servitriciuum | Die letzte Nacht

  • Als Fhionn das officium verlies, um sich auf ihre letzte Nacht vorzubereiten, fing ihr Blick beim Vorübergehen Sivs erschütternden Ausdruck ein. Die Hilflosigkeit mußte der Germanin schwer zu schaffen machen. Schließlich war sie es, auf die Fhionn gebaut hatte, doch letztlich war auch sie machtlos. Was konnte eine Sklavin schon ausrichten gegen die bereits feststehende Meinung eines Römers und die Germanin hatte es ja bereits gründlich verdorben mit ihrem Herren. Die vermeindliche Macht die sie vielleicht einst über ihn besessen hatte, war im Sande versiegt, wie ein Rinnsal.
    Auch Oristes, so kam es Fhionn zumindest vor, hatte sich ihr gegenüber verschlossen. Niedergeschlagen und von allen verlassen, schritt sie den Korridor entlang, zur Unterkunft. Dort wo sie ihre letzte Nacht in diesem Leben verbringen würde.
    Leise schloß sie die Tür hinter sich. Diese letzte Nacht wollte sie nicht zum schlafen nutzen. Es galt sich, vorzubetreiten auf die Reise, die sie antreten würde. Sie war sich bewußt, diese Reise würde eine beschwerliche Reise werden. Viel beschwerlicher, wie die, die sie in dieses Haus gebracht hatte. Diese letzte Nacht wollte sie auch dazu nutzen, um mit allem abzuschließen, was sie in dieser Welt noch hielt. Sie wollte ihre Götter bitten, sie in der schrecklichsten Stunde, die ihr bevorstand, nicht zu verlassen. Sie wollte sie um Stärke bitten. Der morgige Tag sollte nicht dazu dienen, jammervoll zu Grunde zu gehen. So wie die Krieger ihres Dorfes, die sich vor und während des Kampfes mit ihrem Schlachtruf gegenseitig Mut schenkten, so wollte sie gehen. Daß sie vor dem Römer auf Knien um Gnade betteln wollte, kam für sie nicht in Frage. So wollte sie es sich wnigstens vornehmen. Doch wozu Menschen im Angesicht des Todes fähig waren, hatte sie schon einige Male miterleben müssen. Sie hoffte für sich selbst, nicht derartig zu straucheln. Der Römer sollte sich nicht auch noch an ihrer Schwäche ergötzen können.
    Im Schein des Mondes, dessen schwacher Lichtstrahl durch die kleine schmale Fensteröffnung in den Raum fiel, saß sie kniend auf dem blanken Steinboden und richtete ihren Blick dem Licht entgegen. Die Tränen, die ihr die Wangen hinunter geronnen waren, waren längst getrocknet. Beim Anblick des Mondlichtes zuckte ein sachtes Lächeln über ihre Lippen. Das Wiedersehen mit ihren Kindern war nicht mehr fern. Dieses Wissen schenkte ihr Trost, wenigstens für den Augenblick.

  • Erschüttert war das richtige Wort, um zu beschreiben, was Siv empfand. Sie war zutiefst erschüttert über die Geschehnisse in dieser Nacht und die Folgen, die sie nach sich zu ziehen drohten. Matho tot, ermordet von Fhionn. Die Bilder tanzten immer noch vor ihrem inneren Auge herum und begannen inzwischen, sich mit anderen zu vermischen, mit Bildern aus einer weiter zurückliegenden Vergangenheit, Bildern von Überfällen, bei denen sie Bekannte hatte sterben sehen, durch Zähne und Klauen von wilden Tieren oder Speere und Schwerter von Römern. Vor allem aber ein Überfall mischte sich in den blutigen Tanz der Klinge, die Mathos Tod verursacht hatte: der letzte, den sie erlebt hatte, der, bei dem ihr Vater umgekommen war. Seltsamerweise war es er, der mit Matho zu verschwimmen schien. Vielleicht, weil dieser Tod Ähnlichkeit hatte mit dem Mathos – wie der Speer in ihren Vater eintauchte und in von den Füßen riss, wie das Messer in Matho sank und Blut spritzte… Vielleicht auch, weil der Tod ihres Vaters der letzte war, den Siv gesehen hatte, und der einzige, den sie nie wirklich verarbeitet hatte. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass die Bilder sie verfolgten wie die Odins Jagdmeute, die zum Julfest die jenseitige Welt verließen und die diesseitige unsicher machten.


    Dennoch war es für die Germanin keine Frage, wo sie hingehen würde, nachdem sie Corvinus’ Officium verlassen hatte. Sie hatte versprochen, Fhionn nicht allein zu lassen. Und das würde sie auch nicht. Während sie der Keltin hinterher hastete, versuchte Siv die Bilder zu verdrängen, die in ihrem Kopf kreisten, und als sie schließlich die Unterkünfte der Sklavinnen erreichte, hatte sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle, hatte sowohl Corvinus’ erneute Ablehnung beiseite geschoben als auch beide blutige Szenarien. Es gelang ihr nur oberflächlich, und das war ihr auch klar, aber es reichte für den Moment. Leise betrat sie das Servitriciuum und sah dort die Keltin im Mondschein auf dem Boden knien. Ohne einen unnötigen Laut zu verursachen, ging sie zu ihr hinüber und ließ sich neben ihr auf die Knie sinken. Dann hob sie zögernd die Hand und strich ihr sacht über das Haar.

