cubiculum Siv | Seelenspiegel

  • Ohne Wissen, Ohne Führung
    Finsternis umfängt den Geist
    Denn der Spiegel ist zerbrochen
    Der den Weg ins Licht Dir weist

    Kann der Mond zum Licht Dich führ'n,
    Den Schatten von der Seele nehm'?
    Öffnet dieser Schlüssel Tür'n,
    Kannst darin Du die Lösung sehn?

    So verlasse die Ruhe!
    Zerreiße die Ketten!
    Entfliehe den Banden!
    Dein' Geist zu erretten.



    Es war über eine Woche vergangen. Acht Tage, die nach der Geburt verstrichen waren. Und dies war die neunte Nacht. Am nächsten Morgen würde man ihm einen römischen Namen geben. Dem Jungen, der als freier Mensch geboren worden war, weil seine Mutter ihn als Freigelassene geboren hatte. Neun Tage gestand man dem Vater eines Knaben zu, ihn als seinen Spross anzuerkennen.


    Acht Tage waren verstrichen, und während es mir während der ersten zwei Tage noch schwer gefallen war, Sivs Zimmer auszuweichen, war es mit den darauffolgenden Tagen leichter geworden. Ich schlief nachts schlecht und nur wenig, was nicht nur an meiner Arbeit lag, sondern auch an den Gedanken, die mir im Kopf umhergeisterten. Ich hatte vermieden, mir meinen Jungen anzusehen und versäumt, ihn kennenzulernen. Ich war auch nicht bei Siv gewesen. Zwar ließ ich mir Bericht erstatten, wie es ihr ging, aber ich hatte sie nicht aufgesucht. Jedes Mal, wenn ich kurz davor gewesen war, es doch zu tun, hatte ich mir den Tag ihrer Freilassung wieder ins Gedächtnis gerufen. Wie sie reagiert hatte. Und wie ich mich gefühlt hatte, als sie mich damit konfrontiert hatte, was in ihr vor ging. Ich konnte es nicht. Ich war kein Mensch, der gut damit umgehen konnte. Ich wusste das inzwischen, und deswegen wich ich ihr aus. Ihr und dem Kind, meinem Sohn. Ich fürchtete, daran zerbrechen zu müssen, und deswegen vermied ich ganz den Kontakt. Ich aß zumeist allein, ich arbeitete oft außer Haus oder abgeschieden in meinem officium. Und ich redete mir ein, keine Zeit zu haben, bis ich abends im Bett lag und das Licht löschte. Dann konnte ich die Gedanken nicht länger zurückdrängen, indem ich mich ablenkte. Dann grübelte ich nach und musste mich zwingen, im Bett zu bleiben, bis ich schließlich einschlief.


    Heute nicht. Es war bereits nach Mitternacht, und ich hatte bis eben noch in meinem officium gesessen und gearbeitet. Jetzt stand ich unschlüssig in meinem dunklen Zimmer und dachte nach. Wenn ich noch ein wenig wartete, war Siv sicher eingeschlafen. Sie versorgte das Kind allein, hatte keine Amme. Immerhin war sie eine libertina. Ich würde uns beiden kein Gespräch aufbürden müssen. Ich konnte meinen Jungen einfach ansehen und wieder gehen, ohne dass sie es merkte. Ohne dass ich uns erneut in eine Situation brachte wie am Tag ihrer Freilassung. Und ohne dass ich mich noch einmal um meiner selbst Willen schämen musste, weil ich nicht fähig war, zu zeigen, was sie mir bedeutete.


    Der Entschluss war schneller gefasst als mir lieb war. Ich konnte mich selbst auch nicht mehr davon abbringen und entzündete gar nicht erst die Lampen in meinem Schlafgemach, sondern machte mich gleich auf den Weg. Wie ein Dieb schlich ich durch die nur schwach beleuchteten Gänge des dunklen Hauses. Alles war still. Jeder schien zu schlafen. Es beschämte mich, dass ich nicht fähig war, Siv zu einer angemessenen Tageszeit zu besuchen, sondern heimlich in ihr Zimmer schlich. Es beschämte mich zutiefst. Mein eigenes Unvermögen, selbst Siv gegenüber. Ich drängte die Gedanken fort. Ich musste ihn sehen. Solcherlei Gedanken waren fehl am Platze. Sollte ich mich nicht freuen? Sollte ich nicht froh sein, dass Siv gesund war und einen kernigen Knaben geboren hatte? Wenn die Dinge nur anders lägen. Ich sah mich um. Niemand war zu sehen, ich war ganz allein.


