[Mutznruum] Alriks Krankenlager

  • http://www.kulueke.net/pics/ir…a_schlafzimmer1_klein.pngIm Erdgeschoss der Villa Duccia mit Ausrichtung nach Osten lag der Mutznruum. Das kleine Zimmer hatte hell gekalkte Wände und war mit einem gemütlichen Teppich ausgelegt. Eine große Kohlepfanne spendete an kühleren Tage Wärme (und Rauch). Hier lag in einem bequemen Bett Titus Duccius Vala, Consular und ehemaliger Legatus Augusti Pro Praetore. Seit dem Unglück, das ihn im Wachzustand in einer Zwischenwelt gefangenhielt, diente der Mutznruum ihm als Krankenlager.


    Nach der Ablösung Alriks als Statthalter und dem damit verbundenen Auszug aus dem Statthalterpalast hatte Witjon ihm selbstverständlich in der Villa einen Raum herrichten lassen. Hier lag er nun, der einst stolze Politiker und Herrführer, ein Schatten seiner selbst. Seiner Frau Tiberia Lucia hatte Witjon ebenfalls ein neues Heim einrichten lassen. Ihr hatte er ein eigenes Zimmer gegeben, damit sie nicht neben einem Nichtsorichtigtotenunddochnichtlebendigen schlafen und leben musste. Dennoch saß die gute Seele täglich am Lager ihres Gatten, betete zu den Göttern und fütterte den Willenlosen mit Weichspeisen und Flüssignahrung. Witjon war jedes mal erschüttert von diesem Anblick und zugleich tief angerührt von der liebevollen Fürsorge, die Lucia ihrem Mann angedeihen ließ. Witjon opferte den Göttern regelmäßig für die Genesung seines Vetters, doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, war seine Hoffnung nicht sehr groß.


    Wo es aber wenig Hoffnung für Alrik gab, da gab es noch ein ganzes Leben, das Lucia vor sich hatte. Und so bemühte Witjon sich trotz aller ihrer Fürsorge für den Darniederliegenden, die junge Tiberia in das alltägliche Leben der Villa einzubeziehen, ihr Mitarbeit im Haushalt abzuverlangen und sie als normales Familienmitglied zu behandeln. Denn nichts wollte er weniger als eine ewig trauernde Gattin, die sich als einziges Lebensziel das eigene Dahindämmern neben ihrem verunfallten Mann gesetzt hatte.

  • Das Julfest war fast vorüber, die meisten Gäste waren bereits gegangen, übrig blieben nur die, die immer spät blieben, und wirklich enge Freunde der Familie. Auch Hadamar hatte sich irgendwann zurückgezogen, aber nicht, um zu gehen. Im Lauf des Abends war in ihm etwas gereift – die Erkenntnis, dass er sich nicht länger drücken konnte. Und so stand er jetzt da, in Alriks Zimmer, und starrte die Gestalt, die vor ihm auf dem Bett lag, reglos an. Sein Gesicht verriet nichts von dem, was gerade in ihm vorging, und selbst seine Augen spiegelten nur wenig wider. Dass sie aber überhaupt etwas verrieten, zeigte, wie sehr ihn der Anblick mitnahm. Er war mitten in der zweiten Hälfte seiner Dienstzeit, seit bald 15 Jahren also schon Soldat. Er hatte einen Bürgerkrieg erlebt, der noch dazu seine Bluttaufe gewesen war, seine erste Erfahrung mit Kampf, die nicht Drill und nicht Übung war. Seine erste Schlacht. Sein erster echter Kampf auf Leben und Tod. Das erste Mal, dass ein Gegner durch seine Klinge den Tod gefunden hatte. Und der war dabei zu so etwas wie einem ständigen Begleiter geworden, vielleicht mal abgesehen von seiner Zeit bei den Urbanern.


    Der Tod und die Scharmützel und die Gräuel, die damit einher gingen, die man sah, erlebte, selbst tat, die kannte er zur Genüge. Daran war er gewohnt, und damit hatte er gelernt umzugehen, mal besser und mal schlechter vielleicht, aber unterm Strich wurde er damit fertig. Aber das hier... das war etwas völlig anderes. Zu sehen, wie Alrik hier so lag... gefangen in seinem Körper, seinem Kopf, unfähig sich zu rühren, etwas zu sagen, wach zu werden. Nur das leichte Heben und Senken seiner Brust zeigte, dass er überhaupt noch am Leben war.