  • Um nicht völlig ihrer Angst zu erliegen, versuchte Fhionn jegliche Gedanken an den morgigen Tag zu verdrängen. Die Angst vor der grausigen Art, wie sie vom Leben in den Tod befördert werden sollte, war übermächtig und sie drohte, sie vollkommen zu verzehren. Leise, ganz leise wisperte sie einige Worte in ihrer Sprache in den Raum. Ihre Augen waren immer noch auf die kleine Fensteröffnung gerichtet. Das weiße Licht des Modes hüllte ihr Gesicht ein. Oh, Strahlende, du große Göttin meines Volkes, hilf mir! Verlaß mich nicht! Sie hatte nichts, was sie ihrer Göttin hätte darbringen können, außer dem kleinen Stoffpäckchen, das sie seit dem Tag ihres größen Unglückes direkt auf ihrem Körper bei sich trug. Ihre Hand fuhr unter ihre Tunika und förderte jenes kleine Päckchen aus einfachen groben Stoff hervor. Es war lange her, seitdem sie es zum letzten Mal geöffnet hatte.
    Ihre zittrigen Finger versuchten den groben Faden zu lösen, der das Päckchen zusammen hielt. Dann, endlich hatte sie es geschafft. Ehrerbietig öfnnete sie es. Ein kleines Büschel roter Haare kam zum Vorschein. Beim diesem Anblick wurden ihre Augen feucht. Sachte roch sie an dem Inhalt des Päckchens, so als könne es den Geruch aus einer längst vergangenen Zeit konservieren. Sanft küssten ihre Lippen das Büschel Haare.
    Dann hob sie das Päckchen dem Licht des Mondes entgegen. Ihr aller wertvollstes, was sie in dieser Welt noch besaß, war sie bereit, zu geben - einige Locken ihrer toten Kinder. Dann legte sie sie vor sich ab.

    Sie hatte Sivs Ankunft nicht bemerkt. Erst als die Germanin plötzlich neben ihr saß und ihr über das offene Haar strich, wandte sie sich zu ihr um. "Danke, du hier!"

  • Siv bemerkte das geöffnete Päckchen, das vor der Keltin am Boden lag, und im Licht des Mondes konnte sie erkennen, dass ein Büschel von Fäden oder Haaren darin lag, aber sie ignorierte es. Stattdessen strich sie noch einmal über die Haare der Sklavin neben ihr. Fhionn schien zu zittern, aber bei dem, was geschehen war und noch geschehen würde, war das kein Wunder – Siv hatte selbst Mühe, das Zittern zu unterdrücken, genauso wie sie Mühe hatte, einen Zusammenbruch zu unterdrücken. Sie wollte nichts lieber, als sich irgendwohin zu flüchten, irgendwohin, wo jemand war, der sie in den Arm nehmen und einfach halten würde. Corvinus kam ihr wieder in den Sinn. Obwohl er so abweisend gewesen war, wieder, so kalt und unnahbar, war doch er es, der Siv wie von selbst in den Sinn kam. Er kam ihr immer in den Sinn, er war in ihrem Sinn, sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte versucht daran etwas zu ändern, ihn zu vertreiben, aber sie schaffte es nicht. Er war einfach da, bei allem was sie tat. Selbst wenn sie nicht bewusst an ihn dachte, war er doch da. Es war so seltsam – an ihn zu denken tat ihr so weh. Und gleichzeitig half es. Es half ihr, wenn sie so einsam war, dass es schmerzte, wenn sich ihr Inneres zu krümmen schien vor Sehnsucht. Sie wünschte sich nichts mehr, als einfach in seinen Armen zu liegen, von ihm gehalten zu werden – so sehr, dass allein die Vorstellung dessen ihr etwas Ruhe gab, auch wenn das Wissen, dass es nicht passieren würde, ihr Herz zu gleicher Zeit qualvoll zusammenzupressen schien. Aber sie konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Weil dieser Schmerz immer noch besser war als der, der auf sie wartete, wenn sie damit aufhörte. Weil der Schmerz immer noch besser war als die Leere, die hinter allem lauerte. Weil er da war, in ihrem Kopf und in ihrem Herzen.


    Leise, unbemerkt von ihr selbst, rann ihr eine Träne über die Wange. Sie vermisste ihn so sehr, und gerade jetzt, in dieser Situation, schien die Sehnsucht nur noch stärker zu werden. Sie brauchte ihn – aber Fhionn brauchte sie noch mehr als sie selbst Unterstützung benötigte. "Gehen wir raus? In Küche, oder Atrium…" Siv wusste nicht, ob sie in den Garten konnten – sie hatte Corvinus’ Worte nicht vergessen, nach denen Fhionn nicht unbeobachtet bleiben würde für den Fall, dass sie versuchte zu fliehen. Aber es war besser, irgendwo anders hinzugehen, wo sie wenigstens nicht Gefahr liefen, die anderen Sklavinnen aufzuwecken – von denen sicher einige Fhionn keine Ruhe mehr lassen würden, hatten sie erst einmal erfahren, was passiert war.

  • Fhionn versuchte, sich ein Lächeln abzugewinnen, auch wenn es ihr sehr schwer fiel. Sie war immer noch so aufgewühlt, so daß sie sich nicht auf ihr Gebet und das Opfer, das sie ihrer Göttin darbieten wollte, konzentrieren konnte. Sie sah eine Träne in Sivs Gesicht. Gerührt davon, da sie glaubte, die Träne hätte ihr gegolten, wischte sie sie ihr sanft mit einem ihrer Finger weg "Du nicht weinen, Siv. Ja, gehen in Atrium." Sie wollte nicht in die Küche gehen. Nach Essen war ihr nicht und sie brauchte mehr Freiraum und frische Luft, als dies die Enge der Küche zuließ. Corvinus´ Worte hallten noch in ihrem Kopf. Dies wird deine letzte Nacht in diesem Haus sein, doch glaube nur nicht, dass du unbeobachtet sein wirst. Wenn dies Siv sein sollte, die sie nicht unbeobachtet lassen sollte, dann war es ihr recht. Sie hatte sich stets in ihrer Umgebung wohlgefühlt und versucht ihr zu helfen, als Matho sie gequält hatte.
    Fhionn packte ihr Päckchen sorgfältig zusammen und steckte es wieder unter ihre Tunika. Dann erhob sie sich aus ihrer knienden Haltung. Leise schlichen sie aus der Sklavenunterkunft. Die schlafenden Sklavinnen hatten von all dem nichts mitbekommen. Erst morgen in der Frühe würden sie es erfahren. Dann würden sie mutmaßen, warum sie es getan hatte und was jetzt mit ihr geschehen würde und wenn sie dann schließlich tot war, würden sie womöglich noch einen Blick auf ihre Leiche werfen müssen, als Abschreckung.


