Orakelbefragung

  • Es war früh am Morgen, als die Iulierin das Orakelheiligtum betrat, mit einem ausgesprochen flauen Magen - dies war zwar nicht die erste Befragung eines Orakels während ihres Lebens, aber es war die erste, die sie nur für sich stellen würde, weder für ihren Bruder, noch für ihren Gemahl. Dieser Weg musste allein beschritten werden, wie auch schon zuvor, aber eine gewisse Aufregung blieb. Tief verschleiert, das Gesicht hinter dünnem, aber noch durchsichtigen Stoff verborgen, näherte sie sich jenem Ort, an dem sie hoffentlich einen der Orakelpriester antreffen würde, auch wenn sie fast die Vermutung hegte, dass diese Stunde noch nicht dazu angetan war, jemanden wach sein zu lassen.


    Ein kühler Wind strich hinter ihr her, in das Gebäude hinein, dann war sie angekommen, die Stola etwas im Wind flatternd, die Palla eng um die Schultern gezogen. Ja, im gewissen Sinne hatte sie wirklich Angst, auch wenn ihr der Verstand einzureden versuchte, dass ein Orakelspruch immer mehrdeutig sein würde und sie viel Phantasie brauchen würde, um ihn auszulegen. Falls sie es denn überhaupt schaffen würde, einen Spruch zu bekommen, der Sinn machte ... den Kopf hebend, blickte sie sich im Halbdunkel des Raumes um und wartete ...

  • Mit einer jungen Schülerin an ihrer Seite kommt die erfahrene Priesterin Silvia den langen Gang herunter. Die beiden Frauen sind in ein leises Gespräch über die bevorstehenden Vestalia vertieft. Als sie dem Vorraum des Heiligtums näher kommen, wird Silvia der dort wartenden Frau gewahr. Sie unterbricht ihr Gespräch und schickt die Schülerin mit einem Lächeln fort. Dann geht sie der Besucherin entgegen und begrüßt diese.


    "Salve. Kann ich dir weiterhelfen?"


    Freundlich mustert die schlanke, hochgewachsene Frau ihr Gegenüber.

  • Sie zuckte leicht zusammen, als die Priesterin sie ansprach, aus den bangen Gedanken in die Realität zurückgezwungen. Schnell wandte sie den Blick der Silvia zu und lächelte zu ihr, hoffend, dass sie nicht so nervös aussehen würde wie sie sich im Augenblick fühlte. Das waren ganz sicher keine Schmetterlinge im Bauch, das war bereits ein ausgewachsener Bienenschwarm, der dort herumsummte und anscheinend versuchte, sie aus ihrer sonstigen Ruhe zu bringen.


    "Salve - ich hoffe es. Denn ich möchte dem Orakel eine Frage stellen, wenn das denn um diese Zeit schon geht ... ich möchte niemanden wecken und kann gern später wiederkommen...?" Sie klang dennoch unsicher, die Finger spielten unruhig miteinander, anscheinend lag ihr die Sache doch sehr am Herzen - fast hilfesuchend blickte sie die Priesterin an.

  • Nervöse Fragesteller ist die Priesterin längst gewohnt, so dass sie sich um ein beruhigendes Lächeln bemüht.


    "Ich kann deine Frage natürlich gerne schon entgegen nehmen. Wie lange die Befragung genau dauert, kann man nie vorhersagen. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Hast du denn auch den richtigen Weihrauch dabei?"

  • "Aber ja ... den habe ich ..." Sie reichte der Priesterin eilig ein kleines Beutelchen, aus dem der würzige Geruch des Weihrauchs deutlich aufstieg, eindeutig die richtige Sorte des Welten verbindenden Gemischs. Sie schluckte leise und atmete ein. Ihre Frage ... seit diesem seltsamen Traum hatte sie immer wieder darüber nachgedacht, was sie tun sollte. Ob das ein Zeichen war oder nicht, und welcher Weg danach einzuschlagen sein würde.
    "Ich ... ich würde gern wissen, ob mir ein Weg im Cultus Deorum bestimmt ist - als Dienerin der Venus - oder ob ich den Weg in der Verwaltung besser verfolgen sollte." Nun war es heraus und ihr unsicherer Blick suchte im Ausdruck der Priesterin nach einem Anzeichen darauf, ob sie ihre Frage für lächerlich hielt oder nicht.