    Was in Hadamar vorging, war letztlich sehr simpel: Entsetzen. Tiefes Entsetzen über diesen Anblick. Er hatte gewusst, hatte in Briefen gelesen, wie Alriks Zustand war, aber das waren nur Worte auf Wachstafeln oder Papyrus. Es ließ sich ignorieren, verdrängen, ausblenden. Dieser Anblick dagegen... nicht. Und damit einher ging auch eine nicht mehr zu verdrängende, unfassbare Hilflosigkeit, die ihn quälte, umso mehr, weil er sie nicht gewohnt war.


    Der Tod wäre weit besser, weit gnädiger gewesen als das, was Alrik widerfahren war.


    Unwillkürlich fragte Hadamar sich, ob Alrik etwas mitbekam von seinem Zustand, ob er irgendwo tief drin sich dessen bewusst war. Und das war der Augenblick, in dem sich sein tiefes Entsetzen wandelte in ein namenloses Grauen, das ihn zu schütteln begann. Er konnte sich wenig vorstellen, was schlimmer wäre als dieser Zustand – aber ihn mitbekommen, miterleben zu müssen, sich rühren zu wollen, aber nicht zu können, und das Tag für Tag, das gehörte definitiv dazu. Und er hoffte, betete zu allen Göttern, dass es nicht so war. Dass Alrik schlief, und sein Geist einfach gar nicht wusste, was hier mit ihm abging. Im Gegensatz zu denen, die ihn so erleben mussten.


    Er stand da, ohne sich zu regen, für wie lange wusste er selbst nicht so genau. Als das Grauen eingesetzt hatte, wäre er am liebsten verschwunden, aber er zwang sich zu bleiben. Zwang sich, seine Emotionen im Zaum zu halten. Er war Soldat. Er war Centurio. Er lief nicht davon. Und er hatte sich in seiner Jugend lange genug vor familiären Pflichten gedrückt. Es wurde Zeit, dass sich das änderte... dass er das, was er in der Legio nun schon seit Jahren tat, auch in seiner Familie machte: Verantwortung übernehmen.


    „Du würdst wahrscheinlich lachen, wenn du könntst“, brummte Hadamar. „Witjon auch. Ausgerechnet ich, hu? Ausgerechnet ich...“ Er seufzte. „Aber es ist ja sonst keiner da. Und ich kann Octavena und Dagmar damit nicht allein lassen.“ Er wollte es, die Götter wussten, er wollte sie damit am liebsten allein lassen. Sich drücken, so wie früher. Aber früher war halt immer jemand da gewesen, der übernahm, so dass er überhaupt die Möglichkeit hatte sich zu drücken. Jetzt war es so, wie er Alrik gesagt hatte: es gab gerade keinen. Keinen, der hier war. Vielleicht wuchsen Iring oder Rhaban irgendwann mal hinein in diese Rolle, aber wenn sie jetzt schon so weit wären, hätten sie schon längst mehr übernommen. Hätten sie schon längst ein ganz anderes Auftreten. Er seufzte noch mal. „Ich lass dich jetzt schlafen... aber ich komm wieder. Dann erzähl ich dir ein bisschen was von Cappadocia.“ Er hatte keine Ahnung, ob Alrik etwas mitbekam, er hoffte ja ganz im Gegenteil, dass es nicht so war. Aber für den Fall, dass es anders war... dass er doch etwas, gleich ob wenig oder viel, von dem bemerkte, was um ihn herum vorging... na ja, Hadamar konnte nur von sich ausgehen, aber wenn er nicht sowieso schon längst verrückt geworden wäre da drin, würde er sich wohl nach allem sehnen, was Ablenkung bot. Also würde er wiederkommen, wenn er konnte, und erzählen. Ihn auch weiter auf dem Laufenden halten. Das versprach er Alrik, bevor er das Zimmer schließlich wieder verließ, mit einem Herz, das schwer war.

