Die Elenden - Einmal Abgrund und zurück

  • Den Tag nach der Moralpredigt seines Vaters verbrachte Nero allein in seinem aufgeräumten Zimmer. Er starrte die Truhe an, doch öffnete sie nicht. Dann starrte er über Stunden an die Wand, unfähig, ein Körperteil zu rühren oder etwas zu sagen. In seinem Geist nagte die Frage, ob sein Vater recht damit haben könnte, was er alles sei. Dass er Schande bringen würde über das Haus seiner Familie, über seinen Vater und über seine verstorbene Mutter. Dass er es verdiente, ad bestias zu enden. Zu weinen hatte er sich schon als Kleinkind abgewöhnt, da niemand je auf seine Tränen reagiert hatte, doch innerer Schmerz zog ihm seine Kehle so sehr zusammen, dass er bisweilen Mühe hatte, zu atmen.


    Als die Sonne unterging, gelang es ihm, aufzustehen, weil der Nachttopf ihn mittlerweile sehr dringend rief. Und danach packte er seinen Beutel mit den üblichen Dingen: einem zweiten wollenen Überwurf, falls er draußen einschlief, einige kleine Amphoren mit Wein, seine keltische Bronzepfeife und das parthische Kraut, eingeschlagen in ein Ledermäppchen, und ein wenig Geld, das nur für diesen einen Abend reichen würde. Falls ihn jemand ausraubte, wäre das bei dieser Summe kein dramatischer Verlust. Essen nahm er keines mit. In mehrere Tunicae gehüllt, die dem kalten Winterwetter Rechnung trugen, mit einem Wollmantel und mit Socken in den Caligae und den Beutel über der Schulter, machte Nero sich auf zu dem einsamen Streifzug hinaus in die Dunkelheit.


    Die Amphoren klimperten bei jedem Schritt auf seinem Rücken. Der Nachtwind schleuderte ihm Schneeflocken entgegen, so dass er die Kapuze seines Wollmantels über das blonde Haar zog, als er in die Gassen der Subura einbog, stockfinster um diese Zeit, lediglich spärlich beleuchtet von der Beleuchtung der vorbeidonnernden Fuhrwerke oder jenem Licht, was durch die Fenster nach außen drang. Sein Ziel war die halbhohe Mauer im Hinterhof einer Insula, in der sich eine Taberna befand. Dort saßen oft Leute, die sich keinen Tabernabesuch leisten konnten und darum draußen ihren mitgebrachten Wein tranken. Er wusste nicht, ob er dort jemand treffen würde, den er kannte. Nach der ersten Amphore wäre das auch gleichgültig.

  • Kalt war es und eisig und dieser Umstand war nicht allein dem Wetter geschuldet. Apollinaris hatte die Villa Neros verlassen, so wie es dessen Verwandte gefordert hatten. Der Tucci hatte alles in seiner Macht stehende getan, um seinen Freund zu beschützen. Kurzum, er hatte gelogen, dass sich die Balken bogen. Nun zog er alleine nachdenklich durch die Straßen und durch die verschneite Nacht. Eine Bleibe hatte er nicht, seine Hoffnung war es gewesen bei seinem Freund unter zu kommen, bis er dieses Problem behoben hatte. Seine Hoffnungen waren jäh zerschlagen worden, wie so manche Amophore die im Garten der Villa zersplittert worden war. Sie hatten es sich zu gut gehen lassen, dafür ging es ihm jetzt schlecht.


    Aber was beklagte er sich? Sein Problem war lediglich das fehlende Dach über dem Kopf. Neros Problem hatte die Höhe von einem Gebirgszug. Wein und Kraut, sein Freund war auf der Flucht und rannte weg ohne ein Fuß dabei vor die Villa zu setzen.


    Apollinaris hielt auf die Subura zu, dort gab es eine Taberna deren Preise erschwinglich waren und wo er sich etwas aufwärmen konnte. Der Weg war weit, oder er kam ihm unendlich langgezogen vor, da er kaum die eigene Hand vor Augen sah. Das spärliche Licht, dass ab und an seinen Weg beleuchtete, machte die Sache kaum besser. So irrte er mehr durch die dunklen Gassen, als das er einem bestimmten Weg folgte.