    Das Atrium war menschenleer. Das Licht der Öllampen war noch nicht gelöscht worden. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe gewesen, dies zu tun, bevor sie zu Bett ging. Doch dann war plötzlich dieser Dang in ihr aufgekommen. Ganz spontan hatte sie den Entschluß gefaßt, dem maiordomus nach dem Leben zu trachten. Nach dem heutigen Tag war das Maß endlich voll! Sie konnte nicht mehr anders. Zuzusehen, wie Matho durch die Herrschaft in ungeahnte Höhen gehoben wurde, weil er doch so pflichtbewußt seinen Dienst in Germanien getan hatte, das widerte sie einfach nur an.

  • Überrascht von der Träne, die sie selbst erst registrierte, als Fhionn sie ihr sanft von der Wange wischte, sah Siv die Keltin an. Innerlich wurde ihr Zittern stärker, ebenso wie das Drängen nach Trost für sich selbst, aber nach außen hin wahrte sie die Fassung, versuchte so gut es ging für Fhionn den Halt zu bieten, den diese sicherlich so viel nötiger hatte als sie. Sie nickte nur zu den Worten der Keltin, sagte ihr nicht, welchen Ursprung die einzelne Träne tatsächlich gehabt hatte, denn es ging nicht um sie – das hielt sie sich immer wieder vor. So zerrissen, schockiert und aufgewühlt sie sich auch fühlen mochte, es ging nicht um sie. Sie würde noch Zeit haben zu verarbeiten, was sie gesehen, erlebt hatte. Ihr Entsetzen hinauszuschreien über die grausam-blutige Tat, ihr Entsetzen und ihre Angst, Gefühle, die momentan im Grunde keine anderen zuließen. Sie musste irgendwie, irgendwo in sich die Kraft finden, damit zu warten.


    Regungslos beobachtete sie Fhionn dabei, wie sie das Päckchen wieder zusammenschnürte und einsteckte, dann erhoben sie sich gemeinsam und verließen den Schlafraum, wandten sich zum Atrium, das sie kurz danach auch erreichten. Erhellt vom flackernden Schein der Öllampen, der Siv unangenehm an den flackernden Schein erinnerte, der noch vor gar nicht allzu langer Zeit den Rhythmus geboten zu haben schien für den absurden Reigen, den das Messer und Fhionns Bewegungen für Matho aufgeführt hatten. Flammen, die sich in einer immer größer werdenden, blutroten Lache am Boden spiegelten, tanzten, Reflexe darin hervorriefen wie in kostbarem Wein, während sich die Flüssigkeit ihren Weg suchte in den Ritzen zwischen den Steinen, immer weiter rann, bis sie schließlich ihre nackten Zehen erreichte, ihre Füße bald gänzlich umschloss und weiter anstieg…


    Siv presste sich eine Faust an den Mund und biss auf die Finger, um den Schrei zu unterdrücken, der auf einmal in ihrer Kehle schwebte. Das Bild war so real gewesen, sie hatte sogar für einen Moment das Gefühl gehabt, das noch warme Blut an ihren Zehen zu spüren. Aber es war nicht echt, was sie gesehen hatte, es war nur Erinnerung gewesen, vermischt Bildern ihrer lebhaften Phantasie. Nicht echt, wiederholte sie in Gedanken, immer wieder. Es fiel ihr schwer, die Vorstellung abzuschütteln, aber sie schaffte es, zumindest weit genug, um dem Schrei keinen Laut zu verleihen und ihn zu den anderen hinzuzufügen, die darauf warteten, von ihr irgendwann in die Luft entlassen zu werden. Sie deutete vage auf eine der Klinen und ging darauf zu, ließ sich langsam niedersinken, bis sie aufrecht saß. Schweigend musterte sie Fhionn. Sie hatte das Gefühl, sie müsste etwas sagen, irgendetwas, aber ihr fehlten die Worte, und sie sagte lieber nichts, als irgendeine hohlklingende Phrase von sich zu geben. Vermutlich gab es schlicht keine Worte für Momente wie diesen. Und so schwieg sie.

  • Es war seltsam, wieder im Atrium zu sein. Alles schien sich mit einen Mal verändert zu haben. Der Raum, den sie tagsüber am liebsten meidete, hatte nun fast schon etwas Einladendes. Er hatte nichts mehr bedrohliches an sich. Fast schon ein Platz, um loslassen zu können.


    Siv war auf eine der Klinen zugegangen und setzte sich. Das Schweigen, das zwischen den beiden Frauen anhielt, hatte etwas Bedrückendes. Das krampfhafte Suchen nach Worten, etwas was man in den Raum hinein sagen konnte, um damit die Stille zu vertreiben, es hing zumindest über Fhionn. Was konnte sie denn noch sagen? Was würde es jetzt noch nützen? Das, was sie an diesem Abend gesagt hatte, war ungehört verhallt. Niemand wollte es hören, außer vielleicht Siv. Doch auf Siv wollte auch niemand mehr hören.
    Vergessen wollte sie jetzt nur noch. Die schrecklichen Bilder ihrer Tat wollte sie wenigsten für eine kurze Zeit aus ihrem Kopf verbannen. Auch an das, was dem noch folgen würde, wollte sie nicht denken. Langsam nahm auch sie neben Siv auf der Kline Platz. Sie spürte die Anspannung der Germanin und konnte ihr auch gut nachfühlen. Ihr ging es im Grunde ja genauso.
    Stille beherrschte den Raum. Nur das leise Atmen der beiden Frauen war zuhören. Fhionn beobachtete das Spiel der Schatten, das durch die Flämmchen der Öllampen erzeugt wurde. Eine Erinnerung schob die Bilder des heutigen Abends beiseite. Eine Erinnerung an zu Hause, damals, als alles noch scheinbar gut war. Damals, an jenem Abend, hatte sie in ihrem Haus gesessen und auch dem Tanz des Flämmchens ihrer Öllampe zugeschaut. Eigentlich hatte sie auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet. Die Kinder schliefen längst schon und auch ihre Augen wurden langsam müde. Stunde um Stunde war so vergangen. Es waren unruhige Zeiten gewesen auch wenn sie nicht viel von den Geschehnissen mitbekommen hatte. Die Männer des Dorfes bereiteten sich auf eine bevorstehende Auseinandersetzung vor. Der Drang der Besatzer, sich immer weiter nach Norden auszubreiten, war nicht spurlos an ihrem Dorf vorbeigegangen. Man fühlte sich solidarisch mit den Brüdern jenseits der Grenze. Die Brigantes waren von jeher ein stolzes und kriegerisches Volk gewesen, auch wenn man ihnen vor Jahrzehnten schon die Flügel gestutzt hatte.


