Regnum obscurum | Phoenix aus der Asche

  • Zufrieden blickte der Mann mit der Vogelmaske auf die dargebotenen Abgaben: edle Stoffe aus Antiochia, feine Glaswaren aus Aquileia und bunte Edelsteine aus Tingis.

    "Ein guter Fang, Sosos", lobte er den dürren Mann, der daneben stand, leise. Anerkennung war ein billiges Gut mit einer großen Wirkung auf die abtrünnigen Seelen, die in dieser Welt hausten, das hatte er mittlerweile erkannt. Besonders gut, um Vertrauen zu schüren.
    "Nächsten Monat erwarte ich nochmal soviel." Sosos, der in der oberen Welt einen römischen Namen trug, war ein gewisser Stolz anzusehen.
    "Sehr gut. Garamander wird dir deine Dokumente ausstellen. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?"
    "Nein, danke, diesen Monat habe ich schon genug von deiner Großzügigkeit im Anspruch genommen!"
    "Gut, gut. Dann grüße mir deine beiden Söhne und deine wunderschöne Tochter."
    Die Familie Sosos' scherte ihn nicht, doch es erinnerte diesen daran, dass der Vogelman sehr genau wusste, wer er in der Welt dort oben war. Mit einem Wink entließ er ihn und wies Garamander die Auszahlung zu übernehmen. Dann wandte er sich zur Seite, an Marius. "Ich habe einen Auftrag für Spartacus. Ich möchte, dass er in Trans Tiberim ein paar Hühner aufschreckt, oben auf dem lanus-Hügel, rund um die Villa Eutopia. Aber diese selbst wird nicht angerührt!"

    Marius lachte heißer. "Das muß ich Spartacus bestimmt nicht sagen, er mag ja todesmutig sein, aber nich todessehnsüchtig. Soll er irgendwas bestimmtes mitbringen?"
    "Nein, solange es wertvoll ist und seinen Zweck erfüllt ist es mir einerlei. Hauptsache die Hühner flattern aufgeregt."
    "Alles klar."
    Als Marius durch einen verborgenen Zugang in der Kanalisation verschwunden war, kehrte Garamander zurück.
    "Ich glaub, es is an der Zeit das Nest zu wechseln. Zu viel Scheiße vorm Einflugloch, wenn du verstehst."
    "Schade, ich hatte mich gerade an das Wandmosaik gewöhnt. Bereite den Abflug vor. Ist der goldene Käfig frei?"
    "Ne." Der Gaetulier grinste. Er wusste genau, dass der Vogelmann Sehnsucht nach dem goldenen Käfig hatte. "Die Verstopfung dauert immer noch an und die Stadt kümmert sich nich drum. Wenn die nich bald kommen sollten wirs vielleich selber beseitigen. Aber der Löwenzwinger is frei."
    Der Mann mit der Vogelmaske zuckte mit den Schultern. Am Ende war es einerlei, im Schein der Kerzen und Öllampen glänzte jedes Loch golden.

  • Die Höhle des Löwen


    Der Löwenzwinger hieß so, da er unweit des Ludus Matutinus lag, unterirdisch natürlich und ohne direkte Verbindung zu der Gladiatorenschule, aber eben unweit. Es hielt sich zudem hartnäckig das Gerücht, dass einst ein Löwe aus der Schule ausgebrochen, irgendwie in das Tunnelsystem unter der Stadt gelangt war und sich in jenem großzügig dimensionierten Gewölbe versteckt hatte, das heute den Namen Löwenzwinger trug. Der Mann hinter der Vogelmaske hielt das für eine verklärte Legende, doch letztendlich waren es Legenden, welche das Leben hier unten bestimmten. So wie er - der legendäre Vogelmann, der seit Jahrhunderten das regnum obscurum, das unterirdische Rom beherrschte.


    Der Löwenzwinger war eine der größeren Bleiben des Vogelmannes, mit einigen Seitengewölben für den Hofstaat und sogar einer eigenen Wasserversorgung. Zusätzlich gab es ganze sechs Zugänge - durch die Kanalisation und durch Kellergewölbe -, alle jedoch so schmal, manche nicht einmal sehr hoch, dass dieses Versteck zu einem der besten unter Rom gehörte. Trotz, oder wegen der engen Zugänge wurden diese bestens bewacht, denn auch wenn der Mann mit der Maske in seinen Verstecken meist recht sorglos leben konnte, Vorsicht war besser als Nachsicht.


