf zurecht zu rücken. Stattdessen hakte er an jener Stelle ein, wo Vernunft und Trugspiel mochten zusammenfinden und ein gemeinsamer Grund bestand, auf welchem der junge Flavius womöglich war zu bremsen:
    "Domine, eine Reise nach Italia nun im Winter ist viel zu gefährlich! Was, wenn du Schiffbruch erlittest? Und wohin wolltest du mit Titus fliehen? Willst du Aurelia Prisca in die Hände spielen, indem du Titus selbst aus dem Weg räumst?"
    In der Tat drangen all jene legitimen Fragen zu dem jungen Flavius vor, stießen jedoch in einen Raum argumentativer Leere, sodass ratlos er erwiderte:
    "Was sonst sollte ich tun?"
    Der Sklave seufzte.
    "Zuerst solltest du eine Nacht über die Sache schlafen. Kommt Zeit, kommt Rat."
    Mitnichten war dieser Rat allerdings der präsumierten Furcht, Titus schwebe in unmittelbarer Gefahr, in irgend einer Weise adäquat, sodass Manius Minor jene Äußerung unkommentiert verpuffen ließ und stattdessen zu spintisieren begann, wer, wenn nicht er, als ein qualifizierter Wächter mochte geeignet sein, seinen Bruder in der Höhle des Löwen vor der aurelischen Viper zu beschirmen. Einem Sklave gebrach es der Potenz, der nunmehrigen Matrone die Stirn zu bieten. Sein Vater stand ja ohnehin unter ihrem Bann. Folglich verblieb nur einer seiner Anverwandten, welcher ins Vertrauen war zu ziehen, wobei Onkel Furianus war zu exkludieren, weil er prinzipiell die Position des Pater Familias gegen seine Zöglinge würde defendieren, Tante Domitilla als nicht mehr in der Villa Flavia Felix residierend ebenfalls ausfiel, Iullus hingegen ob seiner in die Naivität reichenden Innozenz ebenfalls nicht als Träger einer derartigen Responsabilität war zu gebrauchen, obschon er zweifelsohne am leichtesten zu persuadieren wäre gewesen. Zuletzt verblieb somit Scato, dessen Loyalität zur Familie indubitabel, dessen Stärke und Autonomie hingegen durch die ersten Schritte auf dem Cursus Honorum gleichsam waren erwiesen.
    "Wir müssen Scato einen Brief schreiben! Oder besser drei!"
    , entschied der junge Flavius somit nach einigem Schweigen. Patrokolos, welcher gehofft hatte, sein Herr sei während jener Stille zur Ruhe gelangt, entgleisten die Züge. Dennoch erhob er sich zaghaft und holte Papyrus, Tinte und Stylus hervor.

  • Es dämmerte bereits und die häusliche Cena war ohne seine Partizipation vonstatten gegangen (was Sulpicius ob der deplorablen Novitäten aus der Urbs mit Verständnis hatte gewährt), als endlich eine Reihe von Briefen in sauberer Abschrift dem jungen Flavius zur Signatur vorlagen. Mehrfach war Patrokolos genötigt worden, diese oder jene Sentenz zu streichen, oder gar gänzlich von neuem zu beginnen, doch nun schien sein Herr saturiert, sodass endlich er zum letzten Male die Postillen zu verlesen hatte:

    M' Flavius Gracchus, Villa Flavia Felix, Roma


    M' patrem suo s.d.
    Ich bin erschüttert über den imprävisiblen Verlust meiner geliebten Schwester und es schmerzt mich zutiefst, dass mir ob meines Aufenthaltes im fernen Aegyptus die Partizipation an ihrer Bestattung verwehrt ist. Weder die Philosophie des Museion, noch die Ergötzlichkeiten seiner übrigen Disziplinen vermögen mich über diesen Schmerz hinweg zu trösten.


    Um ihn besser zu verwinden imstande zu sein, bitte ich dich inständig, mir mehr über die Umstände ihres Ablebens und ihre letzten Tage auf Erden zu berichten.


    Ebenso bitte ich dich, ihr Andenken zu ehren und umso größere Acht auf Titus, dein verbliebenes Fleisch und Blut und meinen geliebten Bruder zu geben, aufdass ihm nicht ebenfalls etwas Erschröckliches möge zustoßen.


