• Über die gesamte Stadt verteilt stehen einige wichtige Isistempel.


    Isis ist die mit Abstand wichtigste Göttin Alexandrias. Der alexandrinische Isiskult geht nicht direkt auf dem ägyptischen zurück, sondern wurde bereits vor der Eroberung durch Alexander den Großen in Griechenland eingeführt. Von dort wanderte er dann durch die Makedonier nach Ägypten zurück. Deshalb sind die Isistempel im griechischen Stil gebaut und auch die Göttin wird griechisch dargestellt und nach griechischer Sitte verehrt.


    Isis repräsentiert das gesamte weibliche Prinzip der Natur. Sie ist die Herrin des Meeres und des Himmels, der Nacht und des Mondes, der Magie, der Fruchtbarkeit, der Herrschaft und des Gesetzes. Außerdem ist sie die Gemahlin des Osiris bzw. Serapis und Mutter des Sonnengottes Harmokrates, des jungen Horus. Der Gott Anubis ist ihr treuer Freund und Gefährte.


    Isis wird als junge Frau in griechischer Tracht dargestellt. Ihre Attribute sind der Isisknoten im Gewand der Göttin, welcher das ägyptische Ankh symbolisieert sowie der Mond, der Stern Sirius und die Sonnenkrone, zwei Stierhörner, die die Sonne tragen. Oft wird sie sitzend und den kleinen Harmokrates stillend dargestellt.


    Die Isistempel stehen unter Oberaufsicht einer eigenen Priesterschaft, einer der größten und einflussreichsten Priesterschaften des ganzen Reiches, die ihre Zentrale auf der Insel Philae in Südägypten hat. Die Priester kümmern sich um den Kult und die Mysterien und sind im Besitz zahlreicher magischer Kräfte.

  • Auch zum Tempel der Isis an der Agora ging Nikolaos. Sie gehörte ohnehin zu den Göttern, denen Nikolaos sehr häufig sein Schicksal anvertraute. Aus diesem Grunde hatte er auch das Schiff, das ihn nach seinen Plänen reich machen sollte (und mit dem er möglicherweise ein Verlangen stillen konnte, das ihn seit einiger Zeit wieder befiel; das Verlangen, andere Orte zu sehen; Alexandria war groß, doch irgendwann erschöpfte sich jede Größe) nach der Göttin benannt. Er hatte sich in seiner Amtsstube ein neues Gewand angelegt, das von einem tiefen, schimmernden Blau war. Blau war auch das Tuch, mit dem das Kalb bedeckt war, das ihr geopfert werden sollte. Um die Hörner waren Blumenkränze gewunden, auf dem Haupt des Tieres lag ein feiner Schleier, in den Goldfäden gewoben waren. Auch eine Dose mit Weihrauch hatten die Diener zum Tempel gebracht.
    Nikolaos sah sich nach einem Priester um. Die Hallen um den Tempel waren voll von Menschen. Katzen, Hühner, Weihrauchdosen, Tonkrüge mit Wein, kostbare Glaskannen und einfache Holzkübel, Gemmen mit Portraits ihrer Angehörigen (oder ihrer selbst), bemalte Holztafeln, kleine Statuetten aus Ton, aus Bronze, aus Silber, aus Glas, aus Elfenbein, aus grobem Holz geschnitten, aus Ebenholz geschnitzt, Körbe mit Früchten, Körbe mit Wachteln, Körbe mit Tauben, Bündel voller Gewürz, die Hand mit kümmerlichen Rosmarinzweigen gefüllt, Goldschmuck, Geld, jämmerliche Küchengeräte trugen sie bei sich, zwischendrin hingen Kinder an Mütter-, Sklavinnen-, Sklavenhänden, durch die Menge drängelten sich Händler, die kleine Votivstatuetten feilboten. Nikolaos ließ sich von einem der beiden Diener den Weg freimachen. Er sah sich nach einem Priester oder nach einem Opferhelfer um. Offenbar hatte die Priesterschaft dieses Tempels alle Hände voll zu tun, es müsste täglich tausendfach erschlagen, erstochen, verbrannt werden.

