• Das Bett bereiteten die Sklaven selbstverständlich als erstes vor, damit sich Sibel so schnell wie möglich hinlegen konnte, während man sie aus dem Balneum hinaus und nach oben trug. Avianus legte sie darauf ab, als die Sklaven zumindest damit fertig waren und schickte diese vorerst aus aus dem Zimmer, einerseits um dafür zu sorgen, dass Sibels Kleidung aus dem Balneum geholt wurde und der Medicus gleich nach oben kam, sobald er da war, andererseits um endlich einen Augenblick mit ihr allein zu haben. Später hätten die Sklaven noch genügend Zeit, den Raum, der Sibel fürs Erste zur Verfügung stehen würde, herzurichten.
    "Ein Medicus wird bald kommen und nach dir sehen", sprach er sie nun das erste Mal wieder direkt an, unsicher ob sie ihn überhaupt hörte, während er sie von dem feuchten Handtuch befreite und dabei die letzten Tropfen Wasser abwischte, die noch auf ihrer Haut hafteten - eine Arbeit, die er sicherlich auch einer Sklavin hätte überlassen können, hätte er denn gewollt. Bestimmt fühlte sie sich wohler, wenn er stattdessen bei ihr war, so hoffte er zumindest. Es waren schon immer nur er und sie gewesen, sie hatten alles immer zusammen durchgestanden, warum sollte es an diesem Tag anders sein. Hätte sie ihn jedenfalls nicht bei sich haben wollen oder gebraucht, hätte sie sich auch sicherlich nicht derart an ihn geklammert. Und wenn sie ihn brauchte oder auch nur wollte, war er bisher immer da gewesen.
    Er legte das Handtuch beiseite und nahm stattdessen eine der Wolldecken, die die Sklaven am Fußende des Bettes bereitgelegt hatten, breitete sie über ihr aus, setzte sich an den Rand des Bettes, um mit ihr auf den Medicus zu warten. Stumm betrachtete er sie, obwohl er sich zuvor noch vorgenommen hatte, sie zu fragen, was passiert war. Und natürlich führte daran kein Weg vorbei. Jetzt musste er sich aber eingestehen, er hatte ein wenig Angst vor ihrer Antwort. So viel hatte sie in ihrem Leben durchgestanden, und der heutige Abend ließ ihn mit der Frage zurück, wie viel sie noch ertragen würde, bevor sie daran zerbrach – so leicht verletzbar schien sie nämlich in diesem Augenblick, so zerbrechlich –, oder auch wie viel er wohl ertrug. Sicher war nur, wenn sie ging oder gar starb, würde sie ein gewaltiges Loch zurück lassen, von dem er nicht sicher war, ob es durch irgendetwas wieder zu füllen wäre.

  • Sibel hatte die Augen wieder aufgeschlagen, als sie sich auf einer weichen Unterlage wiederfand, das sich als Bett entpuppte und seine vertraute Stimme hörte. Ihre geröteten Augen und der blasse Teint sorgten für einen bestürzenden Anblick, der allerdings nur das wiederspiegelte, wie sie sich gerade fühlte. Alles, was sie und Avianus sich über die Jahre erschaffen hatten und was sie sich erträumt hatte, wollte heute innerhalb kürzester Zeit in ihren Händen zerbrechen. So dass nur noch Enttäuschung und Trauer übrig geblieben war. Da war doch der Tod ein willkommener Ausweg gewesen. Nun aber, da sie überlebt hatte, kam zu allem, was sie belastet hatte, auch noch die Scham dazu.