    Vide ut valeas





    "Glaubst du wirklich, ich sollte die Appetenz meines Vaters explizit auf Titus lenken?"
    , fragte der junge Flavius nach dem ersten Briefe in einiger Insekurität. Mehrfach hatten sie jene finale Rubrik gestrichen, dann wieder ergänzt, um sie aufs Neue zu extinguieren und so fort, da Manius Minor nicht imstande sich fühlte zu ästimieren, ob Manius Maior als Kollaborateur der Aurelia von deren sinistren Plänen Kenntnis besaß und durch derartige Annotationen gar auf den armen Titus würde gelenkt werden, oder jener, konstringiert im Taumel ihrer Hexereien, schlicht keine Notiz von ihrem Sinnen nahm, womit ein Appell an seine paternale Vigilanzpflicht es seiner Stiefmutter mochte erschwert werden, unbemerkt ihre Pläne zu vollenden.
    Indessen hatten er und Patrokolos bereits beide Eventualitäten mehrfach disputiert, weshalb letzterer überaus ennuyiert vermeldete:
    "Wie wir bereits feststellten, ist dein Vater entweder eingeweiht, sodass die Ermordung deines Bruders ohnehin Teil ihres Planes ist, oder er weiß nichts und deine Mahnung macht ihn wachsamer. Wobei in ersterem Falle die Pläne der beiden womöglich sogar einen Dämpfer erhalten, da sie daraus erkennen könnten, dass du ihnen auf die Schliche gekommen bist."
    Nochmalig runzelte der Jüngling die Stirn, dann nickte er bedächtig.
    "Nun gut. Dann die folgende Depesche!"
    Patrokolos begann zu lesen:

    M' Flavius Scato, Villa Flavia Felix, Roma - ad manus proprias*


    M' Minor Scatoni verito suo s.p.d.
    Ich schreibe dir aus einem Motiv, welches dich zweifelsohne irritieren und in Konfusion wird stürzen, doch ist es mir unumgänglich, dich in jene Materie einzuweihen, um größten Schaden von der Familia Flavia Romae im Allgemeinen und der Familia Flavia Graccha im Besonderen abzuwenden. Obschon manches der folgenden Zeilen womöglich erstlich deine Ablehnung wird evozieren oder gar dir als substanzloses Hirngespinst mag erscheinen, bitte ich dich inständig, selbige sorgsam zu bedenken und ihnen um meinetwillen, der ich zutiefst in jene Misere involviert bin und somit über Einsichten verfüge, die einem Fernstehenden verborgen bleiben, Glauben zu schenken.


    Alles dreht sich um meine Stiefmutter Aurelia Prisca, die seit einiger Zeit zu unserer Familia zählt. Obschon sie, wie zweifelsohne bereits offenbar geworden sein dürfte, von fragwürdigem Charakter und maßlosem Hochmut zerfressen, gelang es ihr, meinen Vater in eine fatale Verbindung zu locken, die nicht nur seiner eigenen Person, sondern seiner gesamten Familie zum äußersten Schaden gereicht:
    Du wirst dich erinnern, wie mein Vater noch vor der Eheschließung coram familiae mir befahl, Rom den Rücken zu kehren unter dem Vorwande, mich vor Umstürzen im Zuge des Thronwechsels zu defendieren, obschon mein Aufbruch erst nach Öffnung der Tore und damit einer Beendigung des Ausnahmezustandes wäre zu bewerkstelligen gewesen, sodann unter der dubitablen Annahme, meine Studien würden im fernen Alexandria besser gedeihen denn im Caput Mundi, wo Redekunst und Rechtswissenschaft statt brotloser Künste und Philosophie zu Kronen des Bildungswesens gelangten. Warum er indessen darauf brannte, mich aus der Stadt verbannt zu sehen, war darin begründet, dass wenig zuvor ich ihm, bewegt von Liebe zum Vater, freiheraus meine Missbilligung seiner Eheschließung mit jener gierigen Person aus minorischem Geschlechte, welche zweifelsohne einzig von dem Ehrgeize ist getrieben, das flavische Vermögen durch geschickte Winkelzüge in ihre Obhut zu bringen, ins Antlitz sagte. Da diese berechtigte Kritik eines dem familiären Erbe verpflichteten Sohnes das Ohr der Aurelia erreichte, mühte sie sich, meiner, der sie zur rechten Zeit hatte offenbart, ledig zu werden und nötigte meinen Vater, mich zu enterben und zur Cachierung jener Ungeheuerlichkeit aus Rom zu exilieren.
    Nachdem die Hochzeit dergestalt undisturbiert war vollzogen, schritt sie, wie ich unlängst musste erfahren, sogleich ans Werk, die legitimen Erben des Vermögens ihres Gatten Schritt für Schritt zu neutralisieren, wobei der erste Streich durch meine Enterbung bereits war vollzogen, sodass nunmehr meine geliebte Schwester das Los ereilte, unbemerkt beseitigt zu werden. Obschon mir unbekannt ist, wie jener schreckliche Kindermord wurde bewerkstelligt, bin ich der untrüglichen Ansicht, dass es sich derart hat zugetragen, was zu beweisen höchst vonnöten ist.


