Cubiculum | Claudia Callista

  • Wohl begrüßt' ich dereinst Siziliens prangende Fluren
    Und des Euböergestads üppiges Traubengefild,
    Sparta sah ich, die glänzende Stadt am beschilften Eurotas,
    Und wohin ich auch kam, ehrten sie freundlich den Gast.
    Aber die Sehnsucht nicht in der Brust mir konnt' es beschwichten,
    So vor jeglichem Land war mir das heimische süß.


    Fließend und samtig schmiegt sich die Seidendecke an den Leib von Callista. Ihre glänzenden Haare zerfließen zu einem nachtschwarzen Kranz um ihren Kopf. Ihre Augen sind geschlossen. Langsam hebt und senkt sich ihre Brust. Das Zwitschern der Vögel vermag die Patrizierin zu wecken. Verschlafen reckt sich Callista. Sie streckt sich und rollt unter der warmen Decke herum.
    "Hm."
    Wunderschönen Träumen entfleucht sie. Er ist in ihrem Nachtgespinst zurück gekehrt. Die Welt ist wieder rein und klar. Sie kann glücklich sein. Ihre Augen öffnen sich. Doch das Bett neben ihr ist leer. Enttäuscht und traurig erzittert Callistas Unterlippe.
    "Einen gesegneten Morgen, Göttliche. Du Schönste unter den Frauen. Du Reine und Vollkommene."
    Selbst die allmorgendlichen Hymnen der Sklavin vermögen nicht die Verzweiflung zu verdrängen. Callista schluchzt leise auf.
    "Wo sind wir, meine Benohé?"
    Neben dem Bett kniet Benohé schon seit dem Morgengrauen. Jeden Tagesanbruch wartet sie auf das Erwachen ihrer Herrin.
    "In Rom, Herrin."
    Die Tränen perlen über Callistas Wangen. Sie legt sich auf ihren Rücken.
    "Und er?"
    Schon seit Monaten erlebt Benohé immer wieder diese Verzweiflung. Das Mitgefühl hält sich bei der Sklavin in Grenzen.
    "Fort, Herrin."
    Nun weint Callista laut. Sie vergräbt ihr Gesicht in dem dicken Kissen. Sie benässt den Stoff mit dem Zeugnis ihres Seelenschmerzes.


    Erst eine geschlagene Stunde später hat sich Callista von der morgendlichen Trübsal befreit. Sie sitzt vor einem Tisch aus Kirschholz. Benohé flichtet sorgfältig die schwarzen Haare der Patrizierin zu einer sorglich anmutigen Frisur nach oben. Den silbernen Ring an ihrem Finger dreht Callista immer wieder herum. Den rubinroten Stein darauf schenkt sie ihre ganze Aufmerksamkeit. Erst als die letzte Strähne gewunden ist legt Callista die Hand auf ihren Schoß. Benohé hebt den Spiegel. Doch Callista betrachtet heute nicht ihr Angesicht. Sie erhebt sich und tritt auf das Fenster zu.
    "Ich vermisse das Geschnatter der Seevögel. Ich hoffe, sie verwüsten nicht meine Villa. Und meine Tiere. Meine armen kleinen Dinger."
    Geziert tupft sich Callista eine Träne von der Wange.
    "Möchtest Du speisen, Herrin?"
    Callista schüttelt den Kopf.
    "Nicht heute. Hole mir mein Rauchwerk. Und bringe mir Sinuhe zur Erbauung."


    Versunken ist Callista in den Anblick des Gartens. Fremd sind die Pflanzen. Das Licht ist blass und das Haus ihr fremd. Am liebsten wäre Callista sofort wieder aufgebrochen.
    "Herrin, Dein Vater naht."
    Der Schreck fährt in Callistas Glieder.
    Oh nein. Was sage ich ihm nur?
    Nichts von der reinen Wahrheit. Sorge Dich nicht, Callista.
    Sorgen? Ich bange zu sehr dafür.
    Konfus sieht sich Callista in dem Raum um. Soll sie sich hinsetzen? Lieber stehen bleiben? Doch zu spät. Die Schritte sind bereits bei der Tür angelangt.

  • Tag um Tag war verstrichen, und Myrtilus erholte sich nur langsam von dem stechenden Schmerz, der seine Brust und den linken Arm eines Abends wie ein glühender Speer durchzuckt hatte. Dabei war er nur im Sonnenschein gesessen, mit einem Becher gutem Wein und die Augen auf Brutus gerichtet, der mit seinen Soldaten gespielt hatte. In den Wochen, die auf diesen Schmerz folgten, hatte ihm der Arzt ausdrückliche Ruhe verordnet. Seit etwas mehr als einer Woche bestand Myrtilus allerdings darauf, langsam in dem ihm eigenen Gang herumzustreunen. Es war müßig, in seinem Alter allein auf seinem Zimmer zu verweilen, nur in Gesellschaft verstaubter Schriftrollen und auf den gelegentlichen Besuch der flatterhaften Jugend hoffend, wenn sie sich des alten Opas erinnerten, der er mehr und mehr wurde. Myrtilus vermisste die contiones der Auguren, den frischen Wind um seine Nase, wenn er mit dem lituus ein templum in den Sand zeichnete und den Flug einiger Vögel deutete. Er vermisste auch seinen Sohn Severus, der zwar anwesend und durch Senator Macers Zutun in den ordo senatorius erhoben worden war, aber sonst nicht viel mit der Familie zu schaffen hatte und sich seines Vaters nur selten erinnerte.


    Mit der vielen untätigen Zeit kamen auch allerlei Gedanken und Erinnerungen an vergangene Tage zurück. Obwohl man von Myrtilus eher nicht behaupten konnte, er sei ein nachtragender Mensch, so kamen bei einigen Personen dennoch Wallungen in ihm auf, die seinem Zustand eher schadeten als nutzten, wenn Gedanken überhaupt eine Auswirkung haben konnten. Eines jedoch hatte durchaus Auswirkungen auf den betagten Claudier gehabt, nämlich die spindeldürre Thrakierin, die ihm mitgeteilt hatte, dass seine Tochter Callista von Stund an im Hause weilte.