    Sie fand ihn am Rand des Bettes sitzend, nachdem er ihr erklärt hatte, dass der Medicus gleich komme. Er hatte eine wärme Decke über sie geschlagen. Alles fühlte sich so angenehm und bequem an. Doch nun hier zu liegen, war nur ein weiterer Höhepunk dieses furchtbaren Tages.
    Nachdenklich lag sein Blick auf ihr, der scheinbar versuchte, zu ihr hindurchzudringen, um endlich eine Antwort auf die eine Frage zu erhalten, nach dem Warum?!
    Warum hätte sielieber den Tod in Kauf genommen, als eines Tages ein selbst bestimmtes Leben zu führen? Und warum hatte sie aufgehört, an ihre Liebe zu glauben?
    Sie schämte sich so, ihm Rede und Antwort zu stehen und sie fürchtete sich auch davor, was er ihr antworten würde, denn ja, es stimmte, der Tod hatte etwas Befreiendes für sie gehabt… vorhin im Bad. Ob er ihr Glauben schenken mochte, dass sie es aus Liebe getan hatte?
    Nein, sie musste eine einzige undankbare Enttäuschung für ihn sein. Nun hatte er wirklich allen Grund, sie endgültig fallen zu lassen.
    „Es tut mir so leid,“ schluchzte sie leise. Ihre Hand schob sich langsam unter der wärmenden Decke hervor, um nach der seinen zu suchen.

  • "Es tut dir immer leid, Sibel …", entgegnete Avianus ihr. Es tut mir Leid … wie oft hatte er diese Worte bereits gehört. Beinahe jedes Mal, wenn sie sich getroffen hatten, so hatte er das Gefühl. So oft jedenfalls, dass sie inzwischen mit jedem weiteren Mal an Bedeutung verloren. Und es war im Grunde immer dasselbe. Sie geriet in Schwierigkeiten, tat etwas Unüberlegtes oder knickte schlicht unter der Last ihres Schicksals ein und seine Aufgabe war es scheinbar, sie stets wieder aus dem Sumpf zu ziehen und weiterzumachen. Aber noch nie war sie so weit gegangen wie heute. Ihr Blick hatte schon im Balneum Bände gesprochen, tat es jetzt immer noch, und nun kam ihre weinerliche Entschuldigung hinzu. Und kein Mensch ertrank einfach so im Balneum. Sie leblos auf den Fließen liegen zu sehen, hatte ihm bereits ein Schwert in den Rücken gerammt, dass sie es so gewollt hatte, drehte ihm die Klinge nur tiefer ins Fleisch. So sehr er es inzwischen gewohnt war, Stärke für zwei aufbringen zu müssen, irgendwann kam der Punkt, an dem auch er nicht mehr konnte.
    Sie hatte ihn aufgeben wollen, ihn in Schmerzen und Trauer zurücklassen wollen und noch dazu mit dem Gefühl, der Grund für ihren Tod zu sein. Nie könnte er ihr dasselbe antun, wäre er auch noch so verzweifelt. Sie hingegen wäre dazu in der Lage, und hatte es sogar versucht.
    Während er dasaß, wusste er weder, was er fühlen, noch, was er sagen sollte. Er war versucht, seine Emotionen, die nun nach dem ersten Schub an Erleichterung, dass sie überhaupt noch lebte, aus ihm herausbrechen wollten, weiter hinunterzuschlucken wie er es schon in den letzten Minuten getan hatte, um ihr die Zeit zu geben, sich ein wenig zu erholen, anstatt Wut, Verzweiflung und Enttäuschung freien Lauf zu lassen. Zumindest das hatte er in all der Zeit gemeinsam mit ihr und auch als Offizier inzwischen gelernt: Hinunterwürgen, was an Gefühlen die Situation nur komplizierter machte. Also riss er sich zusammen, weil sie ihm doch das Liebste auf der Welt war, glaubte er zumindest. Aber stumm konnte er nicht mehr bleiben.
    "Du weißt, dass du mir nichts Schlimmeres antun könntest …?", fragte er sie deshalb nach einer Weile und rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Er spürte, wie er an seine Grenzen stieß. Der Rest der Welt stand schon nicht auf ihrer Seite, wenn nun auch Sibel nicht nur endgültig aufgab sondern dazu ihn und ihre Liebe verriet, wie wollte er dann noch weitermachen?
    "Ich kann nicht mehr", stellte er schließlich leise fest.

