• Der erste Tag als Helferin lag hinter mir. Der bisher gewonnene Einblick verwirrte mich, denn ich merkte, ich war überwiegend von Plebejern umgeben und manches sah hinter den Kulissen anders aus als davor. Mein Lehrmeister hingegen war Patrizier und er war hervorragend. Womöglich war ich übermäßig von ihm beeindruckt, anders konnte ich mir die gemischten Gefühle nicht erklären, die mich auch nach dem Aufstehen noch gefangen hielten. Ich hatte die Unsicherheit am gestrigen Abend auf eine Erschöpfung zurückgeführt.
    All das behielt ich für mich, beschloss aber heute zunächst einen unabhängigen Rat einzuholen, der mir Licht in das Dunkel meiner Zukunft bringen sollte. Begleitet von einem Sklaven näherte ich mich dem Ort, suchte aber nicht nach einem Priester, sondern blieb abwartend stehen. Wenn es sein sollte, würde man mich finden und wenn nicht, war das vielleicht auch ein Zeichen und ich würde wieder gehen.

  • Als hätte sie nur darauf gewartet, dass sich ein ahnungsloser Suchender in ihre Fänge begibt, kommt eine Frau aus dem dunklen Gang, der zum Heiligtum der Sibylle führt, heran. Sie tritt aus dem Schatten in das Licht, wieder in den Schatten und zurück ins Licht, bis sie vor Prisca in den Eingangsraum tritt. Die Frau ist in ein weites, weißes Kleid gehüllt, ihr Haar wird von beinahe durchsichtigen weißen Schleiern bedeckt. Ihr Gesicht jedoch, durch die Spuren des Alters gekennzeichnet, ist unverhüllt und ihre Augen strahlen eine Zufriedenheit aus, so als hätte sie schon viel in ihrem Leben gesehen, doch hätte sie nur wenig davon berührt.


    "Salve, mein Kind. Du suchst das Wort der Götter aus dem Mund der Sibylle?"

  • Die alte Frau zog meine Aufmerksamkeit unmittelbar nach ihrem Erscheinen in den Bann. In einer Art von Faszination verfolgte ich ihr Auftreten, ihr Verschwinden und erneutes Hervortreten. Noch nie war ich alleine hier und fast erschreckte ich mich vor dem eigenen Mut. Bei näherer Betrachtung jedoch strahlten ihre Augen eine Form von Glück und Herzensruhe aus, sodass mich ungetrübtes Vertrauen gleich der zarten Schleier umfing, die ihr Haar bedeckten.


    "Ja", hauchte ich. "Ich suche Rat und hoffe, ihn hier zu finden."


    Waren es meine Worte, die soeben über die Lippen getreten waren? Hatten mir die Götter diese Gedanken eingeflößt? Oder fühlte ich mich nur der Wirklichkeit entrückt, weil ich bei diesem Heiligtum die Nähe des Orakels wusste?

  • Die Priesterin nickt verständig. Nichts anderes hat sie erwartet, denn diejenigen, die Rat suchen sind leicht von denen zu unterscheiden, welche die Räume des Orakels aus geschäftigen oder anderen Gründen betreten.


    "So reiche mir die Räucherung, mit welcher du erhoffst, Apollo auf dich aufmerksam zu machen, und formuliere deine Frage so, wie sie den Göttern angetragen werden soll."

  • Der Aufforderung wegen der Übergabe des Weihrauches kam ich sofort nach: Ein Blick genügte und einer der Sklaven übergab zunächst mir und anschließend ich die Ware. Die Formulierung der Frage hatte ich schon ansatzweise probiert, aber jede Form auch wieder verworfen. Es war so schwierig, mein Anliegen in nur eine Frage zu pressen. Brauchte die Sibylle Informationen, um die Frage richtig deuten zu können oder wusste sie bereits so viel, dass wirklich nur eine konkrete Formulierung reichte? Vermutlich war Letzteres angebracht, denn die Rauchentwicklung würde sich ja auch nur auf einen Sachverhalt und nicht eine ganze Geschichte beziehen können.


    Bei all diesen Gedanken, verging nur wenig Zeit – es musste wie ein Besinnen wirken, nicht wie Unentschlossenheit. Schließlich antwortete ich mit klarer, wenn auch leiser Stimme:


    "Ich möchte gerne wissen, ob der von mir eingeschlagene Weg wirklich der richtige ist. Würdest du bitte folgende Frage überbringen: Befinde ich mich auf dem richtigen Weg oder habe ich ihn bereits verlassen?"