    Myrtilus hatte die Sklavin fort geschickt und sich in der Dämmerung seines cubiculum gefragt, wie sie Kunde bekommen hatte von der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. Sowohl seinem Sohn als auch Menecrates und den Seinen hatte er das Versprechen abgerungen, seine sonstigen Kinder nicht zu benachrichtigen. Immerhin war er, obwohl mit seinen bald einundsechzig Jahren betagt, nicht schwächlich oder anfällig, sondern ein Claudier durch und durch, und als solcher hatte ihn weder die schwere Beinverletzung damals bezwungen, als ägyptische Bastarde einen Übergriff auf eine nur gering bewaffnete römische Handelsflottille versucht hatten, noch würde ihn dieser lächerliche Stich besiegen, der seine Brust beengte und ihn zu Schweißausbrüchen getrieben hatte. Der verzierte Stock war nun unentbehrlich geworden, selbst bei kurzen Wegen, und diese Abhängigkeit ärgerte Myrtilus ungemein. Nicht nur, dass bei jedem seiner Schritte ein zusätzliches, arhythmisches "Klonk" zu hören war, sondern auch der Umstand, überhaupt auf etwas wirklich angewiesen zu sein, verstimmten ihn.


    So waren es nicht nur Schritte, die seine Tochter an diesem Vormittag nahen hörte. Myrtilus pflegte, seitdem er wieder herumlief, jeden Morgen eine Runde durch die villa zu spazieren. Er roch an Oleander- und Fliedergebüsch im prächtigen Garten, weilte lange bei den Rosensträuchern und erachtete selbst kleine Blümlein als Geschenk, da er sie nochmals bewundern durfte. An diesem Vormittag hatte er sich gesputet, denn obwohl er seinen Besuch für seinen Geschmack recht lange vor sich her geschoben hatte, so freute sich sein altersschwaches Herz durchaus, dass Callista sich augenscheinlich um ihn sorgte. Und dennoch war da die leichte Besorgnis, sie könnten nahtlos an die lange vergangenen Geschehnisse anknüpfen und den alten Disput fortsetzen. Ebenso fragte sich der Alte, warum Callista allein angereist war, ohne Fabius, denn es hieß, sie habe lediglich seinen Enkel mitgebracht.


    Er lenkte seine Schritte also der Tür entgegen, gestützt auf den verhassten Stock, der ihn schwach machte, und dann blieb er stehen. Noch bestand die Möglichkeit, unverrichteter Dinge sich umzuwenden und zu warten, bis Callista den ersten Schritt würde tun, doch wäre dies ein ebenso kindisches Verhalten gewesen wie das ihre, den Besuch nicht anzukündigen. Myrtilus sammelte sich kurz und klopfte sodann an, im Herzen bang und vorfreudig zugleich, erwartungsvoll und misstrauisch, erfreut wie skeptisch. Es dauerte nicht allzu lang, ehe ihm eine Sklavin den Zugang zum Inneren des Zimmers gewährte. Myrtilus trat ein, augenblicklich der sorgfältig zurechtgelegten Worte beraubt und vom doch so unverhofften Anblick seines Fleisch und Blut eingenommen. Nur wenige Schritte hinter der Tür blieb er stehen, schwer auf den Stock gestützt, und betrachtete mit nicht ganz verborgenem Stolz seine Tochter, die wunderschöne Callista, die im Sonnenlicht noch mehr erstrahlte und ein so lebendiges Abbild Coriolanas war, dass er das Gefühl hatte, sie selbst wäre präsent. Alle Zweifel fielen von ihm ab, zumindest für diesen Moment, und jedweder Gedanke an Vergangenes ward vorerst vergessen. Auf die Rechte gestützt, breitete Myrtilus nur den Linken Arm aus und wartete stumm darauf, dass Callista nun wenigstens die Initiative würde ergreifen.

  • Keine finstere Nacht, üble Gestalten oder wilde Tiere fürchtet Callista. Unerschrocken reitet sie auf Kamelen oder Elafanten. Sie liebt die Gefahr und das Abenteuer. Und doch fühlt sie sich hundelend. Förmlich blümerant und kläglich ergeht es nun der jungen Frau. Konsterniert und entsetzt ist sie zudem. Ein Jahrhundert scheint vergangen zu sein. Ihr Herr Papa ist um viele Jahrzehnte gealtert. Obwohl nicht mal zehn Jahre vergangen sind. Es scheint ein flüchtiger Blick auf ihre Zukunft zu sein. Verblichen, verblüht und vertrocknet ist er.
    Ich will nicht alt werden. Isis bewahre.
    Du wirst immer jung und schön bleiben, Callista.
    Ich will nicht vergehen wie eine trockene Blume.
    Callistas Unterlippe erzittert. Tränen steigen in ihr hoch. Womöglich kann man es dem Wiedersehen zu schreiben. Doch in facto bemitleidet sich Callista nur. Die Angst vor dem Altern ist beinahe noch stärker in ihr als die vor dem Tod. Callista schluckt und wirkt erstarrt.


    Nach dem ersten Schock keimt zudem Wut auf. Callista hat diese noch immer nicht überwunden. Und der Hass in ihr ist genauso stark wie vor Jahren. Drei Jahre Einsamkeit hat sie ihrem Vater zu verdanken. Und noch mehr Jahre in einem Gefängnis. Einem prächtigem Käfig. Aber die Ehe war nicht mehr für sie. Und wie sie ihren Mann gehasst hat. Abgrundtief. Verabscheut hat sie ihn. Stets hat sie ihren Körper dem Fabier verweigert. Und freudestrahlend hat sie bei seinem Tod gelacht. Gefeiert hat sie seine Bestattung. Die Freiheit hat sie mit ihren Armen und ihrem Strahlen begrüßt. Nie wieder würde sie diese hergeben. Leider hat ihr Vater immer noch ein Wort bei dieser Angelegenheit.
    O, wie gerne würde ich ihm die Augen auskratzen.
    Callista, Du brauchst seine Hilfe.
    Gedemütigt fühlt sich Callista. Ein Bettelweib scheint sie zu sein. Sie! Eine Claudia. Ihr Stolz will sie lähmen. Doch Callista löst sich davon. Sie ist eine gute Schauspielerin. Wenn sie will. Und sie muss all ihre Künste verwenden. Für ihren Vater.
    Gekünstelt schnieft sie auf. Womöglich hat ihr Vater die Tränen bemerkt. Anmutig geht sie auf ihn zu.
    "Pater meus."
    Verzweiflung und Rührung schwingt in ihrer Stimme mit. Er würde sie durchschauen. Doch ihr Vater kennt Callista schon lange nicht mehr.