    "Du auch haben Familie, zu Hause, früher?" fragte Fhionn, zu Siv gewandt, ganz unerwartet in die Stille hinein.

  • Siv musterte Fhionn, die ebenso wie sie nicht zu wissen schien, was sie sagen wollte. Sie selbst versuchte einfach da zu sein, der Keltin durch ihre bloße Gegenwart so etwas wie Halt zu geben, aber sie schien nicht sonderlich erfolgreich zu sein damit, betrachtete sie die verkrampfte Haltung Fhionns. Und es war wohl auch kein Wunder, wenn man bedachte, wie sehr sie sich bemühen musste, ihre Gedanken von dem, was passiert war, wegzuhalten. Immer wieder tauchte Matho auf, und das Blut, und wie das Messer in ihm versunken war… Siv schloss die Augen und drängte mit aller Macht die Bilder zurück, die immer wieder hochkamen und sich nicht verdrängen lassen wollten. Als sie die Augen wieder öffnete, für Momente erneut die Bilder in ihrem Kopf beschwichtigt, saß Fhionn neben ihr. Mit Mühe unterdrückte sie ein Zusammenzucken, als erneut vor ihren Augen aufflammte, was passiert war – diesmal nicht der Maiordomus, das Blut oder das Messer im Zentrum, sondern Fhionn, die das Messer führte. Im nächsten Augenblick schimpfte Siv sich selbst einen Dummkopf. Sie wusste, was Fhionn zu dieser Tat getrieben hatte. Sie wusste, dass sie keine Mörderin war, dass sie selbst sicher war in ihrer Gegenwart. Sie bewegte sich etwas, verlagerte ihre Position so, dass sie der Keltin etwas mehr zugewandt war, musterte sie Augenblicke lang, bevor ihr Blick wieder abschweifte und durch das Atrium glitt.


    Schweigen umhüllte sie, ebenso wie das leise Flackern der Öllampen. Sivs Geist wankte, wankte hin und her zwischen der Realität, der jüngsten Vergangenheit und Phantasiebildern, tauchte ein und wieder hervor wie das Messer, das Matho getroffen hatte, so oft, flackerte arhythmisch zu den kleinen Flammen um sie herum. Als Fhionn plötzlich das Wort ergriff, sah Siv fast erschrocken hoch, war sie doch völlig in ihren Gedanken versunken gewesen. "Wie?" Einen Moment musterte sie die Keltin, als ob sie gerade nicht wusste, wo sie wer und wer ihr gegenüber saß, aber dann fand sie zurück in die Realität, rekapitulierte, was Fhionn gesagt hatte. Eine Weile schwieg sie noch, während ihre Gedanken erneut abglitten, in die länger zurückliegende Vergangenheit diesmal. Die Andeutung eines wehmütigen Lächelns flog über ihr Gesicht. "Familie… Ja. Ich gehabt Vater, und Brüder… Und Ragin, das ist Mann, gesein. Aber Ragin ist tot, schon mehr lange als wie ich bin Sklavin. Was ist mit du?"

  • Die Germanin reagierte überrascht, als Fhionn sie mit ihrer Frage aus der Stille gerissen hatte. Die Wehmut, die in Sivs Lächeln lag, bewies ihr, daß auch sie Verluste hingenommen hatte. Auch sie hatte eine Familie, einen Mann und – auch Kinder? Davon hatte sie nichts gesagt. Aber eines hatte sie aus Sivs Worten entnommen, ihre Familie als solches bestand nicht mehr. Sie fragte sich, was genau passiert war, aber angesichts ihrer Reaktion wollte sie nicht noch mehr von Sivs Trauer heraufbeschwören.
    "Ich haben auch Familie. Mann und zwei Kinder. Mädchen und Junge. Waren drei und fünf Jahre alt." Sie lächelte, als sie sich an ihre Kinder erinnerte. Dann holte sie wieder das kleine Päckchen hervor, das sie unter ihrer Tunika trug. Sie öffnete es wieder und zeigte es Siv. "Das Haar von Kinder."
    Liebevoll strich sie mit ihren Fingern darüber und plötzlich war sie wieder gefangen in ihren Erinnerungen. Fast zwei Jahre waren nun schon vergangen, seit dem Tag, an dem sie ihre Kinder hatte sterben sehen. Der Mann, der sie auf dem Gewissen hatte, war tot. Er hatte dafür bezahlt. Sie hatte sich auf ihn gestürzt und ihn und ihn mit einem Messer bedroht. Er hatte sich erst noch über sie lustig gemacht aber sein hämisches Lächeln war bald einem schmerzverzerrten Ausdruck gewichen. Sie hatte ihn eigenhändig getötet. Kurz darauf hatte sie ein heftiger Schlag auf den Kopf getroffen, so daß sie zu Boden ging. An das, was danach passiert war, hatte sie keinerlei Erinnerungen mehr. Als sie wieder aufgewacht war, hatte sie sich gefesselt wieder gefunden, zusammengepfercht mit anderen Überlebenden ihres Dorfes.


    Tränen standen in Fhionns Gesicht, als zu einem Öllämpchen griff und das Büschel Haare damit verbrannte. Der Geruch des verbrannten Haars breitete sich um sie herum aus. Doch durch die Öffnung an der Decke des Atriums konnte er bald entweichen. So kam Fhionns Göttin doch noch zu ihrem Opfer.
    "Morgen, ich sein, bei Kinder," sagte sie überraschend. Sie lächelte gequält dabei und wischte ihre Tränen ab.