    Ich legte vorsichtig eine Hand an die Tür und lauschte. Es war kein Laut zu hören, kein Geräusch drang durch das Holz. Leise schob ich die Tür auf, hielt inne und strengte erneut meine Ohren an. Kein Rascheln zu vernehmen. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Die Orientierung fiel mir leicht, denn es brannte eine Öllampe auf kleiner Flamme. Ob Siv vergessen hatte, sie zu löschen? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, und dass es praktisch war, zum Stillen Licht zu haben, ging mir nicht auf. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich kam mir vor wie der unerwünschte Störenfried, den niemand bei sich haben will. Wie ein Eindringling, der die friedliche Idylle dieses Raumes störte. Das Zimmer war nicht riesig, aber geräumig genug. Die Wiege erkannte ich wieder, ich hatte sie Siv damals geschenkt. Ein paar Schritte vor ihr blieb ich stehen. Ich war nervös. Gleich würde ich meinen Sohn sehen. So laut, wie mein Herz schlug, glaubte ich, dass Siv jeden Augenblick erwachen würde. Doch nichts geschah, und so wagte ich den letzten Vorstoß, bis ich direkt neben dem Kinderbettchen stand und hineinsehen konnte.


    Dort unten, gewickelt in sauberes Leinen und fast verborgen unter einer warmen Decke, lag mein Sohn und schlief. Er war rosig und runzelig, er war winzig klein, und er war perfekt. Ich bemerkte, dass ich lächelte, über das ganze Gesicht strahlte, und versuchte es zu drosseln. Ein kleiner Mensch. Mein Sohn. Er hatte zehn winzige Finger. Und er machte im Schlaf leise Atemgeräusche. Ich biss mir auf die Lippe. Ich wollte ihn aufnehmen, doch ich wusste, was das bedeuten würde. Auch, wenn niemand anwesend war. Und ich konnte es nicht. Ich streckte langsam eine Hand vor, um dem Kind über den Kopf zu streichen. Kurz vorher zögerte ich. Was, wenn er aufwachte? Ich warf einen Blick zu Siv. Sie wirkte entspannt, wie sie dalag und schlief. Im Schlaf hatte sie die Knie angezogen, und eine Hand lag unter ihrem Kopf, die andere davor auf dem Bett. Wunderschön. Ich musste den Blick abwenden, und ich zog die Hand zurück. Ich fühlte mich plötzlich, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Das hier war, was ich wollte, und ich wusste, dass ich es niemals bekommen würde. Ich musste mich zwingen, ruhig zu atmen, dabei schüttelte mich der scharfe Schmerz in meinem Inneren so sehr, dass ich kaum Luft bekam. Ich presste die Kiefer aufeinander, die Lippen zusammen. Ich konnte es nicht. Das hier. Ich war unfähig, unfähig wie vor ein paar Wochen. Es hatte sich nichts geändert, auch wenn ich das hatte glauben wollen. Nichts war anders, gar nichts! Ich konnte es nicht zulassen, mich selbst nicht so weit gehen lassen, dass es funktionierte. Ich entfernte mich rückwärts von der Wiege und von Siv, bis das Atmen wieder leichter fiel. Die Hände waren zu Fäusten geballt, und die Knöchel traten weiß hervor. Es ging mir schlecht, alles in mir drehte sich, bog sich und waberte, drehte sich und erzitterte. Wie damals war es zu viel für mich. Ich konnte es nicht kontrollieren, das überstieg meine Fähigkeiten. Siv würde bald gehen. Nicht mehr lange, und sie wäre fort, außerhalb meiner Reichweite, und in jedem Falle besser dran. Ich musste mich darauf konzentrieren, nicht auf das Kind, nicht auf diese Situation, nicht darauf, dass hier mein Sohn lag und ihn nicht einmal berühren konnte, ohne mich selbst in ein Chaos zu stürzen, dessen ich nicht Herr war.


    Mein Atem ging nun wieder ruhiger. Ich machte mir nichts vor. Das hier sollte ein glückliches Ende sein, doch meine Wirklichkeit sah anders aus. Ich warf einen letzten Blick auf die Idylle. Mutter und Kind, einander so nah und vereint. Ich war der Eindringling, der nicht dazu gehörte und es niemals tun würde. Ich war der Schatten, den die Flamme warf.


    Leise floh ich aus dem Zimmer. Ich konnte mich selbst nicht ertragen.

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