Wie an jedem Tag, an dem die neueste Augabe der Acta Diurna erschien, bekam Epicharis ihre freie Ausgabe direkt nach Hause geliefert. In den meisten Fällen kannte sie ohnehin schon alle Texte in- und auswendig, da sie sie bereits im Voraus korrekturgelesen hatte, doch dann und wann hielt es die Auctrix für nötig, einen Artikel auf den letzten Drücker hinzuzufügen. Und die las Epicharis dann meistens nicht noch einmal, ehe viele fleißige Sklavenhände sich daran machten, Abschriften anzufertigen.
Einen rotbäckigen Apfel in der einen, die Acta in der anderen Hand, spazierte die junge Claudierin nun gemächlich durch den Säulengang und las die Artikel von Interesse nochmals durch, dieses Mal aber wie ein wirklicher Leser und ohne das Augenmerk auf eventuelle Fehler zu richten. Zuerst studierte sie die Umfrageergebnisse, nickte ab und an und blätterte schließlich um. Auf Seite zwei gab es das Neueste aus der Politik, ebenfalls ein geheimer Interessenbereich Epicharis'. Die dritte Seite enthielt einen Brief aus Parthien - doch was war das? Epicharis hielt inne im Kauen und hob das Pergament näher an ihr Gesicht. Diese Liste war wohl kurz vor Redaktionsschluss hinzugekommen, sie kannte sie nämlich nicht. Als sie las, dass es sich um eine Liste von im Krieg Gefallenen handelte, wurden ihre Finger kalt.
Ursanius, Volteius, Hostius... Niemand, den sie kannte. Doch dann fiel ihr Blick auf den Namen. Flavius. Eine kalte Hand schien sich eisern um ihr Herz zu schließen, langsam und erbarmungslos zuzudrücken. Aristides. Centurio der zweiten Cohorte. Der Apfel entglitt den schlanken, nun zitternden Fingern, hüpfte einige Male über die Steinplatten und kollerte unter einen nahen Busch. Wie versteinert starrte Epicharis auf den Namen ihres Verlobten. "Nein..." Sie suchte die Überschrift. Die Totenliste für die Legio Prima Traiana Pia Fidelis. ...so opfert doch leider auch so manch ein wackerer Soldaten des römischen Volkes und unseres geliebten Kaisers sein Leben in diesem Kampf.. stand da. Epicharis verschluckte sich an dem Stück Apfel, welches sie noch immer im Mund hatte. Hustend traten ihr die ersten Tränen in die Augen, sie tapste ungelenk zur Wand und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie das Pergament in ihren Händen an. Hatte man sie diesen Artikel mit voller Absicht nicht lesen lassen? Da musste ein Irrtum vorliegen, Arisitdes konnte nicht tot sein. Er hatte doch versprochen, auf sich aufzupassen, wieder zurückzukommen...
Salzige Tropfen benetzten die Acta, als Epicharis langsam an der Wand hinabglitt und stumm weinte. Fassungslos und verwirrt starrte sie den Papyrus an. Das war falsch, es musste ein Fehler vorliegen, das war so nicht richtig, sicher war jemand in der zeile verrutscht und dort sollte eigentlich ein anderer Name stehen. Was war nur passiert? Krampfhaft klammerte sich Epicharis an der Acta fest, als sie sie ein Rettungsboot im Sturm. Ganz allein weinte sie, stumm und unendlich durcheinander. Sie hatte es gewusst, hatte es befürchtet, hatte ihm doch ausreden wollen, dass er mit in dieses feindselige Land zog. Leere erfasste Epicharis' Herz und Kühle erfüllte ihren Körper, obwohl es doch warm war hier. Sie wünschte sich Deandra herbei, jemanden, der sie in den Arm nahm und ihr half, der Sache auf den Grund zu gehen. Den Fehler zu suchen, der sich eingeschlichen hatte. Denn ganz gleich, was dort geschrieben stand, sie fühlte tief in ihrem Inneren ein schwaches Leuchten. Konnte dieses Gefühl denn etwas anderes bedeuten, als dass Arisitdes noch am Leben war?