    Dies ist es auch, warum ich dich mit derart grässlichen Verdachtsmomenten zu behelligen habe, da es mir aus der Ferne versagt ist, jenes schändliche Verbrechen zu examinieren und Beweise für die Schuld meiner Stiefmutter zu sammeln. Ich bitte dich also inständig, in Diskretion Nachforschungen über das Ableben meiner Schwester anzustellen und mir eifrig zu berichten, respektive bei adäquater Beweislast eine Klage gegen sie zu erheben. Wie ich bis hierher vernehmen durfte, brilliertest du ja zuletzt als Tresvir Capitalis und bist somit mit derartigen Obliegenheiten ohne Zweifel bestens vertraut.


    Von weitaus größerer Bedeutung indessen ist, dass mein verbliebener, unschuldiger Bruder Titus so gut als möglich vor den Nachstellungen meiner Schwiegermutter wird bewahrt, weshalb ich dich noch mehr anflehe, für diese Erfordernis Sorge zu tragen, indem du dich beständig über seinen Verbleib erkundigst und zuwege bringst, was immer für die Gewährleistung seiner Sekurität du für adäquat erachtest!
    Selbst wenn du meine berechtigten Inkriminierungen für übertrieben erachten solltest, so bitte ich dich dennoch, um meinetwillen zumindest letzterem Ansuchen nachzukommen, da doch eine intensiviertes Interesse an deinem Vetter weder dir, noch ihm zum Nachteile wird gereichen, wie immer die Faktenlage sich mag gestalten.


    Ich gebe das Schicksal meiner Stirps, meine eigene Zukunft und das Leben meines geliebten Bruders, des letzten Garanten für das Überdauern der Flavia Graccha, in deine Hand, da ich untrüglich um deine Treue zu unserer Gens und zu unseren imperialen Ahnen, dein Pflichtbewusstsein und deine Umsicht weiß, wie du dir im Gegenzug meiner ewigen Dankbarkeit bis ans Ende meiner Tage darfst versichert sein.


    Mögen unsere Ahnen und sämtliche Unsterblichen über dich wachen!




    Sim-Off:

    * Persönlich zuzustellen


    "Bittesehr, in dreifacher Ausführung!"
    , verkündete Patrokolos endlich und offerierte Manius Minor drei similäre Papyri zur dreifachen Versendung des Schreibens über mehrere Boten, sämtliche bedeckt mit der gleichmäßigen Schrift des Sklaven und Platz für sämtliche Beglaubigungsmittel, die der junge Flavius aufzubieten imstande war.
    Dieser nickte befriedigt, bot dann hingegen doch aufs Neue eine insekure Miene, als er fragte:
    "Sollte ich nicht besser ihre Hexereien erwähnen, mit welchen sie unserer Defixio entging?"
    Patrokolos hüstelte, um eine spontane Neigung zynischen Auflachens zu cachieren.
    "Ich denke nicht, dass das Geständnis eines Mordversuches deiner Schwiegermutter sehr zuträglich wäre, falls Scato deinen Anschuldigungen keinen Glauben schenkt. Oder auch, wenn er dir Glauben schenkt. Zumal es diverse Gründe geben mag, warum ein derartiger Zauber seine Wirkung verfehlt!"
    Noch immer erschien es Manius Minor höchst mirakulös, dass seine Verwünschung so augenscheinlich effektlos hatte verpuffen können, da doch sämtliche Konditionen, die die Galli auf dem Palatin hatten geboten, waren erfüllt worden, ja selbst die Platzierung der Fluchtafel im aurelischen Atrium ein Optimum an räumlicher Nähe hatte erreicht, womit unfehlbar sie zum Erfolge hätte führen müssen. Doch die flavische Furchtsamkeit beugte sich der Einsicht des Sklaven, zumal Carmina Mala bereits in den ältesten Rechten der Quiriten mit dem Tode waren bestraft, der Muttermord dazu, welcher hier womöglich vorlag, ihm ein gräuliches Ende würde bereiten, so dieses Geständnis an die Öffentlichkeit gelangte.
    "Nun, dann belassen wir es hierbei."
    Eine Weile der Stille breitete sich zwischen Diener und Herr, bis ersterer einen finalen, desperaten Versuch wagte, letzteren vor der Schmach eines Offenbarwerdens seiner irrigen Phantasmen zu bewahren:
    "Bist du sicher, dass du Scato diese... nennen wir sie weitgehenden Vermutungen mitteilen willst, noch ehe du Näheres über Flammas Todesumstände erfahren hast? Vielleicht erweisen sie sich als völlig gegenstandslos, weil ihr... sagen wir... sie einer untrüglich natürlichen Todesursache erlag?"
    Beherzt riss der junge Flavius ihm den Stylus aus der Hand und tauchte ihn mit ein wenig zu großem Verve in das Tintenfass auf seinem Beistelltisch, sodass pechschwarze Spritzer sich auf der bronzenen Oberfläche und seinen Fingern verteilten.
    "Dies ist keine Option! Die Zeit drängt ohnehin! Lasst uns beten, dass Titus jener Natter nicht bereits zum Opfer gefallen ist, wenn diese Briefe Rom erreichen!"
    Ungeachtet der Kontamination durch seine stürmische Tintenaufnahme ergriff der Jüngling nun die dargebotenen Schreiben und setzte sein Signet an jener Stelle, wo er es in seiner Fehlsicht für adäquat erachtete, ohne wie gewöhnlich sich jene durch Patrokolos explizit anzeigen zu lassen.
    "Das Schreiben an meinen Vater kannst du unterzeichnen! Und versiegle alle Briefe mit höchster Sorgfalt!"
    Mit größter, dem Antlitz des Sklaven leicht zu entnehmender Dissatisfaktion nahm Patrokolos die Depeschen an sich und vollzog den Befehl des Herrn. Die Konsequenzen würde letztlich dieser zu tragen haben.