    Bis vor ihren Vater tritt sie. Die weißen Haare und die Falten schockieren Callista noch mehr. Auch die Zeichen des Todes nimmt sie auf seinem Antlitz wahr. Die Tränen sind nun echt. Aber nicht für ihren Vater. Erneut für sich selber.
    "Pater meus, bitte verzeih mir."
    Schluchzend und formvollendet sinkt Callista zusammen. Sie umgreift die welke Hand ihres Vaters. Nur mit Mühe kann sie ihre Lippen auf die alte Haut legen. Ihre Tränen benetzen seine Knöchel. Callistas Schultern zucken heftig.
    "Ich war so dumm und töricht. Damals."
    Ihr Gesicht ist von ihm abgewandt. Als ob sich Callista schämen würde. Doch noch hat sie sich nicht unter Kontrolle. Sie möchte nicht von ihrem Vater bereits durchschaut werden.
    "Pater meus, kannst Du Deiner infantilen Tochter verzeihen?"
    Bettelweib.
    Still!
    Mühsam kämpft Callista die gehässige Stimme in ihr nieder.

  • Myrtilus wäre ein schlechter Vater gewesen, wenn ihm die Eigenheiten seiner Kinder nicht zumindest in groben Zügen bekannt gewesen wären, noch dazu, wo sie doch beim ihm aufgewachsen waren. Und Callista war ohnehin schon immer ein ganz besonderer Fall gewesen. Wie sie nun im Sonnenlicht erstrahlte, sah sie indes aus wie eine Lichtgestalt aus den himmlischen Gefilden des Olympos. Und konnte ein Vater seiner Tochter denn grollen, wenn sie sich unter Tränen entschuldigte?


    Die Antwort auf diese Frage wäre eigentlich einfach gewesen, aber was an dem Verhältnis zwischen Callista und Myrtilus war schon einfach? Sie mochte noch so reumütig wirken und er mochte sie nicht durchschauen – dennoch konnte und wollte er ihr in diesem Punkt nicht mehr bedingungslos trauen. Zu viele Bedenken machten sich in seinem Kopf breit. Zu groß war die Enttäuschung damals gewesen. Für den Moment allerdings...was schadete es, sich selbst einer Illusion hinzugeben, zumal gerade jetzt kein Grund für Besorgnis bestand? Callista war hier, ihr Bruder irgendwo in Griechenland. Zumindest dessen konnte er sich sicher sein. Also blickte der Alte wohlwollend auf seine Tränen vergießende Tochter. Ihre Worte klangen so echt, dass es Myrtilus auch nicht schwer fiel, sie ihr mit dem Herzen zu glauben. Dennoch konnte er nicht vorbehaltlos bestätigen, ihr verziehen zu haben. Und doch waren da Zweifel. War sie nicht um seinetwillen hergekommen? War es nicht an der Zeit, zu verzeihen?


    Myrtilus wich sich selbst aus, verschiebt dieses Gespräch auf später, denn er weiß, dass es kommen wird. Unweigerlich kommen muss. Er konnte die Worte der Vergebung nicht sprechen, obwohl sein Herz bereits geformt hatte und darauf drängte, dass er sie aussprach. Stattdessen strich er ihr einige Male übers Haupt, wie einem kleinen Mädchen. nata mea, puella mea…. Sprich, wer hat dich informiert? Wie geht es meinem kleinen nepos, meinem Nero?“ Behutsam half er ihr, sich wieder aufzurichten und führte sie dann ungelenk zu den Sitzgelegenheiten, die sich in jedem Zimmer fanden. In diesem waren sie unweit des Fensters situiert. Ächzend ließ sich Myrtilus in einen bequemen, purpur bezogenen Sessel sinken. Er fühlte sich matt und müde, obgleich sein Geist hellwach war. “Ist Fabius denn nicht mitgekommen?“ fragte er seine Tochter und beobachtete ihre Reaktion aufmerksam.

  • Ein Welle von einem Schluchzen nach dem Anderen schüttelt Callista durch. Gekonnt spielt sie die verzweifelte Tochter. Doch ihr echtes Weinen ist divergent von jenem Zeugnis ihrer Verzweiflung. Sie bekommt allweil Schluckauf bei allzu vielen Tränen und langem Gejammer. Mit jedem Beben ihrer Schulter fügt sich Callista in ihre Rolle.
    Sie hebt ihr Gesicht an. Ein feiner Schleier liegt auf ihren golden schimmernden Wangen. Ihre Unterlippe zittert sanft. Eine Träne perlt an ihrem Kinn.
    Sieht ihr Vater nicht gütig auf sie herab? Callista meint das zu erkennen.
    Noch ein Mal vermag sie nicht seine Hand zu küssen. Dessen ungeachtet hält sie seine alte Hand. Flehend sehen ihre Augen zu ihm hinauf. Keine Worte der Ignoszenz kommen von seinen Lippen.
    Nun verzeih mir schon, Du alter Narr.
    Gemach, Callista, gemach. Nicht zu schnell. Sonst glaubt er Dir nicht.
    Früher war es doch einfacher.
    Das war vor...
    Ja, ja, ich weiß.
    "O, Pater meus! Ich wusste es einfach."
    Was auch immer. Denn Callista hat nicht den blassesten Schimmer, wovon ihr Vater spricht. Womöglich vermag sie das noch auszunutzen. Zuerst muss sie nur erfahren, was er meint.
    Zaghaft lächelt Callista und lässt sich aufhelfen.
    "Nero ist mit mir gekommen, Pater. Es geht ihm gut. Die immerwährende Schwäche macht ihm noch zu schaffen. Aber er ist ein kluger Junge geworden."
    Einmal hat Callista ihrem Vater geschrieben. Vor Jahren. Und nur der Geburt ihres Sohnes wegen. Ansonsten hat sie jeden Kontakt zu ihrem Vater vermieden.


    Anmutig nimmt Callista neben ihrem Vater Platz. Sie versucht die reumütige Tochter zu plagiieren. Aber der Funke des Triumphes schleicht sich in ihre Augen. Als ihr Vater nach ihrem Mann fragt. Etwas zu spät senkt Callista die Augen. Scheinbar ringt sie mit ihren Händen. Das Beben in ihrer Stimme klingt nun falsch.
    "Pater meus, Marullus ist entschlafen. Sein Geist in die Gefilde der Seligen eingekehrt."
    Cnaeus Fabius Marullus war nur wenige Jahre jünger als ihr Vater. Und zudem mal sein Freund. Unsicherheit mischt sich in Callistas Gedanken. Sie vermag nicht zu ahnen, was ihr Ehemann an ihren Vater berichtet hatte. Hoffentlich weiß er nicht um ihren Bruder in Ägypten.
    Ohne Cethegus hätte Callista all die letzten Jahre nicht ertragen.