    Sein Maßstab war der Geräuschpegel, in und um eine Taberna ging es laut und gesellig zu. Hinzu kam die Wärme der Speisen und des Feuers, all das was Apollinaris jetzt dringend benötigte. Einen warmen Ort wo er rasten und die Nacht verbringen konnte. Endlich kam die Taberna in Sicht. Trotz der schummrigen Beleuchtung, war sie eine Lichtinsel in der Finsternis.


    Apo blieb unvermittelt stehen. Das war doch Nero! Als er seinen Freund das letzte Mal gesehen hatte, lag er betäubt auf dem Boden. Apollinaris fasste seine Tasche fester und ging auf Nero zu.


    "Nero? Was machst Du denn hier? Hat Dein Vater Dich hinausgeworfen?", fragte Apo ungläubig und packte seinen Freund zur Begrüßung bei den Schultern, ganz so als wollte er sich versichern, dass dieser auch wirklich da war.

  • Nero nahm die fast leere Amphore von den Lippen und drehte sich um. Er hob den Arm, krallte ihn dem anderen um die Schultern und drückte Apollinaris fest an sich. Wie das im Suff so üblich war, drückte er ihn länger als notwendig gewesen wäre.


    "Vater hat mich nicht rausgeworfen, er hat mich eingesperrt. Ich darf von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang die Villa nicht verlassen und auch keinen Besuch mehr empfangen. Drum bin ich jetzt erstmal raus, den Kopf auslüften. Was machst du denn hier in der Gegend? Ich wollte schauen, ob die Zwillinge da sind und finde dich."

  • Apollinaris drückte Nero fest an sich, denn genau das schien sein Freund am nötigsten zu haben. Als sie sich von einander lösten, hakte Apo Nero unter und betrat gemeinsam mit seinem Freund die Taberna. Der kleine Verschlag war gut gefüllt, vor dem Feuer saßen einige Reisende die vergeblich versuchten, ihre Sandalen vom Straßendreck zu reinigen. Der Innenraum war warm, laut und in der stickigen Luft lag eine Duftmischung aus Essen, Nässe und Menschen. Die Gäste schauten kurz zur Tür, als die beiden jungen Männer eintraten. Kalter Wind begleitete Nero und Apo, dann fiel die Tür ins Schloss und sperrte das kalte Wetter wieder aus. Die Blicke der Gäste hafteten nicht länger auf den beiden. Jeder ging hier seinen Angelegenheiten nach, einige stillschweigend, die anderen redseelig von den genossenen Getränken.


    Apo führte Nero an einen der kleinen Tische und nahm auf einem der dazugehörigen Hocker Platz. Seine Tasche ließ Apollinaris um die Schultern hängen, er zog sie nur nach vorne auf seinen Schoß. Die Taberna füllte sich weiter. Die Nacht war zwar finster, aber noch jung und das Schneegestöber trieb weiter Gäste in den abgerissenen Schuppen.


    "Du hast die Flucht ergriffen, diesmal nicht über Wein oder Kraut, sondern wirklich. Nero ich weiß nicht ob ich Dich bedauern oder zu diesem Schritt beglückwünschen soll. Im Grunde möchte ich beides. Die Villa hat Dein Vater umfunktioniert zum Carcer. Das er Deine anderen Gäste herauswirft, habe ich noch verstanden. Aber mich? Nun mein Name zeugt nicht von schlechter Herkunft. Aber wer weiß schon, was sie über mich gedacht haben? Ich hoffe Du hast trotz allem nicht zu großen Ärger bekommen. So gut es geht, habe ich versucht Deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Die Version des Abends die ich zum Besten gegeben habe, war extrem geschönt. Kurzum ich habe alle Schuld Tarkyaris dem Händler in die Schuhe geschoben. Niemand kennt ihn, niemand von Deiner Familie wird ihn je wiedersehen. Sei es drum, dass sie ihn verabscheuen. Ich hatte gehofft, dass sie danach von Dir ein anderes, besseres Bild haben.