  • Mochte Sulpicius augenscheinlich kein Freund des quiritischen Festkalenders sein, so nannte er doch ein Lararium sein Eigen, wo auf einer Nische hinter dem eher schlichten, hellenischen Altarsockel die Statuetten zweier tänzelnder Jünglinge, augenscheinlich die Personifikationen der sulpicischen Laren, sowie ein weiteres Figürlein aus poliertem Silber, angetan mit einer Toga und bekrönt mit Lorbeer, die mannhafte Schaffenskraft des Hausherrn symbolisierten. Similär zum Fehlen der Hausherrin entbehrte das häusliche Heiligtum indessen einer Iuno, weswegen der junge Flavius, der heutig seiner geliebten Schwester zu gedenken gedachte, lediglich auf die Kraft seiner Imagination war verwiesen.
    Deplorablerweise erweckten die Gedanken an Totengötter in Manius Minor stets Remineszenzen an die Gespinste seiner Nachtmären, sodass er, erfüllt von Furcht, den Bärtigen, das dahingeraffte Ehepaar oder die schrecklichen Bilder jener übrigen Lemuren zu erblicken, kaum es wagte die Augen zu schließen, sobald er sich mühte das Jenseits zu kontaktieren. Nichtsdestotrotz war es vonnöten, nicht nur seiner geliebten Mutter, sondern ebenso nunmehr seine kaum minder verehrte Schwester durch gerechte Gaben zu ehren, weshalb er am Morgen ein schwarzes Zicklein hatte erworben, welches dem Urteil Patrokolos' zufolge kein Makel anhaftete, sodass es nicht lediglich als schmackhafter Braten für den Abend, sondern ebenso als gefälliges Opfer für die Unsterblichen und insonderheit die immortalen Manen seiner Anverwandten mochte dienen. Von Cornutus hatte der Jüngling sich schließlich Diogenes als weitere Assistenz erbeten, sodass sie nun zu dritt sich um den entzündeten Altar scharten, wo Flammas Flamme in ihrem Gedanken erleuchten sollte.
    Schwarz wie das Opfertier war auch die Toga, die der junge Flavius zur Repräsentation seiner Trauer hatte erworben, wobei der pragmatische Patrokolos proponiert hatte, den Stoff nach Ende der präskribierten Trauerzeit zu nutzen, um einen aristokratischen Chlamys daraus zu schneidern, womit Manius Minor auf pragmatische Weise den Gebräuchen seiner Ahnen wie der Weisung Manius Maiors gemäß angemessen ausstaffiert den Abschied von seiner Schwester konnte begehen.
    "O Manes Flaviae Flammae!"
    , intonierte er in formaler Weise sein Gebet und streute Weihrauch auf die Kohlen inmitten des Altares, ehe eine persönliche Note sich unter die Anrufung mischte:
    "Flamma, geliebte Schwester!
    Stets warst du ein heller Schein in unserer Familie, deine Schönheit und Anmut erstrahlte in ganz Rom! So kurz waren wir wieder vereint nach Jahren des Krieges und Exils, so herzlich war unser Zusammentreffen und unsere Gemeinschaft. Und just dieser düstren Tage war es, dass du nach jener allzu knapp bemessenen Zeit, Persephone gleich, ein Raub des Pluto wurdest!"

