Prozessrecht
Das römische Prozessrecht unterschied sich stark vom modernen Prozessrecht, insbesondere der Trennung von Einsetzung eines Gerichts und der Urteilsfindung, die üblicherweise zwischen Gerichtsmagistrat (Praetor, Aedil oder Statthalter) und Urteilsrichter (iudex, recuperatores) getrennt war. Darüber hinaus war das Prozessrecht - ebenso wie staatsrechtliche Akte stark formalisiert und legte großen Wert auf Rituale, die im Laufe seiner Entwicklung jedoch immer stärker flexibilisiert wurden.
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Das Legisaktionsverfahren
Das Legisaktionsverfahren wurde bereits im Zwölftafelgesetz beschrieben und zeichnete sich durch einen sehr großen Formalismus aus. Am Anfang jeder Gerichtsverhandlung stand dabei das Klagefeststellungsverfahren vor dem Praetor, das in iure genannt wurde. Hier musste der Kläger seine Klage mittels einer gesetzlich festgelegten Klageformel, der actio, formulieren. Ähnlich wie im Sakralrecht der Auguren war hierbei die präzise und fehlerlose, wortlautgetreue Verwendung der Spruchformeln und der vorgeschriebenen, oftmals ritualhaften Handlungen für die Zulassung der Klage entscheidend.
Die actiones waren durch Gesetze fest definiert und konnten nur für die vorgegebenen Umstände verwendet werden. Wie dies in der Praxis aussah, wird in Gaius inst. 4,16 anhand der legis actio in rem deutlich. Bei dieser actio handelte es sich um die Einsetzung einer Prozesswette bei einer Eigentumsforderung (in diesem Fall an einem Sklaven), d. h. beide Parteien versprachen im Falle einer Niederlage eine bestimmte Summe an die Staatskasse zu zahlen: Die beiden Prozessparteien erschienen vor dem Praetor und der Kläger musste folgende Formel sprechen: "Ich sage, dass mir dieser Sklave nach quiritischem Recht gehört entsprechend seinem Rechtsgrund. Wie ich gesprochen habe, lege ich dir die Lanze auf." Anschließend hatte er eine Lanze auf den geforderten Sklaven zu legen, woraufhin der Beklagte ein ähnliches Ritual zu vollführen hatte. Der Praetor befahl daraufhin, dass beide den Sklaven loslassen sollten. Nun musste der Kläger fragen: "Ich fordere dich auf zu sagen, aus welchem Grunde zu vindizierst" und der Beklagte antwortete: "Ich tue recht, wie ich die Lanze auflege.", woraufhin wiederum der Kläger befahl: "Da du zu Unrecht vindizierst, fordere ich dich zu einem Eid über 500 auf." und der Beklagte erwiderte: "Und ich dich.". Daraufhin hatte eine actio in personam, also eine Geldforderung, zu erfolgen und der Praetor sprach einer der beiden Parteien das vorläufige Eigentum an dem Sklaven zu, wofür diese allerdings Bürgen stellen musste. Ebenso mussten beide Bürgen für die "Wettsumme" stellen.
Ähnliche legis actiones gab es auch für weitere Prozessabschnitte in bestimmten Fällen, etwa die Bitte um Einsetzung eines Richters für Entscheidungen über stipulationes (mündliche Verträge) oder Erbteilungsklagen (legis actio per iudicis arbitrive postulationem), für die Herbeiführung eines richterlichen Urteils über Rechtsfolgen (legis actio per condictionem) und die Vollstreckung von Urteilen (legis actio per manus iniectionem).
Während all diese Verfahrensabschnitte vor dem Praetor stattfanden und dessen Entscheidung erforderten, wurden die eigentlichen Sachfragen schließlich erst durch den von diesem eingesetzten Richter im Verfahren apud iudicem, das oft im Privathaus des Richters stattfand, entschieden.