    Aber scheinbar war meine gut gemeinte Lügengeschichte nicht gut genug. Wirst Du nach Hause zurückkehren Nero? Ich habe zur Zeit kein Dach über dem Kopf und ich werde mir hier ein Zimmer nehmen. Erwarte nichts Großartiges, aber um nicht auf der Straße schlafen zu müssen wird es reichen für die erste Zeit. Gleichzeitig werde ich nach etwas Besserem Ausschau halten. Was hältst Du davon, bei mir zu bleiben? Was hast Du schon zu verlieren? Und vielleicht merkt Dein Vater dann doch, dass er einen Sohn hat und ihn vermisst. Das kann ich Dir natürlich nicht versprechen, möglich wäre es jedoch. Und falls nicht, dann weißt Du wenigstens woran Du bist Nero. Was sagst Du?", fragte Apollinaris.


    Apo stand noch einmal schnell auf, orderte für jeden eine Portion Puls, Mulsum und ein Zimmer. Im Anschluss kehrte er zu Nero zurück und grinste ihn an.

    "Essen, Getränke und ein Zimmer sind geordert", erklärte er.


    Einen Augenblick später wurde ihnen das Essen und die Getränke serviert und Apo schaute gut gelaunt in seine farblich trübe Nachtmahlzeit.


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    "Guten Hunger Nero", sagte Apo freundlich und nahm den Holzlöffel zur Hand.

  • Nero schob Apollinaris ein paar Münzen hinüber, so dass sein Speis und Trank bezahlt waren und das von Apollinaris gleich dazu. Das war das Mindeste für die freundliche Einladung.


    "Du hast kein Dach über dem Kopf? Das ist ja furchtbar, besonders bei dieser Witterung. Ewig wird dein Geld nicht reichen, oder hast du Einkünfte? Auf der Straße werde ich dich nicht wohnen lassen. Vater hat mir den Geldhahn zugedreht, 50 Sesterze bekomme ich noch im Monat, aber das wird für uns beide reichen im Notfall. Essen und trinken kann ich ja zu Hause."


    Nero löffelte seinen heißen Getreidebrei. Er war freilich Besseres gewohnt, doch hier schmeckte vor allem die Geste mit, dass jemand, der selbst im Moment fast nichts hatte, sein Bisschen mit ihm teilte in dieser einsamen Winternacht.


    "Du meinst, ich sollte nicht mehr nach Hause kommen, um zu testen, ob Vater mich dann überhaupt vermisst? Oder ob er froh ist bei dem Gedanken, ich könnte irgendwo im Rausch unter die Räder eines Ochsenkarrens gekommen sein?"

  • Apolinaris nickte dankbar und anerkennend. Nero war wirklich ein guter Freund, ein Mann den jeder verkannte. Jemand der schlichtweg einfach einmal gesehen werden wollte. Ging das nicht im Guten, wählte man das Schlechte. Aber scheinbar zog dort Neros Vater gleich. Er war weder gut, noch böse, es war viel schlimmer, er war gleichgültig. Vielleicht würde der Mann merken, wie sehr er Nero mochte, wenn Nero verschwunden war. Möglicherweise würde er begreifen, was er an ihm gehabt hatte, wenn er fort war.


    Hörte er nicht, das Nero schrie, ohne einen Ton von sich zu geben? Sah er nicht das Nero weinte, ohne eine Träne zu vergießen? Fühlte er nicht, was Nero sich wünschte, ohne je eine Bitte zu äußern? Sah er nicht, dass Nero für ihn kämpfte um ihn für sich zu gewinnen?


    Neros Verhalten mochte auf den ersten Blick abschreckend wirken, es war forsch und es war provokant. Aber all das diente nur einem Zweck und zwar die Aufmerksamkeit und die Liebe seines Vaters zu gewinnen. Er hatte seine Mutter verloren und seinen Vater scheinbar nie für sich gewinnen können. Was also sollte er tun? Daran laut- und klaglos zerbrechen?


    Apollinaris starrte in den Puls, als ob er dort alle Antworten der Welt finden würde. Sein Blick hob sich langsam und er schaute seinem Freund in die Augen. Er blinzelte langsam und nahm einen Löffel Puls, ehe er antwortete.