  • Ihre Hand griff ins Leere, weil er es nicht zuließ. Seufzend schloss sie kurz die Augen, als für sie die Gewissheit greifbar wurde, dass dies nun das Ende war. Das Ende von allem. Letztendlich aber hatte sie mit dem, was sie getan hatte, doch etwas bewirkt. Sie hatte ihm die Entscheidung leichter gemacht. Auch wenn es für ihn gerade schmerzlich war. Doch es bereitete immer Schmerzen, wenn der Medicus die Aufgabe hatte, eine Geschwulst zu entfernen. Diese Wunde die im Moment noch klaffte, würde heilen und nach einiger Zeit würde nur noch eine Narbe davon zeugen, was gewesen war. Diese Erkenntnis allerdings war für Sibel kein Trost. Denn für sie hingegen würde eine Welt zusammenbrechen. Sie würde daran zerbrechen, wenn er sie nun verließ. Jeder weitere Atemzug würde einer einzigen Tortur gleichkommen und das bis zu ihrem Ende. Die einzige Hoffnung, die sie dann noch hegen konnte, war die, dass der Kummer und Schmerz sie bald dahinraffen würde, um eine ersehnte Erlösung zu erfahren.


    „Ich tat es für dich. Um es einfacher zu machen… um dir eine Entscheidung abzunehmen,“ brachte sie schließlich als Begründung hervor. Ihre Stimme klang belegt, denn es fiel ihr nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, die genau das ausdrückten, was sie fühlte und was sie zu ihrem Schritt bewogen hatte.
    „Allein der Gedanke daran, dass du mich fortschicken müsstest, hat mir alle Sinne geraubt. Auch nur einen Tag ohne dich leben zu müssen, hätte ich nicht ertragen können. Und dann plötzlich war es so einfach, sich hinunter gleiten zu lassen, um dieses fürchterliche Leben endlich abzustreifen zu können.“ Doch nun, da man sie dem Tod in letzter Minute doch noch entrissen hatte, war alles nur noch schlimmer geworden. Wenn er sich nun von ihr abwendete, war sie wieder einmal, wie schon so oft in ihrem Leben, auf sich allein gestellt. Sie gegen eine von kompromisslosen Normen geprägte Welt, in der kein Platz für ihre Träume war.


    „Nachdem du mich zu dir geholt hattest, glaubte ich, wir hätten es endlich geschafft. Uns stünde die Welt nun offen und es gäbe nichts mehr, was uns nun noch trennen könnte. Wie sich heute herausgestellt hat, war das von mir falsch gedacht.“ Immer würde der Makel ihrer Herkunft ihnen im Weg stehen und immer würde es jemanden geben, der an ihrer Beziehung zu einander etwas Anstößiges fand. Und nun war er es, der daran scheiterte.
    Er konnte nicht mehr, sagte er schließlich. Nicht dass er es nicht gewollt hätte, er hatte nun aber die Grenzen des Erträglichen erreicht. Diese Feststellung war für sie nun der endgültige Todesstoß, der ihr die an sich schon geröteten Augen wieder feucht werden ließ.