    Auch das persönliche Gemach des Vogelmannes war im Löwenzwinger größer als in den meisten anderen Verstecken - abgesehen vom goldenen Käfig -, und zu den größten Annehmlichkeiten gehörte ein Badebecken. Sehr klein, kaum groß genug für eine Person, aber eben doch ein Badebecken, in das durch ein bleiernes Rohr heißes Wasser eingelassen werden konnte, das in einem Nebenraum erhitzt wurde - ein unglaublicher Luxus für jedermann, der nicht einfach in eine öffentliche Therme spazieren konnte.


    Garamander hatte alles vorbereitet. Er war der einzige, der den Raum ebenfalls betreten durfte. Das Wasser im Badebecken dampfte daher bereits als der Mann mit der Vogelmaske eintrat und die Türe hinter sich verriegelte. Natürlich gab es noch einen weiteren geheimen Ausgang, doch auch dieser war verschlossen. Der Vogelmann trat an einen silbernen, polierten Teller - noch so eine Legende, angeblich aus dem kaiserlichen Palast zu Zeiten Claudius' entwendet - und betrachtete sein Spiegelbild: der Vogelmann, seit Jahrhunderten König des unterirdischen Roms.


    Niemand wusste es genau, und die Einfältigen glaubten tatsächlich an einen unsterblichen Mythos, manche gar an eine halb-göttliche Gestalt. Doch jene, die ihr Leben lang dem Mann mit der Vogelmaske dienten und mit Verstand gesegnet waren, vermuteten, dass dies nicht eben ein Mann war. Manche glaubten, die Maske wurde seit Generationen von Vater an Sohn weiter vererbt. Andere, dass der König seinen Nachfolger aus seinem Gefolge erkor - was sie zu besonderer Treue bewog. Wieder andere glauben, in jeder Generation werde der Sohn eines einflussreichen Patriziers geraubt und zum unterirdischen Prinzen erzogen. Manches Mal soll dies gar ein kaiserlicher Sohn gewesen sein, dessen Verschwinden im Palast durch einen natürlichen Tod überspielt worden war - wie vor nicht allzu langer Zeit bei Kaiser Aquilius' Sohn.


    Die Erscheinung des Vogelmannes zumindest stützte die Theorien, waren seine Gewänder in ihrer Art doch so, dass leicht verschiedene Männer unter ihnen wie ein und derselbe erschienen mochten, zumindest, sofern sie nicht außergewöhnlich groß oder klein, oder übermäßig beleibt waren: lange, bis zum Boden reichende, gefältelte Tuniken, umschlungen von voluminösen Togen. Dazu die tonlose Stimme, die kaum die natürliche Couleur war. Und schließlich das Gesicht verborgen unter der Vogelmaske, die Augen tief hinter den Federn liegend, und das Haupt umschlossen von seidenem Stoff.

  • Das Bild, das der Mann hinter der Maske daher im Spiegel sah, war das Bild des Vogelmannes, des Mythos. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die eigenen Hände zu sehen, wie sie den Mythos demaskierten, wie das Federkleid sich hob und ein bleiches Gesicht mit eisgrauen Augen darunter zum Vorschein kam. Auch dieses Gesicht war eine Maske, die bereits viele Namen getragen hatte: Ultor, Thesaurus, Aurichalcus, Nequam, Kreon, Obtusus, Pentheus, Scelestus, Bellerophontes, Conscius. Die längste Zeit jedoch den Namen Sciurus. Und nun? Nun trug er keinen Namen mehr, nun war er nur noch die Gestalt, die er repräsentierte. Selbst Garamander, der einzige, der die Wahrheit kannte, nannte ihn "mein König", wenn sie allein waren - es gehörte zu den unausgesprochenen Gesetzen des regnum obscurum.


    Dennoch, Sciurus war ihm eingebrannt - nicht wie das Besitzzeichen auf seiner Haut, sondern in sein Wesen, geprägt, gebrandmarkt durch das Leben und die Vergangenheit. Denn während er in den Haushalten vorheriger Herren nur ein beliebiger Sklave gewesen war, ein Gegenstand, der nach Belieben genutzt, benutzt und wieder verkauft worden war, war Sciurus ein Teil seines flavischen Herrn geworden, und sein Herr ein Teil von ihm. Nie hatte irgendwer ihn gefragt, ob er glücklich war oder was dazu fehlte, nicht einmal er selbst, denn Glück gehörte nicht zum Wesen eines Sklaven. Doch im Nachhinein betrachtet mochte dies wohl Glück gewesen sein - diese perfekte Symbiose, die Einheit mit seinem Herrn. Und nichts anderes hatte er je erstrebt - keine Freiheit, kein Reichtum, keine Familie oder ähnliche Sentimentalität, auch nicht das Reich des Vogelmannes.