    "Genau das sollst Du tun, Du verschaffst Dir damit Gewissheit. Allerdings überlege es Dir gut, manche Wahrheit hätte man lieber nie erfahren. Ich hingegen würde die Wahrheit wissen wollen Nero. Denn am Ende kämpfst Du um die Gunst und Liebe eines Mannes, wo Du den Kampf schon längst verloren hast. Ich weiß was ich sehe, aber was nützt es Dir, dass ich Dich sehe? Wo Du einen Vater brauchst", antwortete Apo leise und drückte kurz Neros Hand.

  • Nero schluckte den restlichen Getreidebrei herunter und blickte in die leere Schale, als er den Händedruck erwiderte. Es tat gut, in dieser finsteren Stunde einen Freund an der Seite zu haben.


    "Ich kenne die Antwort. Mein Vater verabscheut mich, vielleicht hasst er mich sogar. Es ist, weil ich meine Mutter umgebracht habe. Sie war während der Schwangerschaft wohl schon nicht gut drauf, so als würde ich sie von innen heraus aufgezehrt haben. Und als ich geboren wurde, war ich riesengroß. Sie aber hörte sie nicht mehr auf zu bluten und starb."

  • Apollinaris leckte seinen Holzlöffel sauber, legte ihn zur Seite und schaute Nero fassungslos an.


    "Du hast Deine Mutter umgebracht? DU? Nero, Du warst ein Baby und Babys können niemanden umbringen. Was Du dort schilderst, ist ein grauenvolles Schicksal. Ein Heiler hätte Deiner Mutter beistehen müssen. Oder jemand mit solchen Fähigkeiten, ich habe keine Ahnung davon. Aber Dir zu unterstellen, Du hättest Deine Mutter umgebracht. Dann denk die Anklage einmal weiter. Was war Dein Verbrechen? Geboren zu werden?


    Wenn Deine Mutter derart krank war, hätte Dein Vater mit dieser Frau keine Kinder zeugen dürfen. Weißt Du, man findet immer einen Schuldigen, wenn man nur lange genug sucht. Sogar ich, ich habe für unseren Mist Tarkyaris ans Messer geliefert. Du verstehst was ich meine? Man kann sich mit solchen Anschuldigungen auch etwas schön reden und etwas von sich schieben.


    Letztendlich hast weder Du noch Dein Vater Deine Mutter umgebracht. Das war Schicksal Nero und zwar ein verdammt hartes. Anstatt Dich für den Verlust Deiner Mutter verantwortlich zu machen, sollte Dein Vater Dich lieben. Du bist das Einzige, was er noch von ihr hat. Du bist ein Teil von ihr und ihm. Ihr könntet Euch beistehen, gemeinsam an sie denken und Dein Vater könnte Dir von ihr erzählen. Das ist ein sehr finsterer Weg für einen sonst so scheinbar in sich ruhenden Mann. Aber wer weiß, welche Orkane unter seiner glatten Oberfläche toben und ihn zerreißen? Aber deshalb muss er Dich ja nicht zerfetzen", stöhnte Apo und aß ganz langsam seinen Puls.


    "Du bleibst erstmal bei mir und dann sehen wir weiter. Lass uns jetzt nichts übers Knie brechen. Vielleicht hasst Dein Vater Dich sogar stellvertretend für sich selbst, Menschen sind oft kompliziert und meine Familie hat gelernt in ihnen zu lesen wie in Schriftrollen. Aber ich bin keiner der besonders begabten Leser", erklärte Apollinaris und löffelte seinen Puls auf.


    "Möchtest Du hier unten bleiben, oder wollen wir hoch aufs Zimmer gehen?", fragte Apo und rieb sich den Bauch.

  • "Lass uns hochgehen." Nero hatte seine Puls schon aufgezehrt und erhob sich mühsam. "Das alles solltest du mal meinem Vater sagen. Aber rechne nicht damit, dass du ihn umstimmen kannst. Für ihn bin ich immer der Mörder seiner geliebten Frau und so ganz unrecht hat er ja auch nicht. Es war keine Absicht, aber ich hätte mich in ihrem Bauch auch nicht so vollfressen müssen, sondern ein hübsches kleines Baby werden können, nicht so ein Riesenklops, der seine Mutter sprengt.


    Weißt du, ich hab noch einen Onkel in Germania. Aemilius Nepos, der Bruder meines Vaters. Und mein Vater mag ihn nicht sonderlich leiden, was wohl auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn mein Vater den Onkel nicht ausstehen kann, ist mein Onkel vielleicht ... wie ich? Mir in irgendeiner Weise ähnlich? Ich hatte überlegt, ob ich nach Germania reisen und den Onkel Nepos besuchen sollte."