Problematisch war dabei die Umständlichkeit und Unflexibilität der legis actiones, aber auch die Voraussetzung, dass beide beteiligten Prozessparteien römische Bürger sein mussten, für die das quiritische Recht galt. Dementsprechend wurde das Legisaktionsverfahren in der mittleren und späten Republik mehr und mehr durch neuere, flexiblere Verfahrensformen abgelöst und war in der Kaiserzeit nahezu außer Gebrauch.
Der Formularprozess
Im Laufe der späten Republik setzte sich ein neues, flexibleres Verfahren durch, das aufgrund seiner Grundlage - der sogenannten formulae - heute als Formularprozess bezeichnet wird. Im 2. Jahrhundert v. Chr. durch die Lex Aebutia eingeführt, wurde es 17 v. Chr. mittels zweier Leges Iuliae zum Standardverfahrenstyp des römischen Rechts und dominierte - besonders im Strafrecht - die Gerichtsverfahren bis in die Kaiserzeit hinein.
Anders als bei den starren legis actiones war die Klage hier nicht starr an einen gesetzlichen Wortlaut gebunden, sondern die Klageformel wurde gemeinsam von den Prozessparteien, evtl. unter Mithilfe des Praetor, lediglich nach einem gewissen formalem Aufbau aufgesetzt. In der Praxis präsentierte der Kläger beim Verfahren in iure daher eine Formel, der Verteidiger konnte Abänderungen erbitten, beide legten ihre Beweise vor und der Praetor legte schließlich eine Prozessformel fest, mit der er ein Gericht einsetzte.
Diese formula setzte sich dabei aus verschiedenen Teilen zusammen:
- In der nominatio wurde der Richter (bzw. mehrere) benannt. Er wurde im Verfahren in iure bestimmt, indem der Kläger so lange Richter von der Richterliste (album) vorschlug, bis der Angeklagte zustimmte. Konnten sich die Parteien nicht auf einen Richter einigen, bestimmte der Praetor.
- Die intentio nannte anschließend den Klagegrund, also die Behauptung eines Rechtes bzw. von Umständen, die die Klage berechtigten.
- Die condemnatio beinhaltete dann die Beauftragung des iudex zur Verurteilung oder zum Freispruch des Angeklagten und konnte für den Fall der Verurteilung auch die Strafe in Geldbeträgen (entweder als Festbetrag oder als Maximalstrafe (taxatio)) vorschreiben.
- Bei Leistungsklagen folgte nun in der demonstratio die Nennung der Fakten, die die Grundlage der Forderung bildeten.
- Neben den Forderungen wurden aber auch die Gegenargumente des Beklagten in der exceptio festgehalten, die durch eine replicatio mit Gegenargumenten des Klägers wieder widerlegt werden konnten. Dies konnte mehrfach hin- und hergehen.
- Um den Klagegegenstand schließlich zu begrenzen, konnte außerdem eine praescriptio erfolgen, die den Streit etwa auf bestimmte Vertragsteile o.ä. einengte.
Eine typische formula für eine vindicatio (Besitzforderung) sah also folgendermaßen aus: "Titius soll Richter sein. Wenn es sich herausstellt, dass das verhandelte Eigentum Aulus Agerius nach bürgerlichem Recht gehört und es ihm nicht im Einklang mit der richterlichen Entscheidung erstattet wird, sollst du, Richter, Numerius Negidius dazu verurteilen, Aulus Agerius so viel von seinem Eigentum zu geben wie die Sache wert ist; wenn es sich nicht herausstellt, sprich ihn frei." Eine Personenklage über die Forderung einer Geldzahlung hingegen sah folgendermaßen aus: "Titius soll Richter sein. Wenn es sich herausstellt, dass Numerius Negidius Aulus Agerius 100 Denare zahlen soll, dann, wenn es keine Einigung zwischen Aulus Agerius und Numerius Negidius gibt, dass die Summe nicht eingeklagt werden soll, oder wenn es irgendeinen Betrug aufseiten von Numerius Negidius gibt, sollst du, Richter, Numerius Negidius dazu zu 100 Denaren verurteilen; andernfalls sprich ihn frei."