  • Betroffen musterte Siv Fhionn, als sie von ihren Kindern sprach. Sie hatte ja schon so viel verloren, liebe Menschen zurücklassen müssen, wie schlimm musste eine Versklavung erst sein, wenn man Kinder hatte? Und wenn sie Fhionns Worte richtig interpretierte, waren diese gestorben. Siv blickte kurz auf das Büschel Haare in den Händen der Keltin, dann schloss sie für einen Moment die Augen und verspürte leichte Verwunderung, weil der Keltin nie etwas von diesem Verlust anzumerken gewesen war. Andererseits mochte sie sie zwar, aber wirklich nahe gekommen waren sie sich bisher noch nicht. Und sie wusste, zumindest sie selbst hätte alles getan um ihren Kummer zu verbergen vor den anderen, den meisten zumindest. Jetzt aber spiegelte Fhionns Gesicht und ihre Augen den Schmerz wieder, den sie empfinden musste über das, was geschehen war. Gleichzeitig wirkte sie für Momente in sich gekehrt, so sehr, dass Siv es nicht wagte, sie anzusprechen – geschweige denn sie zu fragen, was geschehen war mit ihren Kindern.


    Sie musterte Fhionn nur mit Augen, in denen Trauer stand, verfolgte ihre Bewegungen und sah schweigend zu, wie die Keltin die Haare ihrer Kinder schließlich verbrannte in der Flamme einer kleinen Öllampe. Sie ahnte, warum Fhionn das tat. Sie selbst hätte dasselbe getan, hätte sie vor Augen gehabt, was der Keltin drohte. Sie hätte genommen, was repräsentierte, was ihr am meisten bedeutete, und hätte es Hel geopfert. Unwillkürlich glitt ihre Hand zu dem kleinen silbernen Anhänger in Form eines Pferdes, den sie nach wie vor trug, unter ihrer Tunika, unsichtbar für die anderen – jeden Tag. Ihre Finger glitten unter den Ansatz des Stoffs und schlossen sich um das Tier. Dann ließ sie es wieder los, als Fhionns Stimme erneut erklang. Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Züge. Sie wollte der Keltin Mut zusprechen, wollte ihr versichern, dass sie noch nicht aufgeben sollte, dass es noch nicht an der Zeit war, gänzlich zu verzweifeln – aber sie wussten beide, dass sie nichts mehr würden ändern können. Sie strich Fhionn kurz über das Haar und schwieg zunächst, dann meinte sie doch: "Fhionn. Noch ist nicht Zeit, Hoffnung zu tun weg. Morgen ist Zeit. Jetzt du hast Nacht."

  • Der letzte Rest der Haare war zu Asche geworden, die sanft von einem Windzug fortgeweht wurde. Fhionn verfolgte Die Aschenreste mit ihren Augen. Sie war sich sicher, ihre Göttin hatte das Opfer wohlwollend angenommen. Dann konnte sie morgen auf ihre Hilfe hoffen. Ein tröstlicher Gedanke, wenn man bedachte, welches Schicksal ihr bevorstand.
    Fhionn hatte die Stille des Augenblicks genossen. Sie war in sich gekehrt, ja fast geistig abwesend gewesen, nur ihr Körper war wie eine scheinbar schwere Last zurückgeblieben. Erst viel später bemerkte sie Sivs Blicke. Sie wollte ihr Hoffnung geben, obwohl es doch gar keine Hoffnung mehr gab. Die Hoffnung war mit Corvinus´ Zurückweisung am Abend gestorben. Doch sie verstand, was Siv ihr damit sagen wollte und sie war dankbar dafür. Sie hätte es wahrscheinlich auch nicht anders gemacht. "Ja, jetzt haben Nacht," antwortete sie ihr schließlich und versuchte dabei etwas zu lächeln. Noch einige wenige Stunden blieben ihr und sie wünschte sich, diese Nacht würde ewig Bestand haben. Die Zeit allerdings war nicht auf Fhionns Seite. Sie ging unbarmherzig weiter. Bald schon würde der Morgen grauen und dann, wenn es hell war, würde man sie holen und hinaus aus der Stadt bringen. Nein, sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, was dann geschehen würde! Das würde sie noch früh genug am eigenen Leib erfahren. Sie atmete tief durch, um sich damit letztlich selbst wieder zu beruhigen. Um sich abzulenken, half schlicht und einfach nur, über etwas anderes nachzudenken und darüber zu sprechen.
    "Kinder sind getötet in Überfall, wen Römer kommen. Ich können nicht helfen Kinder. Ich zusehen. Aber dann ich getötet Römer, der getötet Kinder. Mann ist gestorben in Kampf. Fast alle tot. Die nicht tot, sind Sklaven." Darüber, was passiert war und wie ihre Kinder den Tod gefunden hatten, hatte sie mit noch niemandem gesprochen. Diese schrecklichen Erinnerungen hatte sie stets tief in sich vergraben. Es waren ihre Erinnerungen und sie hatte es nie geschafft, diese Erinnerungen mit jemand anderem zu teilen. Wem hätte sie auch davon erzählen sollen? Sie ging mit ihrer Geschichte nicht gerne hausieren. Von außen ließ sie sich auch den Verlust, den sie erlitten hatte, nur sehr selten anmerken. In Siv hatte sie eine würdige Zuhörerin gefunden, der sie gerne erzählte und bei der sie wußte, ihre Geschichte war gut aufgehoben. "Wie dein Mann sterben? Auch in Kampf?"

  • Fhionn schien zu verstehen, was Siv sagen wollte – auch wenn sie beide wussten, dass die Nacht nur einen Zeitaufschub bedeutete. Wieder verging eine Weile Schweigen. Einige der Lampen flackerten und erloschen im Lauf der Zeit, als das Öl darin zur Neige ging, andere, die tags zuvor erst aufgefüllt worden waren, brannten ruhig und stetig vor sich hin und spendeten weiterhin, wenn auch spärlicher werdendes, Licht. Die Germanin setzte sich auf der Kline etwas zurück, zog die Beine hoch und an ihren Körper, und schlang ihre Arme um die Knie. Wieder drohten Bilder von dem, was passiert war, sich ihres Geistes zu bemächtigen, wieder wurde ihr bewusst, dass Fhionn getötet hatte, aber sie wusste auch, dass es letztlich Notwehr gewesen war, gewesen sein musste, und sie wehrte sich, gegen die Bilder und gegen den Impuls, Fhionn als Mörderin zu sehen und sie meiden zu wollen.