    Er wartete, bis Apollinaris auch stand und ging mit ihm in Richtung Treppe. "Deine Familie liest Menschen? Wie macht ihr das? Und warum?"

  • Apollinaris erhob sich und nahm seinen Muslum an sich.


    "Keiner hat sich selbst gemacht Nero, auch Du nicht. Wie viel Du im Bauch gegessen hast, konntest Du nicht entscheiden. Gebrauche nicht die Argumente Deines Vaters, oder von wem auch immer. Ein Vater sollte seine Familie beschützen, sie verteidigen, oder weshalb ist er das Familienoberhaupt? Lass uns oben weiter reden", sagte Apo freundlich und knuffte Nero.


    Apo führte Nero eine kleine Treppe nach oben, ging ein Stück den schmalen Flur hinein und entriegelte die letzte Tür auf dem Gang. Das Zimmer das sie betraten war klein und wirkte aufgrund der Möbel noch winziger. Ein kleiner Tisch stand im Raum, für die Kleidung gab es eine verschlissene Truhe, die Strohmatratze im Bett hatte schon bessere Tage gesehen. Holz lag neben der Truhe für die Feuerschale im Raum. Das Feuer in der Feuerschale war völlig heruntergebrannt. Apollinaris hockte sich neben die Schale und blies ganz vorsichtig in die Glut um sie wieder anzufachen.


    "Meine Familie bekleidet einige wichtige Ämter. Meine Verwandten müssen weitreichende Entscheidungen treffen, es ist für sie extrem wichtig, zu wissen ob jemand lügt oder wie ihr Gegenüber empfindet. Natürlich kann das niemand mit großer Garantie sagen. So wie wir Personen lesen lernen, so lernen wir zeitgleich uns nicht auslesen zu lassen. Gestik, Mimik, Deine Körperhaltung, was Du sagst, vor allem wie Du es sagst und viele Dinge mehr verraten einem Tucci sehr viel. Meist verrät es uns mehr, als das was uns eine Person tatsächlich sagt. Manchmal ist diese Fähigkeit wichtig für das Geschäft, das Amt oder sogar für das nackte Überleben", erläuterte Apollinaris freundlich und lächelte glücklich, als das Feuer wieder zum Leben erwachte.


    Vorsichtig trug er sie rüber zum Bett. Nahe genug, damit sie es schön warm hatten, aber weit genug entfernt, dass kein Funke ihr Bett entzünden konnte.


    "Was immer Dein Vater in Dir sieht Nero, für mich bist Du ein erstklassiger Freund und ich habe Dich sehr gerne. Mich schmerzt es, wie mit Dir umgegangen wird. Zu Deinem Onkel, was spricht dagegen, dass wir nach Germania aufbrechen? Vielleicht ist er genau der Mann, den Du kennenlernen solltest", sagte Apo und legte seinen Mantel auf das Stroh, so dass sie damit nicht direkt in Berührung kamen.

  • "Schade, dass du kein guter Menschenleser bist, ich hätte dich sonst gern ausgefragt zu allen möglichen Leuten. Hört sich ja interessant an."


    Nero ließ den Sack auf den Boden rutschen, wo er klimpernd zum Liegen kam. Er setzte sich auf Apollinaris´ Bett - das hatte er von den Zwillingen abgeschaut - und reichte seinem Freund eine volle Weinamphore. Auch sich selbst zog er eine neue aus dem Sack, die er nun entkorkte. Er stieß vorsichtig an.


    "Ist irgendein edler Tropfen von Vater ... frag nicht, welchen. Ich hab den aus der am schönsten aussehenden Amphore umgefüllt in der Hoffnung, dass er entsprechend schmeckt."


    Er trank einige große Schlucke, dann ließ er schmatzend die Amphore sinken. Er blickte betrübt.


    "Du bist der Einzige, der je was Nettes zu mir gesagt hat. Von den Zwillingen abgesehen, aber bei denen weiß ich nie, ob sie es ernst meinen oder blödeln. Wenn du mit nach Germania kommen wölltest ... also mein Vetter Bassus bricht bald dahin auf. Er wird abgeholt. Vielleicht können wir ihn einfach begleiten? Weg von Vater und einfach ein paar Wochen für uns."