Als Richtlinie für mögliche Kläger diente dabei das prätorische edictum, in dem jeder Prätor bei Amtsantritt gewisse Blanco-formulae auflistete, die er akzeptieren würde. Dabei verwendete man bereits die oben genannten, typischen "Platzhalter-Namen" für Richter, Kläger und Beklagten.
Auf Grundlage der formula erfolgte dann die Hauptverhandlung vor dem jeweils eingesetzten Richter. Dabei hatte sich dieser streng an die prätorische Formel zu halten, konnte sich jedoch auch für nicht urteilsfähig erklären und damit die Einsetzung eines anderen Richters erwirken. Berufungen hingegen waren nicht vorgesehen.
Der Quaestionsprozess
Nachdem Kapitalverbrechen ursprünglich vor der Volksversammlung verhandelt worden waren, setzte Sulla ab 81 v. Chr. ständige Gerichtshöfe (quaestiones) für diese Delikte ein. Die wichtigsten davon waren dabei die quaestio de sicariis et veneficis (Totschlag etc.), die quaestio de maiestate (Hochverrat) und die quaestio de repetundis (Amtsvergehen). Jedem Gerichtshof saß dabei ein Praetor vor, während die Urteilsfindung gewöhnlicherweise einer senatorischen Jury oblag.
Das Verfahren sah hier in der Regel eine Popularklage vor, d. h. jeder konnte unabhängig von seiner Beteiligung an der Tat eine Klage einreichen (allerdings wurden Geschädigte bevorzugt zugelassen). Der Kläger hatte dabei - wie auch bei älteren Verfahrensformen - ursprünglich den Beklagten selbst vorzuladen, bis gegen Ende der Republik eine amtliche Ladung erfolgte. Waren beide Parteien erschienen, begann der Prozess mit einer Frage des Klägers nach einem Schuldeingeständnis des Gegners (interrogatio legibus). Bejahte dieser, wurde sofort die Strafe verhängt. Wies er die Klage allerdings zurück, hatte der Praetor über die Einleitung des Verfahrens zu entscheiden, die durch die Eintragung in die Liste der anhängigen Verfahren (receptio nominis). Die Prozessvorbereitung blieb anschließend bei den beiden Parteien, die eigenständig Beweise zu sammeln hatten (wobei es dem Kläger erlaubt war, eine gewisse Zahl von Zeugen zur Aussage zu zwingen). Unmittelbar vor dem Beginn der Hauptverhandlung erfolgte schließlich die Auswahl der Richter aus der Richterliste (sortitio). Die Leitung der Verhandlung oblag dann dem Praetor, während die Richter dem Prozess stumm folgten und erst aktiv wurden, wenn ersterer die Beweisaufnahme abschloss, indem er sie beauftragte, ein Urteil zu fällen (mittere in consilium). Die Jury stimmte dann geheim über die Schuld des Angeklagten ab, während das Strafmaß üblicherweise bereits durch das Gesetz vorgegeben war.
Der Kognitionsprozess
Vor allem in den Provinzen, in der Kaiserzeit aber auch innerhalb Roms entwickelte sich parallel zum Formularprozess ein noch formloseres Verfahren, das auf der magistratischen Coercitio beruhte (die der Statthalter gegenüber Nichtbürgern bis hin zur Todesstrafe unbeschränkt ausüben durfte). Innerhalb Roms hingegen verwendeten die Kaiser diese Prozessform ursprünglich für die Verhandlung ursprünglich nicht klagbarer Rechtsverhältnisse wie den Fideikommiss oder Unterhaltszahlungen. Erst mit der Zeit dehnte man diese Prozessform durch kaiserliche Autorität auch auf Strafverfahren aus (innerhalb der Stadt durch den Praefectus urbi wahrgenommen), bis auch das Formularverfahren 342 n. Chr. zugunsten dieses Verfahrenstypus abgeschafft wurde.