    Fürwahr, vermutlich war er glücklich gewesen. Bis dieses Aas Decimus Serapio alles gefährdet hatte, bis es sich in das Leben seines Herrn gedrängt hatte, erst unauffällig und leicht, wie eine Seifenblase, die ohnehin irgendwann platzen würde. Doch aus der Seifenblase wurde ein Geschwür, das sich mehr und mehr in das Leben seines Herrn fraß, ohne dass dieser die Gefahr bemerkte. Wäre Sciurus vor Jahren nur aufmerksamer gewesen, es wäre ein leichtes gewesen, Gracchus in den Anfängen von dieser Liaison abzubringen. Selbst später noch, etwa als Serapio in Aegyptus weilte, oder während des Bürgerkrieges - es wäre so einfach gewesen, einige falsche Informationen zu streuen, Nachrichten zu unterschlagen oder zu manipulieren. Doch Sciurus hatte versagt. Er hatte seinen Herrn nicht beschützt.


    Nun war es zu spät. Decimus hatte dafür Sorge getragen, dass der Sklave gefallen war, dass Gracchus ihn dem Tod überantwortet hatte ohne Zögern.

  • Ultor - der Rächer - dies war sein erster Name gewesen, in seiner Mutters Ansinnen Rache über Rom zu bringen, und Rache war letztenendes seine Bestimmung geworden. Der Zufall hatte ihn in die Arme der Christianer getrieben, welche er zu seinem Werkzeug gemacht hatte. Bedauerlicherweise waren sie Dilettanten gewesen. Zwar hatten sie ein wenig Schaden angerichtet, sich dabei allerdings einfangen lassen. Sciurus hätte sie gerne weiter für seine Zwecke verwendet, doch nachdem ausgerechnet Decimus Serapio sie überrascht und ihn gesehen hatte, hatte er untertauchen müssen.


    Der Vogelmann hatte ihn aufgenommen und Unterschlupf geboten. Auch dies war eines der Gesetze des unterirdischen Reiches: wer einmal im Dienste des Vogelmannes gestanden hatte, gleich wie lange dies zurück lag, genoss dessen Schutz sofern er nicht gegen die Gesetze des regnum obscurum verstoßen hatte. Die Christianer interessierten den Mann mit der Maske nicht, doch die Urbaner und Praetorianer sehr wohl, und während er seiner Pflicht nachgekommen war, Sciurus Obdach zu gewähren, hatte er ihn vollkommen verschwinden lassen, um diese Spur zu verwischen. Tage waren verstrichen, Tage zu Wochen vergangen, zu vielen Wochen, und der Vogelmann hatte Sciurus vergessen.


    Sciurus indes hatte weder den unterirdischen König vergessen, noch Decimus Serapio, noch seine Bestimmung. Und so hatte er begonnen, Garamander in seine Pläne einzuweben, ihn zum Werkzeug seiner Rache zu formen wie ein Schmied, der aus einem Klumpen verdreckten Metalls eine kunstvolle Klinge formte. Der Vogelmann - die Person hinter der Maske - war dabei nur ein Kollateralschaden, denn Sciurus musste sich des Mythos bemächtigen, um seine Pläne in aller Pracht verwirklichen zu können.


    Es war einfach gewesen, beinahe zu einfach. Niemand vermisste den gefallenen Namenlosen, dessen Überreste stückweise von den Ratten in den Kanälen beseitigt worden waren oder in Feuern in ganz Rom verbrannten - vorwiegend in jenen Vierteln, in denen ein beißender Geruch nicht weiter auffiel. Und unter Rom reagierte niemand darauf, dass der Vogelmann ein wenig anders ging und ein wenig anders sprach - manche bemerkten es nicht einmal, andere ignorierten es, denn auch dies gehörte zu den Gesetzen - mische dich in nichts ein, was dich nichts angeht. Darüber hinaus waltete Sciurus unter der Maske mit Sorgfalt, führte begonnene Geschäfte fort, erteilte neue lukrative Aufträge, verteilte kleine Geschenke - er war lange genug Teil des Spieles gewesen, um die Regeln zu kennen, nach denen gespielt wurde - oben, wie unten. Und er war versiert genug, um zu wissen, dass Rache keine Hast vertrug, sollte sie nicht in einem kurzen Vergnügen enden.


    Sciurus hatte keine Eile - dann diese Rache sollte Decimus Serapio bis an sein Ende verfolgen.


    Genussvoll stieg er in das Becken mit warmen Wasser - nicht aus Freude an dem Bad, sondern aus Freude an der Zukunft.

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