  • Sie selbst war bei dem Unfall nicht zugegen, den ihr Verwandter hatte erdulden müssen und seit ihrer Rückkehr in die Stadt und die Heimat ihrer Sippe, hatte sie es nicht vermocht die Türschwelle zu übertreten und ihrem Verwandten einen Besuch abzustatten. Oft hatte sie bereits davor gestanden und mit sich gerungen, die Götter um die nötige Kraft gebeten, aber sie hatten sie ihr stets verwehrt. So viele Familienmitglieder hatte sie bereits verloren und auch wenn Alrik noch hier in dieser Welt war, so hatte sie gehört, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst war und sie wollte ihn so ihn Erinnerung behalten wie sie zuletzt gesehen hatte. Ein großer und stolzer Mann. Ihn dahinsiechend in einem Bett liegen sehen, würde ihrem schon sehr geschundenen Herzen und ihrer fast verlorenen Seele nur noch den letzten Stoß geben. Das wollte sie nicht. Sie flehte immer wieder die Götter an, dass sie ihn zu ihnen zurückschicken würden, ihn aber besuchen? Das konnte sie nicht. Das schaffte sie nicht.


    Dennoch hatte irgendetwas sie in diesen Teil des Hauses gelockt. Sie war in Gedanken gewesen und hatte nicht auf ihren Weg geachtet und damit hatte sie auch nicht mitbekommen, dass sich die Tür öffnete an der sie gerade vorbeiging bis sie etwas aufhielt, sie am Weitergehen hinderte. „Oh, Entschuldigung,“ murmelte sie und trat einen Schritt zurück um nachsehen zu können in wen sie da nun hineingelaufen war. „Oh Hadamar.“ Dann wurde ihr bewusst wo sie war und vor wessen Tür er stand. „Du hast Alrik besucht? Das habe ich noch nicht geschafft zu tun,“ gab sie recht kleinlaut zu. Sie war sehr froh, dass sich das Haus wieder gefüllt hatte und einige ihrer Verwandten ihren Weg wieder zurück gefunden hatten. Unter ihnen eben auch Hadamar. „Wie fandest du das Fest? Es war schön wieder ein volles Haus zu haben.“

  • Hadamar war irgendwo tief in sich selbst versunken, als er Alriks Zimmer verließ. Er hatte sich die letzten Wochen schon recht viele Gedanken darum gemacht, um seine Familie, und welchen neuen Platz er wohl finden würde in ihr. Welchen er beanspruchen sollte... und welchen er selbst wollte. Ihm war ziemlich deutlich klar geworden, dass er helfen wollte. Alrik so zu sehen, hatte ihm aber gezeigt, dass er sich noch lange nicht bereit dafür fühlte die Verantwortung zu übernehmen. Denn das hieß, sich auch um Alrik zu kümmern. Und Alrik wiederum war letztlich nur ein Symbol. Sicher: ihn so zu sehen, das war schwer auszuhalten, aber das würde er schon hinbekommen. Aber sein Vetter, sein Zustand, das stand auch ganz generell dafür, dass es Dinge gab, die nur mühsam zu ertragen sein würden. Zeiten, in denen die Verantwortung so schwer auf den Schultern lassen würde, dass man meinte darunter zusammenzubrechen. Das war ihm bei Alrik drin klar geworden, und prompt hatte wieder das eingesetzt, was ihn in seiner Jugend geprägt hatte: der Wunsch sich davor zu drücken. Was ihn von damals unterschied, war das Bewusstsein, dass er das jetzt nicht mehr konnte. Auch wenn er sich in diesem Augenblick schwer damit tat, den Teil in sich wiederzufinden, den er vorhin im Wildgarten bei Octavena so deutlich gespürt hatte – den Teil, der helfen, der im Grunde endlich Verantwortung übernehmen wollte.


    Er bemerkte ebenso wenig wie Dagmar, dass da jemand war, als er hinaus ging, und so stießen die beiden zusammen. Beinahe gleichzeitig mit ihr murmelte er: „Entschuldigung“, und realisierte dann erst, wen er vor sich hatte. „Dagmar. Ja, ich...“ Er machte eine etwas hilflose Geste hinter sich und schloss leise die Tür. „Ich hab’s bisher auch nicht geschafft“, gab er offen zu. „Aber irgendwann musste es mal sein.“ Dagmar war deutlich länger hier als er, aber sie hatte, ähnlich wie seine Mutter auch, noch mit einem ganz anderen Verlust zu kämpfen gehabt. Wenn er an Nela dachte, war ihm selbst seltsam zumute, nicht zuletzt weil er das Gefühl hatte bei ihr einen Fehler gemacht zu haben. Es war noch nicht mal, dass er mit ihr angebandelt hatte – er hatte ja nicht gewusst wer sie war, sonst hätte er freilich die Finger von ihr gelassen. Es war mehr, wie er danach reagiert hatte, als er es erfahren hatte. Sie, die Tochter seiner Tante Dagmar. Die Verwandtschaftsverhältnisse selbst wären kein Problem gewesen – auch wenn er Dagmar Tante nannte, war sie mehr eine... Urururgroßcousine? Irgendwie so. Da waren so viele Ecken dazwischen, dass es nicht mehr wirklich zählte. Aber sie waren trotzdem eine Familie, so war er aufgewachsen, und es hätte Ärger gegeben. Er war Nela daher komplett aus dem Weg gegangen, hatte sich so gut es ging davor gedrückt, mit ihr reden zu müssen, und bevor es doch noch zu einem klärenden Gespräch hätte kommen können, war er versetzt worden. Er war feige gewesen, damals, und jetzt gab es keine Chance mehr, sich dafür zu entschuldigen.