  • Die alte Frau nimmt das Säckchen mit Weihrauch entgegen und öffnet es. Nachdem sie kurz daran gerochen hat schließt sie es wieder und dreht sich ohne ein weiteres Wort um. Aus dem Licht tritt sie wieder in den Schatten, ins Licht und den Schatten, wechselhaft, bis dass sie das Heiligtum erreicht und darin endgültig verschwindet.



    Kurz darauf dringt aus dem Gang ein eigenartiger Ton hervor, ein beständiges Heulen, wie wenn der Wind in einer stürmischen Nacht zwischen zwei Felsen hindurchpfeift, wie das Jammern einer gebährenden Kuh und gleichsam wie der schrillste Ton, welcher einer Tibia zu entlocken ist. Aus dem Heiligtum kommt langsam Rauch hervor, wabert durch den Gang und flieht in den hellen Zwischenräumen nach Draußen. Die Töne werden immer höher, immer schriller, steigern sich zu einem unangenehmen Kreischen, bis sie irgendwann, als es scheint, dass die Felsen bald zerspringen müssten, mit einem Mal verstummen.


    Schwankend kommt die alte Priesterin aus dem Heiligtum hervor, aus dem Schatten ins Licht, wechselhaft, ihr Schritt wird fester und bis dass sie Prisca erreicht hat, ist ihr Gang so aufrecht und gerade wie beim ihrem ersten Zusammentreffen.


    "Dies ist, was die Sybille dir zu sagen hat." Mit monotoner Stimme liest die alte Frau die Worte des Mediums von einer Wachstafel ab, welche sie schließlich Prisca in die Hand gibt.



    Ohne Ziel gehst du weiter und wartest auf den Weltuntergang,
    Doch dein Warten ist ewig, und die Ewigkeit lang.
    Stehst du einfach nur da, so wie ein Denkmal deiner selbst,
    Ist der Weg vor dir eine Öffnung, in die du immer tiefer fällst.


    Fürchte dich nicht und tue den ersten Schritt, hinaus aus dem Grab.
    Du wirst sehen, die Arroganz persönlich steigt von ihrem Sockel herab.
    Nicht immer kannst du Rückenwind haben und Sonnenschein im Gesicht,
    Denn Unverschämtheit und Einfalt erbarmen sich nicht.


    Um mit den Sternen zu tanzen, sie alle zu sehen,
    Musst du die Schicksalstürme selbst hinauf gehen.
    Der Löffel ist schwer, genau wie der Weg. Doch was ist schon Glück?
    Bedenke: Die Sehnsucht, die du bekämpfst, kehrt als Schicksal zu dir zurück.


    Der Morgen wird kommen, bist du dann immer noch hier?
    Hast du den Plan nicht vor Augen, kommt der Weg nicht zu dir.
    Es ist nicht wie auf der Bühne, du kannst nicht einfach gehen,
    Du kannst nicht nach vorne blicken um das Ende zu sehen.


    Manchmal weiß man nicht wo man ist und wie es weitergeht.
    Manchmal kennt man den Weg, doch dann weiß man nicht wo man steht.
    Kennst du deinen Namen, kennst du dein Ziel?
    Vertraue darauf, nicht zuwenig, nicht zuviel.


    Setze ein Fuß vor den anderen und die Welt ist dein,
    Doch bedenke stets, dieser Weg wird kein leichter sein.
    Nimm einen großen, flachen Stein - keinen spitzen,
    Sonst bleibst du zeitlebens auf deiner Unruhe sitzen.


  • Die Zeit des Wartens verbrachte ich an Ort und Stelle. Bis auf die Tatsache, dass ich ständig von einem Bein auf das andere trat, bewegte ich mich nicht einen Fingerbreit. Nicht einmal den Blick wendete ich während der ganzen Zeit von der Stelle ab, wo die alte Frau verschwunden war. Alle Sinne waren auf das Heiligtum gerichtet und so trafen mich all jene Geräusche, die bald erklangen, in scheinbar überdeutlichem Maße.


    Ich hätte niemandem sagen können, wie lange ich gewartet hatte. Mein Zeitgefühl signalisierte einen Moment und zugleich eine Ewigkeit. Als die alte Frau erneut erschien, schaute ich sie gebannt an, obwohl mir das bereits als Kind verboten wurde – mir jedoch wurde es heute nicht einmal bewusst. Meine Augen hingen an ihren Lippen, als sie die Botschaft der Sibylle verkündete und rein mechanisch nahm ich die Tafel entgegen, als sie geendet hatte.


    "Hab Dank!", flüsterte ich, während ich den Worten nachsann und mein Blick auf die Buchstaben gerichtet war. Irgendwann drehte ich mich um und verließ in Begleitung der Sklaven den Ort des Heiligtums. Ich kehrte zunächst in die Villa Claudia zurück.

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