  • Dass sie lebte und wohlauf war, war doch immer das Wichtigste gewesen. Wie konnte sie auch nur ansatzweise glauben, ihm damit einen Gefallen zu tun, ihm das zu nehmen, was ihm noch mehr bedeutete als die Liebe zu ihr. Und eine Entscheidung zu treffen, hatte sie ihm durch ihr Handeln ebenfalls nicht leichter gemacht.
    "Wenn dem so ist … wenn es das ist, was du dann tun würdest ... deinem Leben ein Ende bereiten … wie soll ich dich dann jemals guten Gewissens gehen lassen?", fragte Avianus und schüttelte dabei leicht den Kopf. Wenn sie damit, sich fast umzubringen, etwas bewirkt hatte, dann nur, es ihm noch schwerer zu machen.
    "Aber so wie jetzt kann es auch nicht bleiben. Ich habe immer alles versucht, damit du eine Zukunft hast, in der es dir an nichts fehlt, und währenddessen musste ich dir noch ständig beweisen, dass ich dich nicht fallen lasse … und das konnte ich alles, weil ich wusste, dass du da bist …", erklärte er tonlos. Jetzt hingegen war Sibel scheinbar nur noch auf der Suche nach einem Ausweg, einem Schlupfloch, dabei war doch vollkommen klar, dass sie an dem Punkt, an dem ein halbwegs erträglicher Ausstieg möglich gewesen wäre, längst vorbei waren. Und ein Zurück gab es ebenso wenig. Blieb nur ein Ende, welches sie zweifellos beide gleichermaßen zerreißen würde, oder der Weg nach vorne. Weiter, vorwärts, wie er es als Soldat gewohnt war, bis das Schicksal ein Ende herbeiführte, doch ohne jeglichen Halt wusste er nicht wie.
    "… aber jetzt soll ich weitermachen, während du hinter mir einen Weg suchst, alles wieder einzureißen? Mit der ständigen Angst, dass du dich umbringst, wenn ich einen Augenblick lang nicht bei dir bin? Und dabei habe ich mit keinem Wort gesagt, dass ich dich fortschicken werde." Der einzige Schluss, zu dem er kommen konnte, war, dass sie es nicht mehr wollte ... ihr fürchterliches Leben. Sie hatte ihr Dasein offenbar satt und selbst er und was zwischen ihnen war oder zumindest in der Vergangenheit einmal existiert hatte war nicht mehr wertvoll genug, sie am Leben zu erhalten. Natürlich könnte sie immer etwas trennen, wie sollte er ihr widersprechen, sie war schlichtweg naiv gewesen, das Gegenteil zu glauben, aber war es wirklich besser, dann schon von vornherein aufzugeben? Er hatte sich selbst schon mit derartigen Gedanken herumgeplagt, sie allerdings jedes Mal verworfen. Vielleicht hatte sie Recht und er sollte sie gehen lassen und hoffen, dass jemand zur Stelle war, um ihn aufzufangen, denn wie sollte er ihr helfen, wenn sie sich dagegen stemmte. Nur wäre sie die einzige, die ihn in einer solchen Situation auffangen könnte.
    "Ich kann dich nicht wegschicken ... nur frage ich mich, ob du wirklich bleiben willst."

  • Schon von jeher herrschte tief im Inneren Sibels die Angst vor dem Verlust, die bereits in ihren Kindheitserlebnissen begründet war. Schon von klein auf hatte sie zuerst mit dem Verlust der Mutter, dann mit dem Verlust des Vaters und nicht zuletzt mit dem ihrer eigenen Freiheit zurechtkommen müssen. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie plötzlich auf sich allein gestellt war, in einer fremden Umgebung, ungeliebt und mit fremden Menschen, die ihr das Recht abgesprochen hatten, ein freier Mensch zu sein und sie stattdessen zu einem Möbelstück degradiert hatten. Von da an hatte sie stets in Angst gelebt. Angst vor Bestrafung, Angst, etwas falsch zu machen oder auch einfach nur zur falschen Zeit am falschen Platz zu sein.


    „Du weißt nicht, wie es ist, alles zu verlieren. und wenn ich alles sage, dann meine ich auch wirklich alles. Du weißt nicht, wie es ist, niemanden zu haben, der dich liebt und auffängt, wenn du einmal stolpern solltest oder der dich vor allem Unheil beschützt. Du hast deine Familie, die dir Halt gibt und die dich immer wieder auffängt. Du hast niemals erlebt, wie es ist, wirklich unfrei zu sein. Die Zeit deiner Gefangenschaft während des Bürgerkrieges war nur eine kleiner Klax im Vergleich zu dem, was ich erlebt habe. Doch wenigstens konntest du dabei ein kleinwenig erahnen, wie es ist. Ich kann nichts dafür, wie ich bin und wie ich fühle und wie ich handle. Man hat mich dazu gemacht, ständig in Angst zu leben. Angst, noch einmal das Liebste und Wertvollste zu verlieren.“ Hatte sie ihm das nicht schon einmal erklärt? Konnte er sich nicht einen Moment lang in sie hineinversetzen? Einmal nur fühlen, wie sie fühlte? Fast ihr ganzes Leben war von Verzicht und Gleichgültigkeit ihr gegenüber geprägt. Nachdem er in ihr Leben getreten war, hatte sie zum ersten Mal nach sehr langer Zeit wieder das Gefühl, endlich wieder ein Teil von etwas zu sein, geliebt und gebraucht zu werden und selbst wieder jemanden zu haben, der sie auffing, wenn sie einmal stolperte.