Wichtig für den Erfolg des Kognitionsprozesses war dabei die Aufhebung der traditionellen Zweiteilung des Prozesses in Gerichtseinsetzung und Urteilsfindung. Diese beiden Aspekte wurden hier nämlich zusammengefasst und in die Hände eines staatlichen, üblicherweise auch besoldeten Amtsträgers gelegt, der das gesamte Verfahren leitete und letztendlich das Urteil fällte - in einigen Fällen auch der Kaiser selbst. Dadurch entfernte sich das Prozessrecht mit der Zeit noch weiter von der ursprünglichen privaten Strafverfolgung: So verbreiteten sich amtliche Vorladung, amtliche Mahnungen und Strafverhängungen bei Säumnis, aber auch die Naturalvollstreckung (Durchsetzung von Ansprüchen wie Unterlassungen, Herausgabe einer Sache anstatt eines Schadensersatzes).
Üblicherweise lief das Kognitionsverfahren dabei relativ formlos ab: So war bereits nicht klar, wer als iudex infrage kam: Teilweise übernahmen der Kaiser bzw. die von ihm eingesetzten Beamten die Fälle selbst, teilweise (besonders in den Provinzen) beauftragten die Statthalter aufgrund der großen Belastung lokale Eliten (entweder einzeln oder in Form von Jurys) oder römische Amtsträger (nicht selten auch militärische Kommandeure oder sogar Centurionen) mit der Übernahme des Richteramts. Nachdem diese beide Prozessparteien vereidigt hatten, übernahmen sie auch die Leitung des eigentlichen Verfahrens: Sie selbst führten die Verhandlung, konnten Beweise einfordern (etwa Zeugenaussagen erzwingen) und fällten allein das Urteil, das üblicherweise in Anwesenheit beider Parteien verlesen und diesen in Kopie ausgehändigt wurde. Auch hierbei war der Richter kaum an juristische Rahmungen gebunden: So konnte er nicht nur - wie sonst üblich - über Schuld und Unschuld entscheiden, sondern in Ansehung der Fakten ein flexibles Strafmaß festlegen. Auch die Vollstreckung des Urteils war nicht mehr an Fristen gebunden und konnte mit Hilfe der Staatsgewalt durchgeführt werden (z. B. Haft in einem öffentlichen Gefängnis, staatliche Zwangsvollstreckung etc. statt durch den Kläger).
Gegen Urteile aus Kognitionsverfahren waren allerdings auch Berufungen an die nächsthöhere Instanz möglich. So konnte man sich innerhalb Roms an den Praefectus urbi oder den Praefectus Praetorio wenden, in den Provinzen an den Statthalter und schließlich den Kaiser. Um die Berufungsinstanzen allerdings nicht zu überlasten, wurden im Laufe der Zeit Strafen im Falle einer Ablehnung der Berufung verhängt. Neben dieser Möglichkeit des Angeklagten war eine Einmischung der höheren Instanz aber auch ungefragt oder auf Nachfrage des eingesetzten Richters möglich. Schließlich griff insbesondere der Kaiser aufgrund von Bittgesuchen von Freunden oder Günstlingen auch jenseits der Instanzenzüge immer wieder in laufende Verfahren ein.
Literatur:
Ebel, Friedrich/Thielmann, Georg: Rechtsgeschichte. Von der römischen Antike bis zur Neuzeit, 3. A., Heidelberg 2003.
Borkowski, Andrew/du Plessis, Paul: Textbook on Roman Law, 3. A., Oxford 2005.
Paulus, Christoph Georg: Art. Cognitio, in: DNP.
Paulus, Christoph Georg: Art. Legis actio, in: DNP.
Paulus, Christoph Georg: Art. Prozeßrecht (Rom), in: DNP.
Völkl, Artur: Art. Quaestio, in: DNP.
Végh, Zoltán: Art. Receptio nominis, in: DNP.