    Als Fhionn wieder das Wort ergriff und erzählte, von sich, von ihren Kindern, wusste Siv nicht, was sie davon halten sollte. Sie wusste nicht, ob sie in dieser Situation von sich etwas preisgegeben hätte, ob sie auch versucht hätte, sich auf diese Art abzulenken. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie hatten alle ähnliche Geschichten, alle, die zuvor frei gewesen waren und aus den freien Teilen der Welt stammten, zumindest. Es gab die, die darüber sprachen, und die, die es nicht taten – Siv gehörte zu letzteren, Fhionn ebenfalls, aber Siv war sich recht sicher, dass sie in dieser Situation nicht daran hätte denken wollen, wie sie gefangen genommen worden war. Sie hätte versucht, sich an die schönen Zeiten zu erinnern… Sie zog die Beine noch enger an ihren Körper und legte ihr Kinn auf den Knien ab, während sie in eine Flamme starrte. "Ragin… er ist gesterbt in Kampf. Ich nicht bin dabei gesein, ich weiß nicht, wie Kampf war… Ich hoff er hatte einen guten Kampf. Gute Gegner. Er hat es verdient…"

  • Fhionn starrte auf die flackernde Flamme der Öllampe. Es war ihr letzes Aufbäumen, bevor sie schließlich erlosch. Ihr Erlöschen bewirkte, daß nun das Atrium dunkler wirkte. Noch Minuten danach, war ihr Blick auf die nun erloschene Lampe gerichtet. War es so auch, wenn das Leben erlosch? Als ihre Kinder getötet wurden, war es in ihrer Welt dunkler geworden und auch, als sie vom Tod ihres Mannes erfahren hatte, war es, als wäre ein Licht erloschen. Die Gewissheit, daß er einen guten Kampf gekämpft hatte, war ihr ein Trost. Wenn nun ihr Licht morgen erlosch, wer würde es bemerken? Wem würde das Erlöschen ihres Lebens auffallen? In der Fremde sterben zu müssen, war schlimm genug. Noch schlimmer war der Gedanke daran, wie es geschehen würde. Alleine, das Wissen, was danach kam, war tröstlich für sie. Das verlieh ihr die nötige Stärke, alles durchzustehen und nicht dem Wahnsinn zu verfallen.


    Siv begann zu sprechen. Sie erzählte von ihrem Mann. "Ragin..," wiederholte sie gedankenverloren den Namen. Als Siv ins Germanische wechselte, verstand sie nicht die Worte, doch sie glaubte, deren Sinn begriffen zu haben. "Ja!"


    Eine gespenstische Stille herrschte zwischen den beiden Frauen. Beide saßen sie auf einer der Klinen, die tagsüber den Herrschaften vorbehalten waren. Nun störte sich niemand daran, wer darauf Platz genommen hatte. Dabei sahen sie sich nicht gegenseitig an. Jedes Wort wäre nun störend gewesen. Vollkommenheit lag in der Stille.
    So verging die Zeit. Erbarmungslos verstrich sie, Minute um Minute, dem Morgengrauen entgegen. Bald würde man sie holen kommen.
    Als draußen langsam die Dunkelheit wich und das Licht der neugeborenen Sonne durch die Dachöffnung ins Innere des Atriums hinein fiel, erhob sich Fhionn. "Wir besser gehen zurück, in Unterkunft." Dort würde man sie vermuten, wenn man sie holen kommen wollte. Sie war jetzt bereit dafür!

  • [Blockierte Grafik: http://img231.imageshack.us/img231/9905/sklave4zp0.jpg]


    Alexandros hatte tiefe Augenringe, als er kurz vor Sonnenaufgang an das Gemach der Sklavinnen klopfte. Kaum ein Sklave hatte in dieser Nacht Schlaf gefunden. Die einen waren froh darüber, dass Matho nicht mehr unter ihnen weilte, die anderen entsetzt über die Courage, die Fhionn gezeigt hatte, doch keiner trauerte Matho nach. Es war, als konnte die Sklavenschaft endlich wieder aufatmen, auch wenn man dies bisher nur im Stillen tat und sich hütete, es auch nur leise auszusprechen.


    "Mädels?" erklang es von vor der Tür. "Ich bin's. Darf ich rein kommen?" Und schon öffnete sich die Tür und der hagere Sklave schleppte sich in den Raum, um auf Fhionns Bett Platz zu nehmen. "Ach je. Dass es so enden soll", sagte er traurig und hob die Schultern, Fhionns Bein dabei tätschelnd. Er hütete sich, eine Wertung abzugeben. "Soll ich dir die Haare machen?" fragte er matt. Er musste doch irgendetwas tun können! "Die erwarten dich eine Stunde nach Sonnenaufgang. Da bleibt noch ein bisschen Zeit."

  • Fhionn lag auf ihrem Lager. Doch sie schlief nicht. Die Augen weit aufgeschlagen, starrte sie im Halbdunkel zur Decke. Ihr Körper war schwer geworden. Allmählich brach die Müdigkeit durch. Doch dem Schlaf wollte sie widerstehen. Es galt, ihre Kräfte für das noch Bevorstehende zu sammeln. Danach konnte sie schlafen. Den ewigen Schlaf. Die Ruhe genießen, drüben in der Anderswelt.
    Als vor der Tür eine männliche Stimme erklang, fuhr sie auf. Jegliche Müdigkeit waren mir einem mal von ihr gefallen. War es schon so weit? Kam man sie nun holen? Noch ehe sie etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür. Fhionn stand mitterweile vor ihrem Bett. Ihr Herz raste. Die Angst kam zurück und wollte sie übermannen.
    Doch es war nur Alexandros, der plötzlich in der Tür stand. Er kam auf sie zu und ließ sich auf ihrem Bett nieder. Erleichtert atmete sie auf. Noch eine Stunde wollte man ihr gewähren. Sie setzte sich neben ihn und versuchte ihre Unruhe durch ein Lächeln zu verbergen.
    Eigentlich wares ihr alles andere nach Haare machen. Wozu auch noch? Was brachte es ihr, gut frisiert am Kreuz zu hängen? Doch sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Das hatte er nicht verdient.
    "Ja, das schön! Aber nur einfaches, bitte" Sie hatte es schon immer gemochte, wenn man ihr das Haar kämmte und vielleicht war ja ein einfacher Knoten auch passend.

