Der Tag war recht fortgeschritten. Kalt war es. Nachdem er seine Einheit den lieben langen Tag auf dem Campus gescheucht und gefordert hatte, nachdem er sie anschließend in die Castra zurückgeschickt hatte, widmete sich Avitus seinem eigenen Training. Es war eine Sache, stets nur Befehle zu erteilen. Eine andere, selbst zu handeln. Und der Artorier war kein Mann, der von seinen Soldaten etwas zu fordern gedachte, was er nicht auch er selbst würde auf sich nehmen können.
Avitus pflegte stets in voller Rüstung auf dem Campus zu erscheinen. Sonst war dies ein eher ungewöhnliches Bild eines Centurio auf dem Campus, nahmen doch viele von ihnen ihre Rüstung und Helm ab. Bequemlichkeit. Als derzeit ranghöchster Offizier seiner Kohorte hatte er den anderen drei Centurionen einfach verboten, ohne die volle Rüstung auf dem Exerzierplatz zu erscheinen. Wenn seine Legionäre es Tag für Tag aushielten, in voller Montur zu trainieren, forderte er nicht weniger von sich und den anderen Centurionen. Zumindest von denen, denen er wenigstens etwas zu sagen hatte.
So kam es, dass er nun auf dem Platz stand, ein Scutum und ein Pilum haltend, angezogen in volle Uniform, samt Helm, den Beinschienen und dem Umhang. Hinter ihm stand der Sklave Commodus mit sieben weiteren Pila. Allesamt echte, scharfe und tödliche Waffen, denn die Zeit, in der Asvitus mit den stumpfen Holzstöcken, die nach Schwert und Pilum aussahen, trainierte, lagen länsgt hinter ihm.
Ursprünglich hatte Avitus den Sklaven erneut nach Germania schicken wollen, entschied dann aber, dass es im Winter einfach zu gefährlich wäre, den Mann alleine nur wegen eines Schreibens gen Norden zu schicken. Er war viel nützlicher, wenn er hier blieb und ihm Dienste leistete. Mittlerweile konnte Commodus sogar ein recht ordentliches Essen zubereiten, was ihn immer unentbehrlicher machte.
In einiger Entfernung, Avitus schätzte sie auf 18 passus - und lag damit nicht falsch - stand sein Gegner, sein Ziel in Form eines dicken und mannhohen Holzpfahles. Avitus Gesichtsausdruck blieb unverändert, als der kalte Wind von nun auf jetzt auffrischte, ihm den Umhang zu entreißen suchte, daran mit seiner mächtigen Kraft zerrte und diesen wild flattern ließ. Er spürte den Wind, wie er gegen die crista transversa drückte, gegen seinen Scutum, wie er sich ihm frontal entgegenzustellen suchte. Es würde mehr Kraft erfordern, gegen den Wind zu werfen.
Wie gewohnt, rief er die passenden Befehle. Einerseits war es so leichter, sich vorzustellen, er sei an der Spitze seiner Centurie, der er den Befehl zu einer Pilasalve gab. Andererseits, damit sich Commodus die Befehle einprägte. Seine tiefe, rauhe Stimme kämpfte gegen den Wind an.
"Pila sursum... tollite pila... mittite"
Er warf. Mit einer langsamen Drehung um die eigene Längsachse bohrte sich das Pilum in den Wind, der sich ihm entgegenstellte, es von seiner Bahn abzulenken suchte. Und Avitus beobachtete den Flug des Speers. Und als dieses den Zenit seiner Flugbahn erreich hatte, wusste er, dass der Wurf ein unglücklicher sein würde. Er hatte das Pilum in seinem Soldatenleben oft genug geworfen, um sofort zu erkennen, ob es sein Ziel treffen würde oder nicht. Zwar kam es bei einer Salve, die von einer ganzen Centurie oder Kohorte abgegeben würde, nicht auf Genauigkeit eines einzelnen Wurfs an, aber darum ging es dem Artorier auch gar nicht. Ganz egal, ob es drauf ankam oder nicht, er wollte sein Pilum zielgenau werfen.
Denn immer wieder hatte Avitus Träume wie damals jenen in Germania. Träume, in denen er sah, wie er durch das Schwert, geführt von des Feindes Hand, starb. Alleine starb, zurückgelassen in den dunklen Wäldern Germanias, aufgefressen von den Wölfen und anderen Aasfressern. Avitus wusste, dass diese Träume Ausdruck seiner unterdrückten Angst waren. Jener Angst, die er hatte, aber nicht wahr haben wollte, als er nach Germania ging. Jene Angst, die in diesen Alpträumen, die er zuweilen hatte, zu Tage kam und ihm klar vor Augen führte, dass er sterblich war. Jene Angst, die ihn sogar bis heute noch verfolgte... Doch wenn er hier stand, auf dem Campus, mit dem Scutum in der einen und einem Pilum in der anderen Hand, dann stellte er sich dieser Angst. Und er wusste, er war kein Held und würde wahrscheinlich nie einer sein können. Helden haben nuneinmal keine Angst vor dem Tod. Aber er wusste auch, er war Mann genug, Soldat genug, Römer genug, Artorier genug... um sich seiner Anngst zu stellen. Um ihr gegenüberzutreten und ihr ein Pilum entgegenzuschleudern, auf dem er vorher ein "roma victrix" eingeritzt hatte. Wenn er auf dem Schlachtfeld stehen würde, den Feind in Wurfreichweite, dann wollte Avitus sicher gehen, dass derjenige, den er sich ausgesucht hatte, derjenige, der das Pech haben sollte, ihm warum auch immer aufzufallen, durch das kalte Metall der Klinge seines Pilums durchbohrt sein würde. Dann, wenn der andere tot sein würde, der andere und nicht er, Avitus, würde er diese Angst wohl endgültig besiegt haben. Aber bis dahin - und nur die Götter wussten, ob es überhaupt je dazu kam - musste er trainieren.
Noch ehe das Pilum, welches er eben geworfen hatte, aufschlug, streckte er den Arm aus, um nachdem nächsten zu verlangen.
"Pilum"
Im nächsten Augenblick Augenblick schlug das Pilum in den Holzpfahl ein. Die Spitze bohrte sich in das alte, kaltgewordene Holz mit einem dumpfen Geräusch. Sie traf hart, so dass Splitter flogen und die Klinge des Pilum verbog sich. Doch sie traf zu tief, kaum einen Fuß über dem Boden.
Avitus warf erneut, nachdem er das Speer in seiner Hand spürte. Diesmal fester, mit zusammengebissenen Zähnen, jedoch nach wie vor stillschweigend. Ohne das Gestöhne, dass so mancher Mann vo sich gibt, wenn er Anstrengung zu erdulden hat. Und auch dieses Mal sauste das Pilum dahin, schnitt die Luft und... flog an dem Pfahl vorbei. Doch der Artorier ließ sich nicht entmutigen. Längst hielt er das dritte Pilum in der Hand, das er sogleich auf den Weg schickte. Und noch ehe es in den Pfahl aufschlug, warf er erneut...
Am Ende der Salve steckten sechs der acht Pila im Pfahl. Eines flog gänzlich daneben, das andere hatte ihn nur gestreift und bohrte sich in die kalte Erde des Exerzierplatzes. Avitus atmete tief durch.
"Commodus, hol die Pila"
sagte er leise.
"Und befestige irgendetwas auf der Höhe, wo das Gesicht eines Mannes sein sollte"