    „Ja“, stimmte er zu. „Ich meine, ich hab das leere Haus ja nicht so erlebt wie du, aber das Fest war schön. Und ich hatte den Eindruck, dass es der Familie gut getan hat mal wieder Leute im Haus zu haben. Größer zu feiern.“ Er lächelte flüchtig. „Ich hoffe dir auch, ich hab dich wenig unter den Leuten gesehen.“

  • Ihr Gesicht wurde etwas traurig. „Ja, irgendwann muss es mal sein.“ Doch wann sie es übers Herz bringen würde, war derzeit einfach nicht abzusehen. So viele Männer der Familie hatten sie schon verlassen und sie wusste nicht, ob sie diesen Abschied jemals würde überwinden können, wenn die Götter irgendwann eine schlechte Entscheidung würden treffen. Es sich nur vorzustellen und nicht zu sehen, ermöglichten es ihr sich damit nicht intensiv beschäftigen zu müssen. Sie hatte eine dunkle Welt hinter sich gelassen und befürchtete nun, dass dieser Besuch sie dorthin wieder zurückführen würde, denn sie hatte das Gefühl diese Tür noch immer hinter sich zu spüren und damit nur einen kleinen Schritt zu benötigen dorthin wieder zu gelangen und wie sie dann den Weg dort heraus finden sollte, wusste sie nicht. Ob sie dafür nochmals würde die Kraft finden? Sie sah diesbezüglich ähnlich schwarz wie es die Welt war, die hinter ihr auf sie zu warten schien.


    „Wir sollten dies wiederholen, uns und der Stadt zeigen, dass wir hier nicht aus der Übung gekommen sind und noch feiern können,“ gab sie mit einem kleinen Lächeln zu. Doch danach hatte er nicht gefragt. Es war Hadamar aufgefallen, dass sie sich im Umgang mit den Gästen zurückgehalten hatte. „Ich...ich schätze ich bin
    etwas aus der Übung gekommen,“
    versuchte sie eine Erklärung zu finden. „Ich habe wohl zu lang zurückgezogen gelebt und hatte das Gefühl…“ Ja, was für ein Gefühl hatte sie? Sie würde den anderen die Laune verderben, keine gute Gesellschaft sein? Auch, aber nicht nur. Eine zu große Gesellschaft verunsicherte sie. Etwas, das vor einigen Jahren noch nicht denkbar gewesen war. Doch, da war auch noch alles anders gewesen. „...heute keine so gute Schauspielerin zu sein, wie ich sein müsste um niemandem die Freude an der Feier zu verderben.“ Ihr Lächeln wirkte etwas schief. „Ich bin zwar wieder zurück, aber doch noch nicht wieder ganz angekommen,“ gab sie zu. Sie hätte natürlich irgendwelche Ausreden finden können, aber das würde viel zu viel Kraft kosten. „Es war aber wirklich
    sehr schön. Es hatte jeder auf seine Art seinen Spaß.“
    Ein kleines Lächeln zeigte sich auf ihren Zügen.


    „Aber nun zu dir. Hast du dich denn wieder gut hier in der Stadt eingefunden. Vermisst du die Fremde nicht zu sehr?“ Sie selbst hatte andere Länder gesehen und einige Zeit dort gelebt und wusste, dass es schon eine Umstellung sein konnte, wenn man zurück kam. Genauso wie es eine Umstellung war, in der neuen Umgebung seinem Platz zu finden.

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