  • "Nun manche sind wahre Naturtalente, aber normalerweise gehört da ständiges Üben zu Nero. Ich kann für Dich gerne versuchen in Personen zu lesen, über wen möchtest Du denn etwas wissen? Meine Erkenntnisse sind nicht immer falsch, aber auch nicht immer richtig. Im Gegensatz zu den Meister des Fachs bin ich ja noch ein junger Hüpfer, genau wie Du. Warum sollte ich nicht etwas Nettes zu Dir sagen? Du bist mein Freund und mir tut es leid, wie man mit Dir umgeht. Das hast Du nicht verdient.


    Bassus bricht nach Germania auf, aber glaubst Du er wird uns mitnehmen? Vielleicht würde er Dich sogar an Deinen Vater ausliefern? Was hast Du für einen Eindruck von ihm? Wäre es nicht logischer, dass wir ihm heimlich folgen? So führt er uns ebenfalls zu Deinem Onkel, bekommt es aber nicht einmal mit. Danke für den Wein Nero", freute sich Apo und entkorkte seine Amphore ebenfalls. Er nahm einen kräftigen Schluck und schmatzte glücklich.


    "Was für ein köstlicher Tropfen. Mach es Dir direkt neben mir gemütlich, wir nehmen Deinen Umhang als Decke so ist uns schön warm. Was weißt Du denn über Deinen Onkel? Erzähl mir alles was Du weißt Nero. Die Zwillinge sind Überlebenskünstler, dafür brauchst Du nicht einmal mich, um dass zu erfahren. Tarkyaris hingegen ist ein durchtriebener Hund, ein Schlitzohr. Dass lass Dir gesagt sein. Er hat eine wahre Krämerseele, sein Lächeln ist so falsch wie hier in der Taberna der Muslum", lachte Apo um Nero ein bisschen aufzumuntern.

  • "Aber Tarkyaris hat auch überall Kontakte. Er kann alles organisieren, auch verbotene Dinge oder solche, die es nirgendwo anders gibt. Natürlich lässt er sich fürstlich entlohnen. Aber er ist auch ein Freund, immerhin trug er die schwere Truhe, und die hat echt viel gewogen. Dafür hat er kein Geld genommen."


    Nero trank noch was, dann machte er es sich auf dem Strohsack - anders konnte man diese sogenannte Matratze kaum bezeichnen - gemütlich und stellte die Amphore in Kopfnähe ab. Die Idee, mit Apollinaris nach Germania zu reisen, gefiel ihm. Am besten, ohne sich vorher bei seinem Vater abzumelden, um ihm ordentlich eins reinzuwürgen. Vielleicht zerfraß er sich dann vor Gram - nicht, weil er Nero vermisste, sondern weil dieser sich seiner Kontrolle entzogen hatte.


    "Mein Onkel ist der Legatus irgendwas von Germania superior. Also ein ganz hohes Tier. Ansonsten ..." Nero rieb seinen Hals. "Mehr weiß ich nicht. Aber Vater wird seine Gründe haben, ihn nicht leiden zu können, weshalb ich sicher Gründe haben werde, ihn zu mögen. Ich würde mir wünschen, dass du mich liest. Und Vater. Den arroganten Fatzke von Bassus kann ich selber ganz gut einschätzen, er ist einfach ein Arsch."

  • Apollinaris sagte nichts weiter zu dem Händler. Er wusste was Tarkyaris war, ein excellenter Geschäftsmann. Allerdings musste das Nero nicht heute lernen, denn je mehr Freunde er gefühlt hatte, umso besser war es für ihn. Selbst wenn einer ein Krämer war, dann war dem eben so. Tarkyaris würde es nicht stören und Nero tat es gut. Um den Rest würde sich Apo selbst kümmern, dass Tarkyaris Nero nicht schadete.


    "Vorhin habe ich bereits in Dir gelesen. Dies geschah unbewusst, da Du mir leid tust.

    Was ich in Dir lese Nero.