    Seine wohlpräparierten Worte rissen den Jüngling in einen Sog der Emotionen und ließen Tränen in seine fehlsichtigen Augen steigen, sodass er fahrig lateinische und hellenische Namen vermischte, ehe er, von heftigem Schmerz ergriffen, verstummte. Ein kurzes Ringen um Fassung war vonnöten, ehe er mit belegter Stimme kontinuierte:
    "Nimm... meine Gaben. Den Wein und die Kuchen, so süß wie du! Dieses Öl, das dein Feuer verzehren mag! Und diese Rose, die Pflanze der Aphrodite, der du so ähnlich warst."
    Die Komparationen und Assoziationen strömten schlicht aus seinem Munde, während hektisch Patrokolos ihm die jeweiligen Gaben reichte, sodass sie nach und nach auf den Altar zu platzieren waren. Zuletzt verblieb die Rose, deren Duft der junge Flavius andächtig einsog, ehe er sie in das rauchende Zentrum des Altares legte, wo sie, verborgen unter dem Wohlgeruch des Weihrauches, knisternd sich schwärzte.


    Dann war das exzeptionelle Hauptopfer an der Reihe, welches einem häuslichen Kulte mochte exageriert erscheinen, das ob des Schmerzes, zugleich jedoch des sinistren Anliegens Manius Minors diesem doch war recht und billig gewesen. Die Präsentation der Gabe indessen hätte wohl, wäre sie der lebenden Flamma dargeboten worden, womöglich ein gewisses Maß an Missbilligung evoziert, als der Jüngling unbedacht artikulierte:
    "Nimm auch diese Ziege, so makellos und wohlgestalt wie dein sterblicher Leib. Sie werde dein und wenn ihre Vitalia als Rauch aufsteigen und wir ihr Fleisch verzehren, mögest du ein letztes Mal unsere Tischgenossin sein."
    Eine Examination des Tieres war ob der Fehlsicht des Opferherrn in diesem Falle zu übergehen, sodass lediglich ein wenig Wein aus der Opferkanne über dem Haupte des Tierleins das Zicklein den Manen weihte.
    "Nimm an dieses Opfer, wie Mutter und all unsere Ahnen dich in den Gefilden der Seligen annehmen! Nimm an und wache über deine Brüder, die noch auf Erden wandeln! Sei ihr Beistand im Leben und der Tod deiner Mörderin Aurelia Prisca! Reiß sie hinab in die Tiefen der Unterwelt und befreie deine Familie von ihrem Fluche! Wie dieses Zicklein das Leben aushaucht, so soll auch sie ihren letzten Atemzug tun!"
    Similär zur Eidesformel beim Stein des Iuppiter verbalisierte verbalisierte der junge Flavius sein Anliegen in voller Klarität, obschon er sich zur Sicherheit der lateinischen Sprache bediente, welcher das Gesinde Sulpicius' (seines Wissens) nicht mächtig war, sodass lediglich Patrokolos die Tragweite seiner Worte mochte umreißen.
    Gar hatte Manius Minor erwogen, selbst das Opfermesser zu führen, doch war ihm der Gedanke spritzenden Blutes und das wehrlose Zappeln jenes überaus pittoresken Wesens in seinen Händen derartig abstoßend erschienen, dass letztlich er jene Obliegenheit doch Diogenes, welcher bisweilen auch in der Culina aushalf, hatte aufgetragen.
    "Töte es!"
    , befahl er daher nunmehr auf Hellenisch und Diogenes griff, das lange Messer parat, jenes sein Schicksal nicht detektierende, innocente Wesen, das dem Sklave bisherig brav an seinem Strick war gefolgt. Jämmerlich begann es zu meckern, doch die Kraft des Sklaven übertraf die allzu späte Einsicht seines gewaltsamen Todes, sodass wenige Augenschläge später der aus der Kehle des deplorablen Wesens spritzende Lebenssaft nicht nur die präparierte Schale, sondern erstlich den Boden, dann den Altar und sämtliche Beteiligten benetzte, als wolle es klarifizieren, dass das Blut der Verfluchten auf alle hiesig Anwesenden würde herabkommen, sollten die Unsterblichen ihrem Wunsche entsprechen.