    Vorsichtig späht sie nach oben. Ob sie genug an vermeintlicher Trauer offeriert hat? Und am Besten lenkt sie sodann von Marullus ab.
    "Möchtest Du Deinen Enkelsohn sehen, Pater meus?"
    Schon klatscht Callista in ihre Hände. Benohé verbeugt sich demütig. Sie hat den Spinnenkorb zurück gebracht und wartet bereits auf die Befehle ihrer Herrin. Nun verlässt sie lautlos den Raum. Der kleine Sohn von Callista ist in einem Nebenzimmer untergebracht. Mithin schreitet die dunkelhäutige Sklavin mit dem jungen Sohn zurück in den Raum.


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    Ernst ist das kleine Gesicht des Fabiers. Nero trägt die kindliche, purpurgesäumte Toga und eine Bulla um seinen Hals. Einen Schritt hinter der Sklavin betritt er den Raum. Suchend sieht er zu seiner Mutter. Ratlos ist seine Miene als er Myrtilus entdeckt. Und noch deutlich sieht er die Spuren von Tränen auf den Wangen seiner Mutter. Misstrauisch blitzen seine dunkelbraunen Augen auf. Der Junge geht zu seiner Mutter.
    "Salve Mater."
    Sein Gruß ist artig. Seine Mutter verlangt das von ihm. Und er möchte sie nicht unglücklich machen. Zudem ahnt sie dann nicht, was er sonst tut. Und alle sind zufrieden. Verbergen und Lügen. Den Schein wahren. So gehört es sich in einer guten Familie. Das weiß bereits der kleine Nero.


    Callista strahlt auf.
    "Mein Liebling. Da bist Du ja. Nero, das ist Dein Großvater."
    Nero sieht von den großen dunklen Augen seiner Mutter zu dem fremden Mann. Er weiß, was seine Mutter von ihm erwartet.
    "Salve Avus."
    Nero hat viel von seinem Großvater gehört. Und immerfort Schlechtes. Reserviert ist er. Und er weiß nicht so recht, was er tun oder sagen soll. Er macht darum eine manierliche Verbeugung. Ganz als ob er Respekt vor dem älteren Mann verspüren würde.

  • Nein, Demosthenis, nein! Dein Spiegel, glaube mir, trüget;
    Sähest du dich, wie du bist, sähest du nimmer hinein.
    - Lukillios


    Flaumenweich leuchten die rotbraunen Haare. Ein Bein streckt sich nach oben. Sonnt und wärmt sich im Lichte der Mittagssonne. Träge wandelt die Spinne der Callista über die Fensterbank. Vögel zwitschern munter. Der Brunnen plätschert vor sich hin. Und Callista langweilt sich. Tristesse und Substanzlosigkeit füllt ihre Zeit. Leert sie mehr. Offenbart die Plattitüde ihres Lebens. Auf ihre Hand stützt sich Callista ab. Sie liegt auf dem Bett und sieht hinaus in den Sonnentag. Decouragiert seufzt sie auf. Und noch einmal. Ein drittes Mal.
    "Ich sterbe. Der Tod ereilt mich. Wenn ich noch eine Minute länger diese Trivialität ertragen muss."
    Vorwurfsvoll wirkt Callista. Der Tadel ist an Benohé gerichtet.
    Ihre Sklavin sitzt neben Benohé. Weicher goldener Stoff umfließt ihren Leib. Sanft breiten sich die schwarzen Haare auf Benohés Schultern aus. Sie ist nicht überrascht. Solche Worte hört die Sklavin alltäglich. Callista ist oft gelangweilt.
    "Delektiere mich, meine Benohé. Beglücke mich."
    Eine Bewegung von Benohé. Callista hebt die Hand.
    "Nein, nicht so. Später wieder. Bring mich zum Lachen, meine Benohé."


    Ein Klopfen. Benohé ist vor den Launen ihrer Herrin gerettet. Callista reckt sich.
    "Herein."
    Die Tür öffnet sich. Eine junge Sklavin streckt ihren Kopf einher. Angst und Sorge ist in ihr Gesicht geschrieben. Hat sich gar die Angelegenheit im Bad schon herum gesprochen? Callista verzieht säuerlich ihren vollen Mund. Geliebt will sie werden. Verehrt und angehimmelt. Furcht ist auch erstrebenswert. Aber Bewunderung möchte Callista noch mehr erfahren.
    "Was willst Du, Serva?"
    Unsicher ist das Gehabe der jungen Sklavin.
    "Eine Einladung, Herrin. Für alle Claudier."
    Callistas Achtsamkeit ist geweckt. Benohé erhebt sich und nimmt die Einladung entgegen. Mit einer sorglosen Geste entlässt Callista die Sklavin.
    "Was steht dort, meine Benohé?"
    Benohé entfaltet das Schriftstück. Und liest es ihrer Herrin vor. Ein Strahlen gleitet über Callistas Antlitz.
    "Eine Lustbarkeit? Die Elegie ist vorbei. Die Monotonie durchbrochen. Rom. Die Stadt der Feiern und des ausschweifenden Vergnügens. Endlich."


    Tage sind noch bis anhin. Doch eifriges Treiben bricht aus. Kleider müssen ausgewählt werden. Schmuck ausgesucht. Und letztendlich ist Callista nie zufrieden. Naserümpfend wirft sie ein türkisgrünes Kleid in eine Ecke. Benohé sammelt es stumm auf.
    "Hoffentlich sind nicht nur biedere Senatoren dort und langweilige Eques. Welche Sklaven nehme ich mit? Aus der Villa womöglich?"
    Callista betrachtet sich im jüngst erworbenen Spiegel. Sündhaft teuer ist er. Die Rechnung geht an ihren Vater für das Silberwerk. Er ahnt sicher noch nicht von all der Akquise der Callista. Alles zu seinen Lasten. Genauso hochpreisig sind die Smaragdohrringe. Callista hält sie an sich heran. Damit ist sie zufrieden.
    "Rot. Gold. Weiß. Elfenbein."
    Benohé ergreift das Gewünschte.
    "Mich deucht, ich sollte eine Antwort verfassen. Hole Tinte, meine Benohé. Die Blaue. Und ein Papyrus vom Nil. Ob es noch seinen Geruch an sich trägt?"
    Das Karmesinrot eines Kleides verwirft Callista. Zu grell.
    Nicht lange danach sitzt sie an dem zierlichen Tisch. Die Spinne streicht um ihre Hand. Sorgsam verfasst Callista ein Antwortschreiben.