    Du bist ein guter Freund, ein Mann den jeder verkennt. Du bist jemand, der schlichtweg einmal gesehen werden möchte. Als die Person die Du tatsächlich bist und nicht die Rolle die Du für Deinen Vater spielst. Du gibst alles um gesehen zu werden. Geht das nicht im Guten, dann eben im Schlechten. Dein Vater zieht leider gleich. Er ist weder gut noch schlecht zu Dir. Er zeigt sich Dir gegenüber gleichgültig.


    Meine Gedanken waren, dass er vielleicht merkt, wie sehr er Dich insgeheim doch mag, sobald Du verschwunden bist. Möglicherweise würde er begreifen, was er an Dir gehabt hatte.


    Dein Vater hört nicht, dass Du schreist, ohne ein Ton von Dir zu geben.

    Dein Vater sieht nicht, dass Du weinst, ohne eine Träne zu vergießen.

    Dein Vater fühlt nicht, was Du Dir sehnlichst wünscht, ohne eine Bitte auszusprechen.

    Dein Vater sieht nicht, dass Du für ihn kämpfst, um ihn für Dich zu gewinnen.


    Dein Verhalten mag für Deinen Vater auf den ersten Blick abschreckend wirken. Du bist provokant und frech. Aber all das dient nur einem Zweck und zwar die Aufmerksamkeit und die Liebe Deines Vaters zu gewinnen. Du hast Deine Mutter verloren und Deinen Vater scheinbar nie für Dich gewinnen können. Was sollst Du tun? Schweigend daran zu Grunde gehen und zu zerbrechen?

    Das habe ich ihn Dir gelesen Nero.


    Dein Vater vermisst seine geliebte Frau. Anstatt zu erkennen, dass Du genauso ein Teil Deiner Mutter bist wie von ihm, gibt er Dir die Schuld an ihrem Schicksal. Ihr könntet Euch gemeinsam erinnern indem er Dir von ihr erzählt. Ihr könntet sie auch gemeinsam betrauern. Aber das kann und will Dein Vater nicht, er braucht einen Schuldigen Nero, um damit fertig zu werden. Das Schicksal ist launisch, unbekannt und unbegreiflich. Dem Schicksal kann man nicht ins Gesicht brüllen, oder ihm wie einen Feind die Kehle durchschneiden. Also braucht er einen Schuldigen aus Fleisch und Blut. Das Grausame daran ist, dass er Dich dazu auserkoren hat.


    Er verlor seine Frau, Du hast Deine Mutter verloren. Welcher Schmerz ist tiefer? Das ist kein Rennen und auch kein Wettbewerb. Er hatte sie einige Jahre und war glücklich. Du durftest sie niemals kennenlernen, wurdest nie von ihr in den Armen gehalten. Das hätte er tun sollen Nero. Das sieht er nicht", antwortete Apollinaris mitfühlend.

  • "Oh stimmt, das hast du vorhin schon getan ... in mir gelesen. Das meintest du damit. Danke. Wirklich. Und was Vater betrifft ... nun ... vielleicht kann er nicht anders."


    Nero rollte sich etwas auf dem Bett zusammen, aber nicht zu weit, damit Apollinaris noch Platz hatte. Er klopfte auf die Matratze. Den Wein begann er langsam deutlich zu merken, aber noch konnte er sprechen. Nur wurde er langsam schläfrig.


    "Und was ist mit dir selbst? Was liest du in dir, Apo? Wer bist du?"

  • Apollinaris legte sich dicht neben Nero und schaute dabei zur Decke auf.


    "Er könnte, wenn er wollte Nero, aber der Weg wäre hart, steinig und schwer. Allerdings hat auch niemand jemals behauptet, Vater oder Familienoberhaupt zu sein wäre leicht. Das Erste was er tun müsste, wäre gegen seine eigene Finsternis anzukämpfen. Damit er wieder Licht in sein Leben lassen kann und damit auch Dich", antwortete Apo und legte Nero einen Arm um die Schulter.


    "Wer ich bin und was ich in mir lese? Das Nero ist eine der schwierigsten Aufgaben. Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Ich hoffe der Mann zu sein oder zu werden, der ich gerne wäre. Jedenfalls bemühe ich mich. Aber wer ich tatsächlich bin, dass könntest Du mir sagen. Jedenfalls wer ich für Dich bin", sagte Apollinaris leise und zog Neros Umhang als Decke über sie.