    Manius Minor indessen verspürte lediglich grimmige Entschlossenheit, da jenes unschuldige Wesen selbst in seinem Sterben ihn noch allzu sehr an seiner Schwester gemahnte, die similär zu jenem zum Opfertier war geworden, welches jedoch keine gerechte Gabe der Pietas wie hier, sondern ein abscheuliches Menschenopfer der Gier, welches Götter und Menschen gleichermaßen unter ihr Verdikt stellten, darstellte.
    "Verschone deine unschuldigen Brüder und torquiere nur die, die an deinem Tode die Schuld tragen!"
    , fügte der Jüngling schließlich halblaut an, als er der Heimsuchungen nicht nur durch die Passagiere seines Fluchtwagens aus Rom, sondern ebenso durch seine arme Mutter gedachte, und formte mit seiner Rechten die manus cornuta. Die Larven plagten ihn in mehr denn suffizienter Zahl, sodass er bei aller Zuneigung doch erhoffte, vom Geist der Flamma spargiert zu bleiben.

  • Als Manius Minor nach jenem denkwürdigen Ehrentage Epikurs von Samos erwachte, registrierte er diverse vermeintliche Mutationen seines Leibes, welche aufs Höchste ihm Unrast bereiteten: Erstlich war zu konstatieren, dass augenscheinlich sein Cranium an Volumen hatte eingebüßt, respektive erwies sich selbiges als insuffizient für die Hirnmasse, welche in dessen Mitte einem eingeklemmten Gliede gleich ihn in jedem Augenblick, insonderheit jedoch bei auch nur der leisesten Regung aufs gräulichste torquierte. Hinzu trat ein obskurer Gout in seinem Munde, welcher exakt jenem entsprach, dessen Einstellung der junge Flavius sich nach dem Konsum einer jener zahllosen verschiedenen Katzen auf den Straßen der Polis vermutete, was nicht eben sich einer Übelkeit als abträglich erwies, die einem rumorenden und zugleich schlichtweg schmerzenden Magen zu entsteigen schien. Summa summarum war sein Zustand somit in adäquater Weise lediglich als hundeelend zu titulieren, weshalb sogleich sich jener Katzenjammer einstellte, welchen auch erprobtere Freunde des Weines allzu gerne anstimmten:
    "Patrokolos, mir ist... blümerant!"
    Gefangen in der Trance seines Leidens mühte er sich, die Geschehnisse, welche ihn in jene missliche hatten bugsiert, zu rekonstruieren, was erstlich mochte gut gelingen, da recht leicht er die Remineszenzen an die Festivitäten zum Geburtstag des großen Epikur erwachten, ebenso seine Bekanntschaft mit dem trunkenen Dionysios, dem freundlichen Anaximander und insonderheit dem süßlichen Wein, welchen man kontinuierlich zu genießen war genötigt gewesen, sein Befremden ob des zügellosen Verhaltens der Attendenten und endlich das behagliche Gefühl des Rausches, das in seiner aktuellen Situiertheit indessen keineswegs rekonstruabel ihm erschien, da allein der Gedanke an den rötlichen Rebensaft ihm sämtliche Willenskraft abforderte, um nicht...
    "Habe ich mich gestrig inmitten des Dankopfers für Epikur erbrochen?"
    Schlagartig kehrte jene Erinnerung in ihn zurück, wenn auch schemenhaft (respektive schemenhaft nicht lediglich in dem vertrauten visuellen Sinne, sondern ebenso im emotionalen wie grundlegend sensuellen), was sogleich ihm ein Gefühl des Ertapptseins bereitete, similär zu jenem Tage, als die aurelischen Sklaven sie vor der Villa Aurelia Priscas hatten aufgefunden, obschon diesmalig selbstredend weniger geleitet von einer letalen Furcht.
    "Domine? Was'n los?"
    , vernahm Manius Minor endlich die Stimme seines Dieners, welche indessen suggerierte, dass Patrokolos soeben erst Morpheus' Reich war entschlüpft, womit die Fragen und Klagen seines Herrn ungehört mochten verhallt sein, und ob ihrer leichten Heiserkeit bedeutete, dass auch der Sklave sich keineswegs wohlauf befand.
    Nochmalig war der Jüngling somit genötigt, das Gespräch ab ovo zu initiieren, weshalb er neuerlich ansetzte:
    "Was ist geschehen, Patrokolos? Mir ist derart übel, ich vermag kaum mich zu regen!"