  • Hatte Myrtilus anfangs noch etwas Scheu verspürt, seine Tochter zu trösten, wie es von einem Vater verlangt wird, so legte er nun doch seine knochige Hand auf ihren Rücken. Einige Moment verharrte er so, bis er schließlich in trostender Manier über den Rücken der Jungen Frau strich. All der Kummer, den sie ihm gemacht hatte! Gut, dass Cethegus weitab von Rom weilte, in Griechenland. Es war besser. Eine weise Entscheidung war es damals gewesen, den Jungen fort zu schicken. Myrtilus fühlte sich mit jedem Schluchzer Callistas mehr in seinem Entschluss bestätigt. Ihre Nähe löste zwar ein seltsames und nicht einfach zu erklärendes Gefühl in seinem alten, schwachen Herzen aus, doch immerhin war sie seine Tochter. Eine lebendige Erinnerung an Coriolana... Und sie sah ihrer Mutter so ähnlich! Myrtilus sah Callista nun sanft an. Er fühlte sich in der Zeit zurückversetzt. Sein Haar war voller, sein Körper strotzte vor Kraft, und er hielt Coriolana in seinen Armen, als sie ihm sagte, dass...


    Nein! Myrtilus schloss die Augen, verschloss sie vor der schmerzhaften Erinnerung an jenen schicksalsschwangeren Moment. Sie klang so überzeugend, wie sie beteuerte, dass sie seinetwegen gekommen war. Myrtilus' Geist vermischte Callistas Antlitz mit dem Wesen ihrer Mutter, von dem sie so wenig geerbt hatte. Leider. Er lächelte sie liebevoll an, das Eis schien gebrochen. Er war es leid, über all die Scherereien nachzugrübeln, die sie ihm verursacht hatte. Sie war jung gewesen, hatte es nicht besser gewusst. Ihm aber würde er nicht verzeihen können. War er nicht alt genug gewesen, um zu wissen, was er da tat? Was er der Familie antat und ihr? "Ich vergebe dir." Ruhig kamen die Worte über seine Lippen. Er sah sie an, müde und mit dem Wunsch, Frieden zu haben, ehe er die Welt der Sterblichen irgendwann verließ. Vermutlich bald, wenn sein Herz weiterhin so träge schlug. Ach, es war ein Kreuz mit dem Alter! Niemand entkam diesem Gefängnis, nicht einmal der Kaiser. Alle Glieder versteiften sich zuhends - bis auf das eine - und das Aufstehen am Morgen gestaltete sich mehr und zum Fiasko.


    Ein enttäuschter Ausdruck schlich sich auf sein Antlitz, als seine Tochter vom Tod ihres Gatten sprach. Er argwöhnte kein flasches Spiel. Marullus war ein guter Römer gewesen. Deswegen hatte er ihn ausgesucht. Callista hatte es an nichts gemangelt. Myrtilus schwieg bedrückt. Fabius Marullus war jünger gewesen als er. Was war das für eine Welt, in der die Jungen vor den Alten starben? "Mögen die Götter sich seines Geistes annehmen und ihn stets bei dir sein lassen." Myrtilus meinte ernst, was er voller Inbrunst sagte. Er konnte ja nicht wissen, dass Callista sich wahrhaft alles wünschte außer dem Umstand, die unsichtbaren Augen ihres Gatten in jeder Sekunde auf ihr Tun gerichtet zu wissen. Nun hatte das arme Ding nur noch ihren Sohn - welchen er nie kennengelernt hatte. Nur einen einzigen Brief hatte Callista ihm gesandt, als der Knabe das Licht der Welt erblickt hatte. Daher erwiderte der Alte mit einem verklärten Lächeln auf den faltigen Zügen: "Unbedingt."


    Schon eilte eine Sklavin hinfort. Myrtilus grübelte indes über Callistas Zukunft nach. Natürlich würde sie die villa in Ägypten immer wieder an den geliebten Ehemann erinnern. Und freilich konnte sie nicht ganz allein dorthin zurückkehren, um einsam dort zu wohnen. Myrtilus stand in der Pflicht, ihr einen neuen Ehemann zu erwählen, sobald die Trauerzeit verstrichen war. Vielleicht diesen Tiberier. Oder doch besser einen Flavius oder einen Aurelius? Lächeln auf den faltigen Zügen: "puella mea," sagte Myrtilus. "hast du deine Habseligkeiten schon nach Rom transferieren lassen?" Für ihn stand bereits fest, dass sie bei der Familie Zuflucht suchen würde. Auf keine andere Idee kam er, wie auch? Eine hübsche, junge Patrizierin ganz allein in einer einsamen villa im fernen Alexandrien? Das kam doch nicht in Frage, nein. Welch abwegiger Gedanke!


    Die Tür öffnete sich, und der Knabe trat ein. Myrtilus' Gesicht erstrahlte. Welch Prachtbursche! Etwas dünn vielleicht, und blass um die Nase. Aber so höflich. Und so viel severitas, so viel dignitas, so viel gravitas legte er an den Tag. Mehr als manch erwachsener Römer! Myrtilus dachte an Cethegus. Missraten war Callistas Zwilling. Nicht einmal annähernd so respektvoll war er gewesen in Damios Alter. Myrtilus' Augen wurden wässrig, als der Junge sich so manierlich verbeugte, so artig grüßte. Rasch blinzelte der Großvater die Zeugen der Rührung fort. "Nero. Was bist du ein großer Junge", sagte er ergriffen und legte dem Knaben vorgebeugt eine Hand auf die Schulter. "Fast schon ein Mann. Wie alt bist du, Nero? Erzähle mir, hast du die Schiffe im Hafen Ostias schon angeschaut?" Für Schiffe war Myrtilus immer zu haben. Er vergaß, dass Ostia im Vergleich zum Hafen Alexandriens ein Provinzsteg sein musste. Von Glückseligkeit und Stolz erfüllt, sah Myrtilus zu Callista. Er bedauerte lediglich, den Jungen nicht schon eher gesehen zu haben. "Sag, hast du Lucius schon getroffen? Der Spross meines Neffen. Er spielt gern mit seiner Legion. Vielleicht könnte dich das auch amüsieren?"