    „Die Angst, dich nicht mehr lieben zu dürfen und wieder allein da zustehen, von niemandem geliebt oder beachtet zu werden, war so groß. So sollte es niemals mehr in meinem Leben werden. Diesmal wollte ich das nicht noch einmal zulassen. Verstehst du..?“ Avianus hatte immer nur einen Blick für das jetzt und hier. Natürlich tat er alles Erdenkliche, dass es ihr gut ging. Dafür war sie ihm auch unendlich dankbar. Und dennoch schwang bei allem ihre latente Furcht mit, ein zweites Mal den Halt in ihrem Leben zu verlieren. Ein gebranntes Kind scheute eben das Feuer!
    Für sie klang es nun wie eine Drohung, dass sich etwas ändern müsse, da es nicht so bleiben konnte, wie es jetzt war. Aber was hätte sie denn machen sollen? Gerade nach solch schönen Tagen des Glücks, sah sie sich nun wieder direkt vor einem Abgrund stehen. Nein, Sibel war bei weitem kein einfaches Wesen. Wer sich auf sie einließ, brauchte viel Geduld mit ihr. Deshalb hätte sie es ihm nicht verdenken können, wenn für ihn nun dieser Punkt erreicht war, wo genug eben genug war.


    „Es ging doch nicht um einen Augenblick! Nein, du sagtest auch nicht, dass du mich fortschicken wirst, aber es ist doch die logische Schlussfolgerung daraus. Wenn du und ich zusammenbleiben, dann verbaust du dir damit alles und deine Familie wird dich dafür verachten. Die Familie ist es, die dir Halt im Leben gibt. Wenn du sie verlierst, dann fällst du ins Unermessliche.“ Keiner konnte das so gut wie sie selbst nachvollziehen. „Und glaube mir, die Frage lautete nie, ob ich wirklich bei dir bleiben will. Wenn es etwas gibt auf der Welt, was ich mir am meisten wünsche, dann ist es das! Bei dir zu bleiben, egal wie. Auch wenn ich dich nur aus der Ferne sehen kann, aber ich weiß, dass ich noch dort drinnen bin,“ sie deutete auf sein Herz, „dann wäre ich schon glücklich.“