  • Die Hitze und die stickige Luft in der Menge bekam Nikolaos nicht gut. Ihm schwindelte, der Gestank bereitete ihm Übelkeit. Die Priesterschaft indes hatte gar kein Interesse daran, das Gesinde wegzuscheuchen oder vielleicht den Pilgerstrom in geordnete Bahnen zu lenken. Selbst die Ärmsten der Anhänger sicherten ihren Reichtum. Tausende kleiner Geldopfer wurden in den Kassen der Priester schnell zu einem großen Vermögen.
    Der Diener hatte viel damit zu tun, andere Pilger zur Seite zu drängen, Knuffe auszuteilen und Rippenstöße. Er trat auf Füße, in Körbe, gegen Kinder, gegen Schienbeine und in Hacken, um seinem Herren den Weg frei zu machen zum Eingang des Tempels. Währenddessen wartete der andere Diener mit dem Opfertier und versuchte es, im Staub des Platzes rein zu halten und zu schützen vor anderen zu opfernden Tieren, vor Hunden und vor gierigen Strolchen, die um den Tempel herumlungerten, um die eine oder die andere Drachme zu erhalten oder um den einen oder den anderen Hühnerkäfig um die nächste Hausecke verschwinden zu lassen, wo dann bereits ein Kollege wartete, oder eher soetwas wie ein Herr, oder um alleine mit dem Käfig reis aus zu nehmen, sich zu flüchten in seinen Unterschlupf.
    Endlich stand Nikolaos vor der hohen Tür des Tempels. Zwei Wächter hielten hier die Menge in Schach und ließen immer einzelne Pilger vortreten, bevorzugt jene, die reich aussahen und reiche Gaben mit sich führten. Ärmere mussten hier meist Stunden verbringen, oft auch über die Mittagshitze hinweg, bevor sie endlich ihre bescheidenen Geschenke opfern durften. Nikolaos wurde hingegen sofort nach vorne gebeten. Er reichte die Silberdose einem Opferhelfer und unterrichtete ihn von dem Kalb, das unten auf dem Platz auf seinen Tod wartete. Der Opferhelfer war außerdem außerordentlich freundlich, er lächelte, schmeichelte Nikolaos und versprach, die Göttin würde gewiss ihre Freude haben.
    Er reichte die Silberdose einem anderen Opferhelfer und folgte selbst Nikolaos und dessen Diener zum Kalb. Der Rückweg durch die Menge war weniger beschwerlich als der Hinweg, auch wenn inzwischen die Pilger auf den breiten Stufen der Freitreppe warteten. Jedoch schien das Gewand, das den Opferhelfer als solchen auszeichnete, eine gewisse Ehrfurcht zu erwecken.

  • Endlich erreichten sie das Kalb und den wartenden Diener. Noch immer süßlich lächelnd nahm der Opferhelfer das Tier in Empfang. "Ganz sicher wird die Göttin sich erfreuen. Ich danke dir, oh Herr, für deine großzügigen Gaben. Ich wünsche dir noch einen angenehmen Tag und sehr viel Erfolg in deinen Geschäften und viel Glück auf Reisen deines Schiffes. Auch deinem Weib und deinen Kindern wünsche ich Gesundheit - " "Ich habe weder Weib noch Kind.", unterbrach ihn Nikolaos etwas unwirsch. Das schmeichlerische Verhalten des Mannes tat seinen strapazierten Nerven nicht gut. "Oh, Verzeihung, ich konnte nicht wissen... . Nun denn, dafür alle Gesundheit deines nicht vorhandenen Weibes und deiner ungeborenen Kinder für dich." Dieser Kommentar kam Nikolaos beinahe schon etwas unverschämt vor. Doch er zwang sich zu einem Lächeln. "Ich danke dir.", bemerkte er, ungewollt trocken und knapp. Der Opferhelfer grinste weiter und verschwand mit dem Kalb.
    "Solche unwürdigen Strolche wollen der Göttin Isis dienen", brummte Nikolaos auf dem Weg zurück zum Hafen. Er hoffte, Isis würde sich ihm wohlgesonnen zeigen und darüber hinwegsehen, dass sie zumindest einen unwürdigen Opferhelfer hatte, für den freilich Nikolaos nichts konnte.

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