  • Silvia nahm den Weihrauch entgegen und sah ihn sich genau an. Allzu häufig hatten sie damit zu kämpfen, dass die Leute den falschen kauften. Dieses Mal war dem jedoch nicht so und sie lächelte zufrieden. Die junge Frau hatte ihr sogar eine besonders reichliche Menge der kostbaren Ware gegeben. Rasch nahm Silvia eine frische Wachstafel heraus und notierte sich die Frage. Sie blickte wieder auf und sah Helena voller Ernsthaftigkeit und mit einem leichten Lächeln an. Sie war schon zu lange im Dienst des Orakels, als dass ihr eine solche Frage lächerlich vorkommen könnte.


    "Ich werde deine Frage der Sibylle vortragen. Du kannst hier warten, wenn du möchtest."


    Sie lächelte noch einmal freundlich, wandte sich dann ab und ging durch den langen Gang zur Kammer des Orakels. Ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt tauchte dabei abwechselnd in Licht und Schatten.



  • Sie nickte stumm und brachte kein Wort mehr heraus, während sie der Priesterin nachblickte. Das Herz klopfte ihr plötzlich bis zum Hals hinauf und wollte einfach nicht leiser werden. Was würde ihr das Orakel antworten? Würde es ihr überhaupt so antworten, dass sie einen Sinn darin erkennen konnte? Sie verhakte die Finger nervös ineinander und versuchte, den Drang zu unterdrücken, von einer Seite zur anderen zu laufen, um der Nervosität in ihrem Inneren Herr zu werden. Ab jetzt begann der schlimmste Teil der Orakelbefragung - das Warten.

  • Es dauerte viele Minuten, bis in dem fernen Raum der Gesang der Priesterinnen erklang. Mit melodischen, teils schrillen Klängen riefen sie von Flötenmusik begleitet die Götter an, um die Verbindung der Sibylle zu ihnen herzustellen. Lange tönte diese ungewohnte Musik durch den entfernten Raum und hallte durch den langen Gang zu der Fragestellerin herüber. Schließlich ebbte der Gesang allmählich wieder ab, bis nur noch leises Flötenspiel zu hören war. Am Ende des Ganges war nun wieder die schmale, hochgewachsene Gestalt der Priesterin Silvia auszumachen. Sie trug eine Wachstafel in ihrer rechten Hand. Nachdem sie bei Helena angekommen war, lächelte sie dieser aufmunternd zu und übergab ihr die Tafel.


    "Bitte sehr. Dies ist der Spruch des Orakels. Ich hoffe, dass er dir weiterhelfen wird."



    Viele Wege führen nach Rom, und keiner von ihnen ist ohne Gefahr. Schönheit kann entweder zeitlos oder vergänglich sein. Kurz ist das Jahr. Die Liebe bestimmt, was uns gefällt und was wir sehen. Halte dich nicht mit der Oberflächlichkeit auf. Sie wird vergehen. Blicke in die Tiefe und suche von vorn. Denn auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn. Stille Wasser schlagen hohe Wellen und verbergen das Unbekannte. Freundin oder Feindin wird sie sein, die ich dir nannte. Eine Frau wird kommen und sie wird nicht putzen. Für dich ist es nun praktisch, den Löffel zu nutzen. Doch hüte dich, denn nur der geschickte Gebrauch führt wirklich ans Ziel. Schönheit ist der Glanz der Wahrheit und die Zahl bestimmt das Spiel. Fürchte dich nicht, wenn du Silvanus das Ladanum übergibst. Mamercus wird dich leiten.


  • Je schriller die Flötenmusik geworden war, desto mehr war auch die Nervosität der Iulierin angewachsen - erst als sie die Gestalt der Priesterin erblickt hatte, konnte sie wieder entspannter atmen, denn nun war der Spruch bereits gegeben und nichts in der Welt konnte ihn ändern. Still hatte sie der Priesterin entgegen geblickt, und ebenso still das Wachstäfelchen entgegen genommen, um den Spruch darauf durchzulesen.


    Er war verwirrend, und auch nach zweimaligem Lesen konnte sie noch nicht so recht den Sinn darin finden - aber sicher würde sie darüber einfach länger nachdenken müssen, damit sie keinen falschen Schluss daraus zog. "Ich danke Dir und der Sibylle sehr," sagte sie leise zu der Priesterin. "Darf ich dieses Täfelchen behalten - oder kann ich mir eine Abschrift machen lassen? Ich werde darüber nachdenken müssen." Damit blickte sie ihr Gegenüber ernst an, doch im Kopf schwirrten tausend und ein Gedanke umher.

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