  • Die Lossprechung. Die Begnadigung. In drei Worten erfolgt sie. Ich vergebe Dir. Drei winzige Trivialitäten. Jedes einzelne farblos. In ihrer Zusammenstellung strahlend. An Callista gerichtet heilbringend. Und von ihrem Vater ein Segen. Nicht die Gefühlswallung. Die sich hinter diesen Worten verbergen. Callista ist nach der Absolution ihrem Ziel näher. Die Hilfe. Die sie braucht und nach der sie sich sehnt. Die Aasgeier kreisen über ihr Schicksalslos. Und kein Streiter ist in Sicht. Kein Bruder. Der sie rettet. Somit bleibt Callista nur ihr Vater übrig. Und somit kriecht sie den Gang nach Canossa. Mit ähnlicher Ehrlichkeit. Zudem gleicher Gefühlslage. Doch stets ist sich Callista genauso bewusst. Edler Herkunft ist sie. Gleichermaßen ihr Leidensgenosse in späterer Zeit.
    "Ich danke Dir, Pater meus."
    In effectu. Callista ist den wenigen Worten von ihrem Vater verbunden. Es erhebt sie aus dem würdelosen Stand. Den einer Bettlerin. Einer vor dem Kreuz Kriechenden. Im Grunde glaubt sie indes anderes. Ihr Vater muss sich bei ihr entschuldigen. Ihr halbes Leben hat er ruiniert. Zerstört und sie ins Unglück gestoßen. Zumindest fühlt sie das in den letzten Monaten derart. Auch die ersten Jahre der Ehe waren eine Tribulation.
    Mithin fallen die Worte nicht auf fruchtbaren Grund. Den ewigen Tartarus wünscht Callista ihrem verstorbenen Mann. Qualen. Ödnis. Folter. Monotonie. All das soll der Mann erfahren. Der sie viele Jahre lang drangsaliert hat. Mit den zu häufigen Begehrlichkeiten. Nämlich mehrmals im Jahr. Geschickt hat sich Callista dem allzeit entzogen. Sklavinnen hatten ihm genügen müssen. Dann seine Vorwürfe. Sein Misstrauen. Die Erpressungen und das Entziehen jeglicher Geldquellen. Es wurde von Jahr zu Jahr immer schlimmer.
    "Ja."
    Emotionslos ist Callista. Mehr Worte will sie zu ihrem verstorbenen Gatten nicht verlieren. Er soll keinen Platz mehr in ihrem Leben haben. Das ist vorbei. Sein Lebensfaden zerschnitten. Das Schicksalsband von Callista strebt in eine andere Richtung. Wird anders gewebt und verknüpft.


    Verwundert blinzelt Callista.
    "Meine Habseligkeiten? Nach Rom?"
    Callista versteht ihren Vater nicht. Warum sollte sie derartiges tun? Oder weiß er schon von ihrer Misere in Alexandria? Callistas Mund öffnet sich geringfügig. Ist das eine subtile Anspielung darauf? Dass ihr so viel genommen wurde? Nervös kaut Callista auf ihrer Unterlippe. Ehe sie sich entsinnt. Es gehört sich nicht für eine erwachsene Frau. Schon die alleinige Anwesenheit ihres Vaters wirft sie zurück. In alte Angewohnheiten. Immerhin kaut sie noch nicht auf einer Haarsträhne. Wie zu Kinderzeiten.
    Die Klarsicht kommt nicht. Schon hört sie das Getrippel ihres Sohnes. Seine Artigkeit entzückt Callista. Sie zieht ihn näher an sich heran. Umarmt ihn liebevoll.


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    Die Liebkosung gefällt Nero. Der ernste Ausdruck auf seinem Gesicht weicht. Er legt seine Ärmchen um Callistas Taille. Sieht den fremden Großvater erst scheu an. Doch mit der Berührung an der Schulter bricht das frostige Eis. Auf der Oberfläche seiner Gefühle. Wenn seine Mutter mit dem Mann hier sitzt. Dann ist er womöglich doch nicht so schlimm. Wie Nero es aus all den Erzählungen heraus gehört hat. Er reckt sich. Denn er ist für sein Alter recht klein.
    "Sechs Jahre, Avus."
    Nero nickt. Bedeutungsvoll. Denn er fühlt sich schon sehr viel größer als vor einem Jahr. Wenn auch nicht vom Wuchs. Die Striche an seiner Zimmertür in Alexandria sind nicht signifikant höher geworden. Darum ist der Medicus besorgt. Immerzu verzieht er sein Gesicht in tausend Falten.
    "Ja. Ich habe sie gesehen, Avus. Wir sind mit einem Schiff nach Ostia gekommen. Durch einen Sturm sind wir gefahren. Oder gesegelt?"
    Fragend sind Nero von Callista zu seinem Großvater. Callista lächelt und fährt ihm mit einer Hand über die Wange. Die Antwort gibt sie ihm nicht. Selten hört sie auf die Fragen ihres Sohnes. Sie scheinen ihr nicht belangreich zu sein.
    "Der Mann hat gesagt. Der das Schiff fährt. Das war kein schlimmer Sturm. Aber alle hatten Angst. Nur ich nicht."
    Dabei kann Nero nicht schwimmen. Aber die dunklen Wolken am Himmel. Sie haben Nero beeindruckt. Das wilde Schaukeln war aufregend. Auch seine Mutter hat sich nicht gefürchtet.
    "Kannst Du Schiffe fahren? Mater hat das gesagt. Bei der Flotte hast Du gearbeitet? Gedient? Wie heißt das? Kannst Du schwimmen? Bringst Du mir schwimmen bei, Avus?"
    Das Eis ist realiter gebrochen. Die Fragen fließen nur so hervor. Callista seufzt.
    "Nero. Stelle nicht zu viele Fragen. Außerdem weißt Du doch. Du darfst nicht schwimmen. Der Medicus hat Dir das verboten."
    Enttäuscht ist Nero. Presst die Lippen aufeinander. Aber widerspricht nicht. Mit einem Kopfschütteln verneint Nero die Frage.
    "Wer ist Lucius? Wie alt ist er? Spielt er auch gerne mit Vögeln? Ich mag Vögel. Lebende."
    Bislang denkt Callista nach. Über die Angelegenheit ihrer Besitztümer. Ihrem Sohn lauscht sie dabei nicht. Die Eingebung kommt ihr. Möchte ihr Vater sie nach Rom holen? Hätte Callista von neuerlichen Heiratsplänen geahnt. Die Verzeihung würde in den Wind geschlagen werden. Sie würde wütend keifen und sofort abreisen. Wohin auch immer. Aber so denkt sie nur über ihre Möglichkeit nach. Vielleicht sollte sie nach Rom ziehen.
    Aber was ist mit Lucius?
    Er kommt nicht zurück, Callista.
    Nein. Er muss. Er muss.
    Callista senkt die Augen. Feucht wird der Glanz. Verzweiflung umgreift ihr Herz.