  • Vielleicht bildete es sich Siv nur ein, aber sie meinte Verstehen in Fhionns Gesicht zu lesen, obwohl sie den letzten Teil auf Germanisch gesagt hatte. Möglicherweise ahnte die Keltin, was sie gesagt hatte, weil sie selbst darum wusste, was es hieß, ein Leben zu führen, das von Kämpfen geprägt war – nicht nur Kämpfen mit den Römern, sondern auch mit anderen Stämmen, und mit der Natur, der man nur allzu oft das Lebensnotwendige abringen musste… wofür so mancher mit dem Leben bezahlte. So war das Leben, im freien Germanien, und dort wo Fhionn herstammte wohl auch. Was es erträglich machte, war das Wissen, dass es nicht umsonst war. Was die Kämpfe mit den Römern manchmal so unerträglich machte, war das Wissen, dass es umsonst war. Sie kamen ständig wieder. Sie schafften es nicht, wirklich weiter vorzudringen, aber sie zogen sich auch nicht dauerhaft zurück. Sie waren oft genug in der Überzahl, und es wirkte oft genug, als seien sie übermächtig. Ein Mitglied des Clans, einen Freund, einen Bruder oder den Mann zu verlieren, war leichter zu verarbeiten, wenn man wusste, dass es in einem fairen Kampf geschehen war. Und Siv vermutete, dass dort, in eben dieser Gefühlsregung, das Verständnis Fhionns herrührte, ohne ihre Sprache zu sprechen.


    Es blieb still im Atrium, nach dieser Zustimmung der Keltin, die einem Ausruf gleichkam. Es blieb still – kein Knistern war zu hören, brannten die Flammen doch stetig auf der Grundlage von Öl, ganz anders als dann, wenn sie Holz als Nahrung hatten… Siv versank in eine Art Trance, ihr Blick gebunden an die Flamme der nächsten Öllampe, die so ruhig, ohne Flackern vor sich hin brannte, nachdem keine Bewegung im Atrium mehr einen Luftzug verursachen konnte, und ließ so keine Bilder erscheinen vor ihrem inneren Auge, gab ihr etwas wie Halt. Erst als durch die Öffnung im Dach die ersten Sonnenstrahlen herein fallen, sachte noch wie frischgefallener Schnee hereinschwebten und das Licht der Flammen nicht verdrängen konnten, noch nicht, erst da tauchte Siv wieder auf, blinzelte kurz und sah zu Fhionn, die sie in diesem Moment aufforderte, zu gehen. Die Germanin wäre gern noch im Atrium geblieben, aber sie wusste, dass die momentane Stimmung nicht mehr lange anhalten würde. Also nickte sie nur und folgte Fhionn, durch die Gänge hindurch zu der Unterkunft.


    Als sie den Schlafraum betraten, rührte sich dort nichts. Siv war sich nicht sicher, ob die anderen Sklavinnen nur vortäuschten zu schlafen oder es tatsächlich taten, und sie sah auch zwei weitere leere Betten – vielleicht waren sie geweckt worden, um die Stelle zu säubern, an der Matho seinen Tod gefunden hatte, vielleicht hatten die Aurelier, Corvinus und der andere, etwas gebraucht, denn Schlaf gefunden hatten sie sicher auch nicht, davon ging Siv zumindest aus. Sie brachte Fhionn zu ihrem Bett, wo sich die Keltin hinlegte, und setzte sich dann am Fußende auf den Boden, lehnte sich an den Pfosten dort und starrte ins Dunkle. Als es klopfte, sah sie ruckartig zur Tür. Ebenso wie Fhionn fragte sie sich, ob es das nun war. Ob sie die Keltin nun holten. Versuchte sich zu sammeln, für einen neuen Versuch, Corvinus von dem zu überzeugen, wie Matho gewesen war, und fühlte sich doch nicht bereit dafür. Aber als die Tür aufging, stand Alexandros dort, und die Germanin schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Schweigend musterte sie den Griechen, wie er hereinkam, wie er sich auf das Bett setzte, wie er anbot, Fhionn die Haare zu richten. Flüchtig zweifelte sie an Alexandros’ Verstand, aber das tat sie ohnehin des öfteren, und nach einem Moment meinte sie zu verstehen, dass er schlicht etwas tun wollte. Irgendetwas. Und Fhionn mochte es gut tun, ein wenig menschliche Nähe zu bekommen…

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    Alexandros seufzte gepeinigt, nickte nur auf Fhionns Einverständnis hin. Am Horizont zeigte sich erstes Rot, vermischt mit grauen Schlieren. Einige Öllampen erhellten den Raum, doch bald würden sie nicht mehr nötig sein. Alexandros zog einen grobzinkigen Kamm unter der Kordel seiner tunica hervor, rutschte herum und begann, Fhionns Haar zu kämmen. Sie hatten zu wenig Zeit und nur wenige Gelegenheiten gehabt, um einander kennenzulernen, fand er, doch die Einheit gegen Matho hatte sie zusammengeschmiedet, jeden einzelnen, der unter ihm hatte leiden müssen.


    Lethargisch kämmte Alexandros Fhionns Haar, tief versunken in Gedanken. "Also", sagte er plötzlich, hielt mit dem Kamm inne und vollführte eine theatralische Geste mit selbigem. "Das...das kann er doch nicht machen! Ich mein, wir haben ihm doch alle die Pest an den Hals gewünscht!" Aufgewühlt sah er von Fhionn zu Siv, die er jetzt auch ohne Öllampe sehen konnte. "Oder nicht?" Die Hand mit dem Kamm sank wieder, ebenso wie Alexandros' Schultern. "Das ist so ungerecht."