  • Etwas in ihm wollte sich aufbäumen gegen ihre Rechtfertigungen und Ausflüchte, ihre Vergangenheit und andere Leute hätten Schuld daran, was sie tat als hätte sie keine andere Wahl, wie sie sich hinter ihrem Dasein als Sklavin versteckte, alle ihre Fehler darauf schob. Gefühle und Erinnerungen waren das eine, Handeln etwas anderes. Das eine musste nicht zwangsläufig das andere beeinflussen, oder?
    "Nein, ich weiß nicht wie das ist. Aber glaubst du, ich hatte nie Angst vor irgendetwas? Keine Angst, dich zu verlieren? Nur lass ich nicht mein Leben davon bestimmen. Ich habe eine Scheißangst davor, dich zu verlieren, aber ich weiß, wenn ich dieser Angst nachgebe, verliere ich dich erst recht", entgegnete Avianus. In seinen bisher so kontrollierten Gesichtszügen regte sich wieder etwas, Falten gruben sich in seine Stirn und er biss sich kurz auf die Lippe.
    "Ich verstehe, was du meinst …" Nur nachvollziehen konnte er es nicht. Wie sie darauf kam, dass sie, sobald ihre Beziehung ein Ende fand, wieder vollkommen alleine dastand, war ihm schleierhaft. "... aber ich habe dich nicht vollkommen ohne Plan gekauft, Sibel. Wenn du mir nur ein einziges verdammtes Mal vertrauen würdest, mich nur einmal machen lassen würdest, dann müsstest du nie wieder in deinem Leben allein dastehen. Du könntest frei sein und würdest sogar den Namen meiner Gens tragen. Als Iunia wärst du sicherlich nicht allein." Tat sie aber nicht. Wie oft hatte er sie bereits darum gebeten, ihm zu glauben, wenn er sagte, sie könne sich auf ihn verlassen, und machte seine Rechnung jedes Mal ohne ihre Furcht vor ihrer eigenen Vergangenheit. Schon das allein raubte so viel Kraft und es war immer dasselbe. Langsam war er es leid, aber was sollte er tun, es half ja scheinbar alles nichts.
    "Oder vielleicht habe ich auch das Glück, sollte ich es tatsächlich einmal schaffen, in den Ordo Equester aufzusteigen, ans andere Ende der Welt versetzt zu werden, wo es kein Schwein interessiert, mit wem ich zusammen bin. Deine Angst blendet dich so sehr, dass du all diese Dinge gar nicht siehst, und mir gibst du keine Zeit nachzudenken." Ärger schwang in seiner Stimme mit. Um nicht damit anzufangen herumzugestikulieren, stützte er die Hände leicht verkrampft auf seine Knie. Wenn er sich in der Vergangenheit genauso verhalten hätte wie sie und bei jedem Unwetter versucht hätte, vom Schiff zu springen, niemals wären sie dann bis hierher gekommen. Und so weit, wie sie inzwischen gekommen waren, hätte er sich damals in den Gärten nie zu träumen gewagt. Sibel wäre dennoch bereit gewesen alles aufzugeben.
    "Ja, ich habe Angst, ja, ich weiß nicht, was ich machen soll, und ja, es war bescheuert zu glauben, das mit uns könnte irgendwann einfacher sein. Aber deswegen werfe ich noch lange nicht alles aus dem Fenster und nur weil ich das nicht mache, heißt das noch lange nicht, dass ich mir damit alle Möglichkeiten verbaue. Habe ich mir bisher irgendetwas verbaut? Verachtet mich irgendjemand? Verdammt, Seneca akzeptiert es sogar!"

  • „Ich bin nicht so mutig wie du,“ gab sie zu bedenken und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Vielleicht war ich es an dem Tag, an dem ich von Misenum fort ging. Die Aussicht, alles hinter mir lassen zu können hat mir diesen Mut gegeben, der mich schließlich bis nach Rom gebracht hat.“ Sie erinnerte sich an die ersten Tage in ihrem neuen Leben. Sie war so voller Hoffnung damals, dass sie es hier schaffen würde, ein neues Leben aufzubauen. Doch nur kurze Zeit später war sie wieder in neue Abhängigkeiten geraten. Doch hier hatte sie auch etwas gefunden, was sie bis dato nicht gekannt hatte. Ja, damals war sie mutig gewesen, ausgerechnet dem Urbaner zur Hilfe zu kommen, der sie zuvor als entflohene Sklavin entlarvt hatte und am liebsten eingesperrt hätte. Von diesem Mut schien aber im Augenblick nichts mehr vorhanden zu sein. Überhaupt hatte ihr schon von jeher der Mut gefehlt, sich wirklich voll und ganz auf einen anderen Menschen einzulassen. Darauf zu hoffen, dass er sie auffing, wenn sie fiel. Das alte Thema, über das sie schon so oft gesprochen hatten. Immer wieder hatte sie ihm versprochen, sich zu bessern, voll und ganz auf ihn zu bauen. Nur hatte sie es nie richtig hinbekommen. Ab und zu waren einige Zweifel geblieben, und zu viele Gedanken, die sie verunsicherten. Und ständig diese verdammte Angst!