  • Manius Flavius Gracchus Minor, Domus Sulpicia, Polis Alexandreia, Oikiai tes Alexandreias
    Provincia Alexandria et Aegyptus


    Mein Sohn,


    die Antezedenzien, welche zum Tode deiner Schwester führten sind deplorablerweise zu nuanciert und tragisch zugleich als dass sie in bloße Worte auf einem Pergamente zu fassen wären. Ich bedaure dies sehr, doch wir beide werden ausharren müssen bis du wieder in Rom bist, nicht nur ob der Aussprache wegen, sondern ebenfalls um diese Konstellation nivellieren zu können, um weiteren Schaden von der Familie - insbesondere der deinen - zu obstruieren. Die Vorkehrungen sind bereits getroffen, gleichwohl drängt die Zeit nicht, denn weder für dich, noch Titus besteht diese Gefahr.


    Wie gehen deine Studien voran? Ich hoffe, du konntest bereits Erfolge verzeichnen, so dass Rom deiner nicht mehr allzu lange harren muss.
    Der Senat hat mich für das nächste Amtsjahr zum Consul bestimmt. Ich wünschte, du könntest hier sein, und an meiner Seite deine ersten Schritte in der Politik zu gehen. Indes wird sich auch später noch passende Gelegenheit finden, allfällig zum Aedilat deines Vetters Scato, dann nachdem dieser seine Quaestur vorzüglich abgeschlossen hat ist es zweifelsohne nurmehr eine Frage der Zeit bis dass er in den Senat erhoben wird.


    Richte bitte auch deinem Gastgeber Grüße aus!


    Mögen die Götter dich allzeit beschirmen und über dein Wohlergehen wachen!



  • Als Manius Minor am Morgen aus seinem Delirium erwachte, verspürte er jenen inzwischen wohlvertrauten Schmerz in seinem Haupte, welcher ihn dieser Tage nicht selten torquierte, gleich einem ehernen Band, welches unterhalb seines Craniums sein Hirn malträtierte, doch durch kühlendes Nass bis zum frühen Abend würde zu vertreiben sein. Zweifelsohne wäre es weise gewesen, bereits vor dem Zubettgehen einen Becher Wasser zu konsumieren, doch wie so oft war ihm dies in trunkener Ermattung entfallen.


    Er seufzte und blickte von seinem Bett hinab, obschon sein Augenlicht nach jenen durchzechten Nächten ihm noch weitaus üblere Dienste erwies denn gewöhnlich. Es erwies sich indessen als suffizient, um den Schemen Patrokolos' zu identifizieren, der quer zu seinem Lager auf dem Boden lag gleich einem Leichnam, lediglich durch lautes Schnarchen von seinem Leben kündend. Der Jüngling schluckte mühsam jenen absonderlichen Gustus hinab, welcher sich anging, als habe er am vorigen Abend nicht lukullische Köstlichkeiten, sondern eine jener zahllosen streunenden Katzen von den Gassen Rhakotis' verspeist.
    Gedankenverloren griff er zu dem Tischchen neben seiner Liegestatt, um nach dem dort für gewöhnlich platzierten Becher zu tasten. Indessen spürte er nicht das glatte Holz der Platte, sondern eine Rolle von Pergament, die ihm keineswegs familiar erschien. Vorwitzig ergriff er das Objekt, tastete es ab und identifizierte die Haptik eines wächsernen Siegels, was implizierte, dass sie am gestrigen Abend auf dem Weg von Dionysios hierher ein Diploma für die bezechtesten aller Proxenioi Alexandreias erhalten hatten, oder einer der Sklaven hier einen Brief positioniert hatte. Obschon erstere Option ihm ein sublimes Lächeln auf die trockenen Lippen zauberte, räusperte sich der junge Flavius und befahl mit krächzender Stimme, welche ihn ihm als Gruß vom Absingen zotiger Weisen vor nicht wenigen Stunden war verblieben:
    "Patrokolos, erwache! Wir haben Post!"