  • Der Grieche führte vorsichtig den Kamm durch Fhionns Haar. Sie schloß ihre Augen und fühlte sich fast an einen anderen Ort versetzt. Sie hatte es immer geliebt, wenn ihre Mutter oder ihre ältere Schwester ihr das Haar kämmte. Danach hatten sie sich gegenseitig frisiert und probierten an sich die neuesten Frisuren aus, so wie sie die römischen Frauen in Eburacum trugen. Das war nun schon so lange her. Fhionn wußte nicht, was aus ihrer Schwester geworden war. Sie hatte geheiratet und hatte mit ihrem Mann das Dorf in Richtung Norden verlassen, dort wo noch die freien Stämme lebten. Ob sie dort jemals angekommen waren, wusste sie nicht.
    Als Alexandros plötzlich inne hielt, öffneten sich auch Fhionns Augen wieder. Sie versuchte ihm zuzulächeln, so als wolle sie sich bedanken für sein Mitgefühl, das er ihr gegenüber aufbrachte.
    Doch das konnte er machen! Corvinus Worte waren ihr immer noch allgegenwärtig. Er hatte ihr nicht einmal die Gelegenheit gegeben, sich zu verteidigen und war nicht gewillt, sie oder Siv anzuhören. Sein Urteil war bereits beschlossene Sache und ihr Schicksal besiegelt.
    „Er nicht geglaubt. Er nicht kennen Matho. Er denken, Matho gute Mann…“ und für ihn bin ich eine kaltblütige Mörderin, die einen seiner unbescholtenen Sklaven niedergestochen hat und die nichts anderes als den Tod verdient hat!
    Womöglich war es ungerecht. Fhionn zweifelte mittlerweile selbst daran. Sie hatte einen Menschen umgebracht und dafür mußte man sie bestrafen, auch wenn ihr Opfer ein Tyrann war, der sich daraus einen Spaß gemacht hatte, sie und auch andere zu quälen.

  • Siv sah Alexandros dabei zu, wie er Fhionns Haar kämmte, sah, wie die Keltin die Augen schloss und einen friedlichen Gesichtsausdruck bekam, wie sie es genoss. Ihre Brust wurde eng, als der Wunsch auftauchte, irgendjemand würde sich um sie so kümmern – nein, nicht irgendjemand. Sie wünschte sich, Corvinus wäre da und würde ihr durchs Haar streichen, würde ihr helfen, die Bilder zu verbannen, die nach wie vor irgendwo in ihrem Kopf darauf lauerten, über sie herzufallen. Sie erschauerte kurz, als sie an die nächste Nacht dachte. An die Alpträume, die sie haben würde. Dann sah sie wieder zu Fhionn und schämte sich sofort. Sie wusste immerhin, dass sie die nächste Nacht noch erleben würde, die Keltin dagegen musste mit etwas ganz anderem fertig werden.


    Mit einem lautlosen Seufzen lehnte sie den Kopf zurück – und hob ihn gleich wieder, als Alexandros plötzlich anfing zu sprechen. Sie sah zu ihm, dann zu Fhionn, und nickte traurig. "Ich hab sagen, was Matho ist. Wie er ist. Aber…" Sie zuckte die Achseln und biss sich auf die Lippen. Alexandros wusste so gut wie jeder andere im Haus auch, wie es derzeit um ihr Verhältnis zu Corvinus bestellt war, genauer, dass Corvinus denkbar schlecht auf sie zu sprechen war. "Ich versuche neu, dann, morgen." Sie warf einen Blick aus dem Fenster und verbesserte sich: "Nachher." Langsam streckte sie die Beine aus – und zuckte im nächsten Moment zusammen. Ihre Augen weiteten sich, als sie den unteren Abschnitt ihrer Tunika und ihre nackten Füße sah. Sie waren über und über mit Blut beschmiert, was sie erst jetzt, durch das immer stärker werdende Licht der Sonne, sehen konnte. Sie bewegte ihre Zehen und konnte ihren Blick nicht davon wenden, als die roten Schlieren darauf in ihrer Fantasie zu Flammen wurden, zu schimmernden Lichtreflexen auf dunkelrotem Blut.

  • Für einen kurzen Moment nur, schien Fhionn dieser Welt entrückt zu sein. Sie hatte die Augen geschlossen und widmete ihre Gedanken nur Alexandros, der ihre Haare auf unvergleichbare Weise bändigen konnte. Dabei merkte sich nichts von Sivs Blicken, die auf ihr ruhten. Sie ahnte nicht von dem, was in ihrem Kopf vor ging. Sie wollte diesen schönen angenehmen Moment festhalten, so lange es ging. So als wüßte sie, wie man den erbarmungslosen Feind Zeit besiegen konnte.


    Doch dann vernahm sie Sivs Worte, aus der Verzweiflung unf Enttäuschung sprachen. Ja, sie hatte versucht, ihr zu helfen. Sie hatte sie verteidigen wollen. Ihre Bemühungen aber waren alle kläglich gescheitert. Jetzt machte die Germanin sich wahrscheinlich Vorwürfe, weil der Grund für Corvinus Abneigung ihr gegenüber, ihre Flucht gewesen war. Nein! Fhionn wollte nicht einen Augenblick auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden! Sie trug an dieser Sache keine Schuld! Das mußte sie wissen! Sie war nicht der auslösende Punkt gewesen. Wenn Fhionn nun gehen würde und Siv mit diesem Glauben zurück ließe, wäre das unerträglich für sie. Diesen verspäteten Sieg wollte sie Matho nicht gönnen!
    "Du nicht schuldig, Siv! Du mußt wissen! Du nicht schuldig! Nicht mache Sorge um mich! Du helfe mir. Danke Siv!"
    Sivs Worte, sie wolle Corvinus noch an diesem Morgen vor der Hinrichtung von Fhionns Unschuld überzeugen, kommentierte Fhionn nur mit einem dankenden Lächeln. Sie antwortete nichts darauf, weil sie sich schon denken konnte, daß die Germanin auch diesmal nicht erfolgreich sein würde.
    Sie umfaßte Alexandros´ Armgelenk, um ihm mitzuteilen, daß es genug war. Auch ihm schenkte sie ein dankendes Lächeln.
    Dann erhob sie sich und ging zu dem kleinen Fenster, um noch einmal hinauszublicken. Sie rechnete jeden Moment damit, daß jemand die Tür aufstieß und sie holen kam. Den Kampf gegen die Zeit würde sie auch diesmal wieder verlieren.

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