    „Glaub mir, ich habe es immer wieder versucht, allen Widrigkeiten zum Trotz mich fallen zu lassen und darauf zu hoffen, dass du dann da bist, um mich aufzufangen. Manchmal ist mir das auch gelungen und ich hätte eigentlich sehen müssen, dass es immer so sein wird. Nur manchmal haben mich einfach meine Gefühle und Ängste so sehr im Griff, dass ich nicht anders kann. Was soll ich denn dagegen machen? Ich weiß es nicht, was ich dagegen tun soll! Und dann ständig dieses Gefühl, dass ich nichts wert bin, dass ich es nicht wert bin, geliebt zu werden. Ich kann nicht anders, man hat mich so dazu erzogen, nur immer ja zu sagen und alles zu schlucken. Wenn ich doch nur endlich den Mut dazu finden könnte, einmal all diese Ketten abzuschütteln, die mich zu etwas zwingen, was ich eigentlich gar nicht will und wenn ich mich dann endlich auch nur auf das Jetzt konzentrieren bräuchte und heute nicht schon über das Übermorgen grübeln müsste, dann wäre mein Leben viel leichter und unkomplizierter. So aber verrenne ich mich jedes Mal in noch absurdere Situationen.“ Endlich hatte sie es einmal versucht, sich alles von der Seele zu reden, was sie so sein ließ, wie sie war und auf den ersten Blick hin fühlte sie sich dadurch auch etwas befreiter. Dennoch änderte dies nicht an der Sache als solches.
    „Ich weiß nicht, was für uns das Beste wäre,“ sagte sie nach einer Pause. „Wenn es denn noch ein „uns“ geben kann, denn ich habe dich ja schon wieder enttäuscht, wie so oft schon davor. Du hättest bestimmt etwas Besseres verdient, als mich.“ Wieder rann eine Träne an ihrer Wange herab. „Es war bescheuert von mir zu glauben, ich löse deine und meine Probleme, indem ich mich aus dem Staub mache.“

  • Als sie ihm gegenüber ihr Herz ausschüttete, hatte Avianus das Gefühl, dass es falsch gewesen war, sie seinen Ärger spüren zu lassen. Er kannte schließlich ihre Vergangenheit und wusste, dass ihr dadurch manches schwer fiel. Allerdings musste er es doch sagen, denn wenn er es nicht tat, geschah erst recht nichts, und es konnte ihr nicht gut tun, wenn sie zuließ, dass ihre Zukunft ständig von den unangenehmen Erlebnissen ihrer Vergangenheit beeinflusst wurde. So eingehend wie heute hatte sie sich bisher noch nie darüber ausgesprochen, sodass er, so schmerzhaft was sie sagte auch sein mochte, er sich anschließend etwas besser fühlte. Ein wenig versöhnt wandte er sich ihr ganz zu und beugte sich etwas zu ihr hinab. Tränen benetzten ihre Wangen. Wer auch immer glaubte, seine Sibel wäre nichts wert, konnte nicht ganz richtig sein. Natürlich, sie war für die Aurii lediglich eine Sklavin gewesen, eine Sache, ein Hilfsmittel, ein wandelndes Möbelstück, dessen war er sich absolut bewusst. Aber sie anzublicken und zu versuchen zu verstehen, wie jemand so über sie dachte, fühlte sich verrückt an. Er wischte die Tränen weg.
    "Du weißt gar nicht, wie viel du wert bist. Würde ich morgen alles verlieren, was ich habe, und würde sich jeder von mir abwenden … ich weiß, du wärst noch immer da. Noch dazu bist du das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen habe, und du hast so viel mehr verdient als ich dir bieten kann. Würde man mich lassen, würde ich mein Leben mit dir verbringen. Was man dir erzählt hat, waren nichts als Lügen", sagte er und ließ keine Zweifel, dass er seine Worte ehrlich meinte.
    Nur darauf, was für sie beide wohl am besten wäre, wusste auch er keine passende Antwort, zumindest nicht heute. Sorgenfalten wurden zwischen seinen Brauen sichtbar, weil er ihr vielleicht nicht die Antwort geben würde, die sie sich wünschte.
    "Ich sagte schon, dass ich dich nicht wegschicken werde, aber ich brauche ein wenig Zeit zum Nachdenken. Was heute passiert ist, war ein wenig viel für einen Tag."