  • Der Blick des Alten ruhte noch eine Weile auf der zarten Gestalt seiner bereits verloren geglaubten Tochter. Doch nein, sie war nicht verloren, das war sie nie gewesen. Nur verwirrt war sie gewesen. Gedrängt und in die Irre geleitet von...nein, daran wollte er gar nicht denken. Es würde nur den Gram wieder an die Oberfläche sprudeln lassen, der ihn bei dem Gedanken an ihn sof oft befiel. Myrtilus seufzte und neigte schließlich bejahend den Kopf. "Aber ja, meine culumbula. So ganz allein in einer villa, so fern der Heimat und aller Freuden... Nein nein. Selbstverständlich wirst du hier wohnen können. Ich werde sogleich mit Herius sprechen. Du und Nero, ihr beiden seid herzlich willkommen. Herzlich willkommen....ja." Myrtilus nickte einige Male zerstreut und blickte auf den knorrigen Stock hinab, der an seinem Knie lehnte. Daher entging ihm das Kauen auf der Unterlippe, das Callista praktizierte.


    Kurz darauf hatte der kleine Nero Myrtilus wieder in seinen Bann gezogen. Die Augen des Alten leuchteten vor Stolz, als er verfolgte, wie artig der Junge schon war. Und das in seinem Alter! Sechs Jahre... Gerade ein Zehntel so alt wie Myrtilus selbst war. Ein Schmunzeln zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Welch senile Gedanken. Und so ein zartes Gesichtchen hatte der Junge. Etwas ernst vielleicht, aber dennoch. Gewiss würde er dereinst die Damenwelt betören, so wie Callista die Herrenwelt betörte - was Myrtilus glücklicherweise nicht ahnte, war, wie sehr sie derzeit die römische Männerwelt betörte. Entzückt vernahm Myrtilus die Worte des findigen, jugendlichen Geistes. Erfrischend waren die Fragen des Kleinen, und Myrtilus war in seinem Element. "Mein Spatz, claudisches Blut fließt in deinen Adern, Natürlich hattest du keine Angst. Merke dir: ein Claudier zaudert nicht, er verzagt nicht. Er stellt sich seinen Ängsten und selbst den höchsten Anforderungen." Belehrend klangen die Worte, doch schwang auch der großväterlich-freundliche Ton mit, der Myrtilus zu eigen war. Amüsiert glitzerten die altersschwachen Augen bei der Flut an Fragen, die Nero nun stellt. Myrtilus konnte gar nicht so schnell auf alles antworten, und da mahnte seine Tochter ihren Jungen auch bereits. Myrtilus' Hand legte sich auf den Unterarm seiner Tochter, liebevoll war das Lächeln und nachsichtig, als er erwiderte: "Ach, lass den Jungen ruhig." Zu Nero gewandt fuhr er fort: "Gedient ist ganz richtig, junger Mann. Bei der Ausbildung zum Soldaten lernt man schwimmen, wenn man es noch nicht kann bis dahin. Aber keine Angst, als ich sechs Jahre alt war, konnte ich auch noch nicht schwimmen." Ein faltiges Schmunzeln begleitete das leise, vergilbt klingende Lachen des Claudiers. Er nahm sich vor, Nero baldigst einmal seiner Mutter zu entführen, medicus hin oder her. Sagte man nicht stets, Bewegung zue gut? Andererseits zweifelte Myrtilus an, dass er selbst würde schwimmen können. Nun ja, dem Jungen würde er es dennoch beibringen können. Verschwörerisch war das Zwinkern, dass Nero sehen würde, wenn er nun zu seinem Großvater aufsah.


    "Weißt du denn schon, was du machen möchtest, wenn du groß bist? Ein berühmter Feldherr werden und zahlreiche Schlachten schlagen für unseren geliebten Kaiser vielleicht? Oder doch ein bekannter Senator? Ach naja. Das hat ja noch Zeit, nicht wahr?" Gütig sah Myrtilus auf Nero hinunter. "Lucius? Oh, er ist fünf. Herius ist sein Vater. Ein netter Junge, ihr versteht euch bestimmt. Du magst Vögel? Ja, hast du denn einen?" fragte Myrtilus interessiert. Aus den Augenwinkeln gewahrte er den betrübten Blick seiner Callista. Ein Hauch Besorgnis schlich sich auf seine Züge. "columbula, ist dir nicht wohl?" fragte er.

  • Ein Tanz auf Eiern. Jedes Wort muss bedacht werden. Jede Mimik streng bewacht. Jede Geste gut studiert sein. Das Entsetzen in Callista ist ihr nicht anzusehen. Nicht in diesem Augenblick. Nebstdem möchte Callista die Ignoszenz nicht ruinieren. Töchterlich brav nickt Callista. Ergibt sich ad interim in diese Tyche. Es bewahrt sie zudem vor den garstigen Geldhaien. Die in Alexandria auf sie warten. Außerdem kann sie so ihren üblichen Lebensstandard erhalten. Üppig leben und heimlich ihren Leidenschaften nach gehen.
    "Natürlich, Pater meus. Du bist so großzügig zu mir. Ich danke Dir, Pater."
    Callista faltet ihre Hände auf dem Schoß. Bewahrt Ruhe und Würde. Überlässt ihrem Sohn die Konversation mit ihrem Vater.