  • Es bedurfte einiger Mühen, den getreuen Patrokolos seines Deliriums zu entreißen, doch final gelang es dem jungen Flavius, getrieben von einem Vorwitz, welcher die Lethargie des Leidens niederfocht, seinen Sklaven zur Erbrechung des Siegels und der Rezitation des Briefes zu bewegen.
    Indessen kühlte sich seine Unrast, als er den Autoren des Schreibens erfuhr, was durch die schwächlichen initianten Worte, die in gedrechselter und ziselierter Sprache doch lediglich die mangelnde Neigung seines Erzeugers beschrieben, ihn, wie es seinem Recht als mündigem Jüngling entspräche, über die wahren Kontexte des Todes seiner Schwester zu informieren, lediglich eine Steigerung in bodenlose Desillusion erfuhr.
    Mehr denn je glaubte der Jüngling die bittere Wahrheit zu erkennen, dass Manius Maior ihn schlichtweg hinter sich gelassen hatte, ohne auch nur jemals von seinem Reifen vom irrationalen Knaben zum studierenden Jüngling Notiz genommen zu haben, ja in Wahrheit kaum mehr Interesse an seinem Schicksal hegte, da doch die höflichen Nachfragen nicht darüber hinwegzutäuschen imstande waren, dass er, zweifelsohne getrieben vom rastlosen Ehrgeiz der aurelischen Natter, sich ausgerechnet in seiner Absenz dazu hatte aufgerafft, die Spitze des Ehrenlaufes zu erklimmen, wovor zu viele Male er war zurückgeschreckt, um ausgerechnet in jenen Tagen den Glanz des staatsmännischen Ruhmes auf sich zu laden, da nichts von ihm auf seinen Sprössling konnte abstrahlen.
    "Er bittet mich nicht einmal zurückzukehren."
    , klagte Manius Minor und ließ sich auf sein Bett zurückfallen, was neuerlich ihm pochenden Schmerz in den Schläfen bereitete. Patrokolos, ebenso torquiert vom abendlichen Konsum, seuzfte.
    "Er wird dir nicht verbieten, es zu tun. Ich kann Sulpicius bitten, ein Schiff zu-"
    "Nein, er will mich nicht zurück!"
    , fuhr der Jüngling ihm in die Parade, noch ehe der Sklave die Offerte hatte vollendet.
    "Aber er schreibt doch-"
    "Heuchlerische Floskeln, nichts weiter! Und im folgenden Satz bemüht er sich bereits, mich durch eine lächerliche Alternative zu trösten, aufdass ich besser Scato in seinem weitaus geringeren Amte assistieren mag! Distanz, Distanz, das ist alles, was er wünscht!"
    Der Schmerz in den Schläfen schien geradezu adäquat zu seiner Befindlichkeit, der Katzenjammer als Katalysator des psychischen Leides, jener grässlichen Amputation.


    "Denke an Epikur, Achilleus. Denke an deine Freunde!"
    , mühlte Patrokolos sich nach einigem tristen Schweigen endlich, eine Perspektive zu öffnen, augenscheinlich bangend, sein Herr sei aufs Neue in jene Depression verfallen, die er durch die Mühen des Rausches und der Lustbarkeiten in letzter Zeit hinter sich gelassen hatte.
    Und in der Tat war ihm Erfolg beschieden, denn mit einem Male wurde dem flavischen Jüngling gewahr, dass eben das die Seelenarznei musste sein, welche der große Philosoph so tapfer anpries, ja der Grund, warum er niemals von Familie, sondern stets von Freunden sprach, die Halt und Hilfe boten. Wer mochte ihm eine bessere Stütze sein: Die, welchen er auf Gedeih und Verderb verbunden war, an sie gefesselt als ungeliebter Appendix, dessen ledig zu werden lediglich die Last der Blenderei über Traditionen und des perfekten Scheins verbat? Oder nicht eher jene, die ihn selbst erwählt hatten, die seine Fehler gütig nachsahen, welche ihm ein Leben in Lust und Freude offerierten und deren Zuneigung auf einer Gegenseitigkeit beruhten, deren Intimität ihresgleichen suchte?
    "Wahrlich, wahrlich..."
    , murmelte der junge Flavius, die indifferente Fläche der Deckenkonstruktion betrachtend,
    "Ich sollte mich von dieser grässlichen Familie und diesem eitlen Eifern um Respekt, Ruhm und Ehre trennen! Was mag davon bleiben als Sorgen und Furcht hier und ein Häuflein Atome in der Zukunft?"
    Mühsam drehte er sich zur Seite, stets beachtend, sein Haupt nicht zu heftig zu movieren, um nicht ein neuerliches Pochen unter seiner Schädeldecke pro provozieren. Schmerz war Unlust. Es lebe die Lust!
    "Bring mir einen Becher Mulsum. Ich werde noch ein wenig ruhen."
    Mochte Manius Maior so viele Consulate bekleiden, als ihm lieb war. Was würde er gewinnen als eine machthungrige Natter zur Frau, serviler und doch neidzerfressener Honoratioren zu Gefährten, die Furcht vor dem Absturz im Nacken?
    Manius Minor würde sich den angenehmen Seiten des Lebens widmen.

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