  • Auch wenn sie soeben ihr Herz ausgeschüttet hatte und dabei ihr Inneres nach außen gekehrt hatte, so hatte dieses Gefühl der Befreiung nur kurz angehalten. Der Kummer, den sie noch immer empfand, hatte all das wieder schnell relativiert, denn dadurch hatte sich nichts grundlegendes verändert. Ganz gleich, wie sie es dreht und wendete, sie würde niemals aus ihrer Haut schlüpfen können. Dafür brauchte es einfach Zeit du vor allem Geduld.


    Avianus zumindest hatte damit aufgehört, sie mit Vorwürfen zu überschütten. Er hatte sich zu ihr hin gebeugt und trocknete nun sanft ihre Wangen. Auch die Schärfe in seiner Stimme war verschwunden. Wie er nun mit ihr sprach, war so rührend. Nach allem, was heute geschehen war, war das wie Balsam für Sibels geschundene Seele, auch wenn er ihr nicht sagen konnte, wie die Zukunft aussah. Doch gerade das verstärkte die Aufrichtigkeit, mit der er sich an sie wandte. Sie war für ihn wertvoll und sie habe mehr verdient, als er ihr geben konnte, sagte er ihr.
    Wieder hatten sich Sorgenfalten auf seiner Stirn gebildet. Dabei hatte sie ihm doch nicht noch mehr Kummer bereiten wollen.
    „Du hast mir doch schon so viel gegeben. Mehr als ich mir je erträumt habe.“ Noch einmal startete sie den Versuch und schob ihre Hand und der Decke hervor. Nach allem was vorgefallen war, wollte sie ihm eigentlich nur noch ganz nah sein. Denn beinahe hätte sie den größten Fehler ihres Lebens begangen.
    Dass er nun Zeit zum Nachdenken brauchte verstand sie. Im Augenblick war für sie sowieso nur wichtig, dass er sie nicht wegschicken würde. Auch wenn die Zukunft ungewiss war. Auch hierbei würde sie Geduld haben müssen und durfte niemals die Hoffnung aufgeben.
    Ihre Aussprache, die bitter nötig gewesen war, hatte ihr viel abverlangt. Erschöpft schloss sie die Augen. Wahrscheinlich würde der Medicus schon bald kommen.

  • Viel zu selten machte er ihr solche Komplimente, dachte er nur, als er ein Stück weiter zum Kopfende des Bettes rutschte, um sich dort anzulehnen. Wie oft hatte er ihr etwa gesagt, wie wunderschön sie war? Einmal? Zweimal? Es war fast schon ein wenig peinlich. Denn gedacht hatte er es doch jedes Mal, wenn er sie getroffen hatte. Und noch dazu wusste er, das auch ein kleines Kompliment manchmal viel wert war, nur hatte er zwischen all den Sorgen und Schwierigkeiten, die sich ihnen ständig in den Weg stellten, viel zu wenig darauf geachtet. Manche Dinge musste auch er erst noch lernen, so schien es.
    Er sah, wie Ihre Hand unter der Decke hervorwanderte, als sie nun stumm dalag. Ahnend, dass das gemeinsame Gespräch ihr den letzten Rest ihrer Kräfte, an denen der heutige Tag schon so sehr gezehrt hatte, geraubt hatte, griff er nach der Hand und umschloss sie mit seiner. Mit der anderen Hand strich er ihr zärtlich durch die Haare. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihr Ruhe zu gönnen und keine Diskussion zu starten, doch zumindest hatten sie sich ausgesprochen. Besser jetzt als gar nie, redete er sich ein. Dennoch betrachtete er Sibel nachdenklich, etwa weil er sich fragte, ob ihre heutige Unterhaltung mehr Früchte tragen würde als jene davor.
    Langsam fiel auch von ihm die Anspannung ab, während er darauf wartete, dass es schließlich an der Tür klopfte und er dann, wenn er dem Medicus Platz machen musste, gezwungen war sich vom Bett zurückzuziehen.

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