    Mein Spatz.
    Das gefällt Nero nicht. Vögel liebt Nero. Aber andererseits sind sie auch minderwertige Gegenstände. Schön in ihrer Gestalt. Frohlockend in dem Gesang. Aber eine unbedachte Tat und schon ist ihnen das Genick gebrochen. Sie singen nicht mehr. Sie können nicht mehr fliegen. Wenn Nero auch das Mysterium ihrer Wiedergeburt fasziniert. Erbost ist Nero jedoch nicht. Schließlich hat sein Großvater Callista auch mit einem Vogelnamen als Kosewort bedacht.
    Imponiert ist er ebenso von den Worten seines Großvater über das claudische Blut. Ähnliche Ansichten hat Nero von seinem Onkel erfahren. Den Stolz auf die eigene Familie. Die Herkunft. Die Taten, die sie vollbringen können. Neros Lippen formulieren stumm die Worte. Er wiederholt sie. Ohne einen Laut von sich zu geben. Aber er verinnerlicht sie und prägt sie sich gut ein. Dünkelhaft ist Nero indes schon. Derart gelobt zu werden. Ein Lächeln ziert das erste Mal sein Gesicht. Flüchtig, aber es hat sich offenbart.
    "Das werde ich mir merken, Avus."
    Nicht lange später würden ihm die Worte im Kopf wieder hallen. In einem Tempel auf dem Forum Romanum. Doch das ist eine andere Geschichte. Die noch erzählt werden wird.
    Erfreut ist Nero. Einen Menschen gefunden zu haben, der sich nicht sofort an seinen Fragen stört. Aber er hat auch oft die Erfahrung gemacht, dass die Erwachsenen zuerst entzückt sind von seiner Art. Aber nach einigen Minuten entnervt von dem Drang all die Geheimnisse der Welt zu lüften. Die in ihren Augen banal und ordinär erscheinen.
    Andächtig nickt Nero. Dann wird er vielleicht doch noch schwimmen lernen. Außerdem entgeht Nero das Zwinkern nicht. Er hat seine ganze Aufmerksamkeit auf den gerichtet, der sich die Zeit für ihn nimmt. Erneut zeigt sich ein Lächeln bei Nero.
    "Dann bist Du über alle Meere gesegelt? Mit dem Schiff? Warst Du auch am Ende der Welt?"
    Leuchtend sind die Augen von Nero. Wissbegierig auf das Gesicht des älteren Mannes geheftet.
    "Hast Du den großen Wasserfall gesehen? Die Seeungeheuer? Die Unterwelt?"
    Nero weiß diffus, dass die Unterwelt am Rande der Erdenscheibe beginnt. Mehr nicht.


    Die Fragen bringen Nero in eine Bredouille.
    Ich möchte Philolodos werden.
    Das würde Nero antworten. Das Wort Philologos kann er sich nicht merken. Aber beeindruckt haben ihn die Gelehrten am Museion. Ein bärtiger Mann. Diesen hat Nero vor Augen. Wenn er daran denkt, dass es Menschen gibt, die auf alles eine Antwort wissen. Erdgebundene Vögel. Fliegende Fische. Schmetterlinge. Tiere mit seltsamen Formen. Insekten. All das möchte Nero erkunden. Aber das gehört sich für einen Patrizier nicht. So sagt seine Mutter.
    Sie würde ihn gerne als neuen Kaiser sehen. Sein Vater wollte ihn zum Senator machen. Nero will Beides nicht. Sinnend sucht er nach einer Antwort. Beißt dabei genauso auf die Unterlippe. Das Verlangen, den Daumen in den Mund zu stecken, wird sehr groß.
    "Ich möchte auch segeln. Auf großen Schiffen."
    Zu fremden Ländern. Unerforschten Tieren. Die Lust am Entdecken hat Nero von seinem Onkel, aber auch seiner Mutter geerbt. Zudem denkt er sich. Das wird seinen Großvater sicherlich freuen.
    "Ja. Ich habe vier Vögel. Zwei Kleine. Zwei Große. Sie sterben oft. Aber sie werden immer neu geboren."


    Aber schon hat seine Mutter die Aufmerksamkeit von seinem Großvater. Neros Daumen wandert zu seinen Lippen. Im letzten Moment senkt er ihn. Callista hebt ihre feucht glänzenden Augen. Verzweiflung hält sie umfangen. Die Angst um ihren geliebten Lucius. Der für sie verloren scheint. Sie atmet tief ein. Doch das Zittern in ihrer Stimme ist zu hören.
    "Ich."
    Sie verstummt. Holt noch mal tief Luft.
    "Verzeih mir. Es berührt mich lediglich so sehr. Die Familie ist wieder vereint."
    Eine Träne löst sich und gleitet über ihre güldene Wange. Gelogen sind ihre Worte. Aber kann sie die Wahrheit sagen? Ausgeschlossen. Ihr Vater würde sie sofort verstoßen.

  • Vorsichtig klopfte das Mädchen an der Tür. Als sie ein Herrein vernahm, trat sie ein und meldete den Besuch für die Herrin an.
    "Herrin, es ist Besuch für dich da! Die junge Aurelia Sisenna möchte dich sprechen!"

  • Gold und Geschmeide. Prächtig gleitet der Schmuck durch Callistas Hände. Träumend liegt Callista auf einer Kline an der geöffneten Tür zum Garten. Zu ihren Füßen schlängelt sich eine braunschwarze Blindschleiche. Ihre Zunge schnellt aus dem geschlossenen Mund hinaus, ertastet den Odeur seiner Umgebung und schmiegt sich an die warmen Beine von Callista. Sonnt sich in den Strahlen der güldenen Himmelsscheibe. Dem Treiben der Wolken folgt Callista. Malt sich Bilder in den blauen Himmel. Träumt von fernen Abenteuern. Von schönen Männern. Mehr von zwei schönen Männern, denen sie in den letzten Wochen begegnet ist. An ihren Schultern spürt sie die warmen Hände eines claudischen Sklaven. Blonde Locken. Goldbraun warme Augen zieren sein schönes Gesicht. Callista gefällt auch seine Statur. Mithin ist er in ihre Gunst gestiegen. Für diese Tage. Ihre Sklavin Benohé ist schon seit Stunden absent. Es ist Callista nicht aufgefallen. Da der schöne Sklave sie unterhalten soll.
    Ein Klopfen. Callista winkt den Sklaven zurück. Er erhebt sich und stellt sich an die Wand. Ergreift die Tunika und streift sie über seinen golden, glatten Körper.
    "Herein!"
    Neugier verspürt Callista. Über die Natur der Störung. Aurelia Sisenna? Konsterniert betrachtet Callista das Mädchen. Sisenna. Erst ein längere Überlegen offeriert Callista die Erkenntnis. Das liebreizende Mädchen von der Feier.
    "Dann führe sie hinein. Ja, wohin?"
    Callista beißt sich zart auf die Unterlippe.
    "In den Garten. Ich komme sogleich."
    Liebevoll nimmt Callista die Schlange in ihre Hand. Das Tier schlängelt ihren Körper um ihren Arm. Geschmeidig erhebt sich die Patrizierin. Schwankt leicht. Denn an diesem Tage hat Callista noch keinen Bissen zu sich genommen. Dafür ein wenig von den verzehrenden schwarzen Perlen eingenommen. Die der schönsten roten Blüte entstammen.
    Wo ist Benohé?
    Fort, Callista.
    Traun. Wie kann sie nur? Jetzt, wo ich sie brauche.
    Callista wendet sich an den blonden Jüngling.
    "Geh. Suche meinen Sohn. Er soll auch in den Garten kommen."
    Devot neigt der Jüngling den Kopf. Er folgt dem Befehl. Dieweil Callista sich anschickt in den Garten zu eilen. Alsdann sie sich präsentabel gemacht hat.

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