Die Stadt lag unter einer dünnen Schneeschicht, als die ersten Strahlen der noch kühlen Sonne die Erde berührten. Die Luft war sehr frisch und den Himmel trübte nicht eine Wolke. In der kleinen Stadt herrschten der Winter noch beinahe ohne jede Einschränkung. Das erste Tageslicht ließ den jungfräulichen Schnee wie Bergkristalle glitzern, während es sich nach und nach über eine immer größer werdende Fläche ausbreitete. Letztlich fielen auch Strahlen in ein kleines Zimmer einer hübschen Insula. Und diese Strahlen beschienen ein schlafendes Gesicht, welches durch die sanfte Berührung des Lichtes langsam in Bewegung kam.
Sacht öffnete Helena ihre Augen. Als erstes sah sie den Korbsessel, der sich neben ihrem Bett befand und auf welchem die schon zurecht gelegte Tunika lag. Am vorigen Tag hatte sie beschlossen, sich auf den Heimweg zu machen, denn ihre Familie brauchte sie. Dies hatte ihr das Gefühl gesagt, welches so vielen Frauen gegeben war. Sie fühlte sich wieder stark für das Leben. Sie war ein gutes Jahr fort und in Germanien gewesen. Sie hatte hier zu sich finden wollen, denn ihr war immer wieder aufgefallen, dass sie den Tod ihres ersten Gemahls nie überwunden hatte. Publius Tiberius Maximus war Tribunus Laticlavus gewesen, als er seine Legion nach Germanien führte um die heimischen Truppen zu unterstützen. Und dort war er auch gefallen. Aus diesem Grund war ihre Wahl auf Germanien gefallen. Sie wollte diese ‚Bestien’ kennen lernen, die sie ihres Glückes beraubt hatten. Sie wollte das Land sehen, in welchem sie ihn kennen und lieben gelernt hatte. Das Land, an welches sie ihn verlor.
Sie senkte ihre Lider und rief sich, wie wohl jeden Morgen, den sie hier in Germanien zubrachte, sein Gesicht in Erinnerung. Er hatte einen schnellen Tod gehabt, war ihr bewusst geworden, denn wer sauber durch einen Speer getötet wird, leidet nicht lange. Und davor hatte er ein glückliches Leben führen dürfen und auch eine schöne Tochter zeugen können. Um seine Söhne tat es Helena leid, doch sie hatte nicht die Kraft gehabt, beide ins Leben zu führen. Dies war auch der Auslöser für ihre Erkenntnis gewesen, dass sie nicht richtig leben könnte, wenn sie nicht langsam etwas änderte. Er war ein sehr guter Ehemann gewesen und wenn sie eines Tages sterben würde, würde sie ihn wieder sehen. Und dann würde sie an seiner Seite sein und auch dort bleiben. Oft hatte sie sich gefragt, in welcher Gestalt man das Elysium betreten würde. War es jenes Aussehen, unter welchem man die längste Zeit gelebt hatte, war es das Aussehen als man starb… Aber sie würde es nicht erfahren, ehe sie nicht starb. Und dafür, das hatte sie auch erkannt, war noch lange nicht die Zeit gekommen. Lange hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Maximus zu folgen, doch sie hatte noch vieles in ihrem Leben wieder gutzumachen und auch noch vieles Andere zu leben. Sie war erst in der Mitte der Dreißiger, hatte zwei Brüder und eine Tochter, um welche es sich zu kümmern galt.
Ihre Tochter hatte ihr unter Anderem die Augen geöffnet. Minervina hasste sie, da musste Helena sich nicht viel vormachen. Sie war immer schwach gewesen und hatte niemals als Halt dienen können. Außerdem hatte sie ihrer Tochter den Namen ihrer Familie genommen und sie gewissermaßen ihrer Herkunft beraubt. Am Namen würde Helena nichts mehr ändern können, doch sollte Minervina in ihrer Familie den Rest ihrer Jugend verbringen können, denn das war immer ihre eigentliche Bestimmung gewesen. Helena setzte sich aufrecht hin und strich sich ihr blondes Haar nach hinten. Dann war da auch noch Quintus Tiberius Vitamalacus. Sie hatte ihm viel Schmerz bereitet und war dann stets geflohen. Ob sie die Stärke aufbringen würde, wusste sie nicht, aber sie würde versuchen mit ihm über seine verflossene Liebe zu sprechen, die sie ihm so erschwert hatte. Sie würde versuchen, ihm ihre ehrliche Reue zu beweisen und mit ihm im Frieden auseinander zu gehen.
Und sie würde wieder ihren Dienst für das Imperium Romanum aufnehmen. Sie würde dem Kaiser entgegentreten und um Wiederaufnahme ihrer alten Aufgaben bitten. Sie würde ihm ihre Gründe verständlich machen und auf seine Gnade hoffen. Würde er ihr diese nicht erteilen, musste sie damit leben. Nun erhob sie sich und näherte sich einer Schale Wasser, um sich an dieser zu waschen. Heute sollte ihre Heimreise beginnen und ihr erster Zwischenstopp würde in der Colonia Claudia Ara Agrippinensium sein.
Sie hatte in der langen Zeit des freiwilligen Exils, wie man es durchaus bezeichnen konnte, vieles gelernt. Sie hatte zum ersten Mal ihre Fehler erkannt und genauso bemerkt, dass sie nicht alle ausgleichen konnte. Aber sie konnte es den Menschen, denen sie Schmerz verursacht hatte, verständlich machen und versuchen, einige Missetaten zu lindern. Ab heute würde sie wieder für das Eintreten, an was sie glaubte. Und sie würde nicht mehr schwach zurücksinken, sondern immer weiter gehen. Sie war immer mehr ein Schatten gewesen und ab nun würde sie den Schattenwerfer darstellen. Das, was sie noch vor der Ehe mit dem Patrizier gewesen war. Es war schwer, sich dies einzugestehen, doch eigentlich war es das Bündnis mit ihm gewesen, was sie geschwächt hatte. Und seine Liebe, sie zu stärken, war nicht greifbar. So war sie eingegangen, hatte aber auch gelernt.
Mit einem früher sehr selten gewesenem Lächeln ließ sie das Linnen fallen und legte sich die Tunika um und verschloss sie mit einer silbernen Fibel. Sie legte sich ihre Palla um und sah aus dem Fenster. Sie staunte nicht schlecht als sie den Neuschnee bemerkte, der sie ziemlich blendete, aber das würde sie nicht abhalten. Sie legte ihre Kleider zusammen, die sie gern behalten wollte und ließ den Rest einfach zurück. Sie war mit wenig hierher gekommen und würde mit wenig wieder gehen – auch wenn sie zwischenzeitlich viel gekauft hatte. Eilig verließ sie das Zimmer in ordentlichem Zustand und trat in den Flur hinaus um auf die Straße zu gelangen. Sie hatte sich mit jemanden zur Morgendämmerung verabredet, der sie mit in den Süden nehmen würde, zur Colonia Agrippina. Und kaum dass sie stand, hörte sie das Rattern eines Ochsenkarrens. Lächelnd grüßte sie den älteren Herren und stieg auf, ihrer neuen Zukunft entgegen.