  • Nero kroch weiter in die Umarmung seines Freundes hinein. Er hatte sonst niemanden, der ihn je gehalten oder umarmt hätte. Früher hatte er das auf seine Pickel geschoben, aber inzwischen hielt er sich für durchweg abstoßend, was Sinn machte, wenn er sich nicht einmal daran erinnern konnte, dass der eigene Vater ihm je über den Kopf gestrichen hatte. Trotzdem verspürte auch Nero das Bedürfnis nach Nähe. Die Decke über ihnen verschaffte zusätzlich Wärme und Behaglichkeit.


    "Du bist der Freund, den ich mir immer gewünscht habe", sagte er leise. "Geh bitte nicht weg, ja?"

  • "Das hast Du aber lieb gesagt Nero, Du bist einer meiner wenigen Freunde und ich möchte Dich auch niemals verlieren. Nein ich gehe nicht weg, ich bleibe. Und sollte ich doch einmal weggehen, dann kommst Du einfach mit", flüsterte Apo Nero ins Ohr und stellte ebenfalls einen Wein zur Seite. Damit sie gemütlich liegen konnten.


    "Lass uns schlafen und morgen früh überlegen wir, wie wir nach Germania kommen. Falls weder Rom noch Germania uns will Nero, dann reisen wir nach Cappadocia. Dort finden wir immer eine Heimat. Aber vorher ruft Germania. Schlaf schön und träum was Schönes. Heute Nacht kannst Du bestimmt gut schlafen. Schau wie das Feuer brennt, einer von unseren Penaten muss uns gefolgt sein und meint es gut mit uns", sagte Apollinaris aufmunternd.

  • Das hatte Apollinaris treffend ausgedrückt ... nicht nur sein Vater oder die Familie, sondern die ganze Welt schien Nero nicht haben zu wollen. Wie ein Fremdkörper fühlte er sich, den die Gesellschaft versuchte, herauszueitern. Er legte einen Arm über Apollinaris und kuschelte sich an ihm fest. Nüchtern hätte er das sicher nicht gewagt, doch er war betrunken und sehr allein.


    "Ich hab hier keine Verpflichtungen oder so ... theoretisch kann ich tun und lassen, was ich will, und trotzdem ist es immer falsch. Wie ein Ratespiel, bei dem ich immer verliere. Cappadocia ist ziemlich weit weg. Ich will eigentlich in Roma bleiben, wenn wir vom Urlaub zurückkehren. Ich hoffe, Onkel Nepos ist nicht so streng wie Vater."

  • Apo gähnte und mummelte sie beide ein. Einerseits um sie zu wärmen, aber viel wichtiger noch um Nero dass Gefühl zu geben willkommen und gewollt zu sein.


    "Jene die das Spiel aufstellen, haben die Würfel gezinkt Nero. Das heißt nicht, dass die ganze Welt mit falschen Würfeln spielt. Bei mir verlierst Du nicht, ich sage Dir wie es ist. Du bist eine kleine verlorene Seele Nero und Du bist das völlig unverschuldet. Du bist ein guter und hochanständiger Kerl und ein wunderbarer Freund. Lass Dir nichts anderes einreden.


    Weißt Du, sie wissen gar nicht, wen sie da von sich gestoßen haben. Es ist schade und bedauerlich, wie manche Menschen denken. Aber zum Eigenschutz, musst Du irgendwann lernen, selbst zu ihnen Abstand zu halten. Der Schmerz bleibt, aber sie schlagen Dir nicht ständig neue Wunden. Die alten verheilen irgendwann, aber sie verschwinden nicht. Du wirst immer die Narben tragen.


    Ich habe Dir nur die Möglichkeiten aufgezählt, mach Dir keine Sorgen. Wir machen uns morgen früh lieber Gedanken, wohin es gehen soll. Das hoffe ich auch, bezogen auf Onkel Nepos. Wir werden es herausfinden. Denk allein an die Reise, die vor uns liegt. Wer weiß, was wir alles sehen werden? Ich freue mich, dass wir uns hier getroffen haben. Morgen früh nach dem Frühstück geht es los", sagte Apollinaris und schloss die Augen.

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