Wo bist du, die mir zur Seite ging,
Wo bist du, Himmelsangesicht
Ein rauher Wind höhnt mir ins Ohr: du Narr!
Ein Traum! Ein Traum! Du Tor!
- Georg Trakl, Traumwandler
Eine silberne Glocke läutet bei jedwedem Schritt. Fein kräuselt sich das Smaragdgrüne Nichts unter ihren Füßen. Solenn gleitet Callista über eine Immensität aus Malve. Schwarze Säulen ragen in die Höhe. Gräulicher Nebel zerfasert zwischen entseelten Gesichtern. Aus Stein.
Callista, Callista, Claudia.
Die Münder der Gesichter öffnen sich. Ihre Steinlippen formen den Namen. Callista neigt den Kopf zur Seite. Verhalten sinkt sie in die grüne Leere.
Nero?
Keine Antwort. Laut pocht Callistas Herz. Sie greift sich an die Brust. Einsamkeit. Leere. Vergänglichkeit. Sie kann es nicht ertragen.
Ätherisch wehen ihre Gewänder in der Farbe von reinem Porzellan.
Du. Du. Nur Du.
Ich? Ich? Ich.
Callista erträgt die stummen Vorwürfe nicht. Hurtig entschwebt sie.
Blaue Berge. Wasser brandet gegen schwarzen Stein. Obsidian verschluckt das fahle Licht der Sonne. Gebieterisch leuchtet er auf dem Stein. Der das Licht zu fressen scheint.
Es ist nicht Nero. Aber er ist auch willkommen im Wandeln ihres Geistes.
"Nichts bleibt bestehen im Angesicht der Unendlichkeit."
Grazil setzt Callista ihren schmalen und nackten Fuß auf den blanken Stein. Ihre Zehen wandeln den Stein. Weiße Mosaiksteine transformieren den Grund. Gieren nach dem Schwarz, verschlingen ihn und leuchten blendend auf.
"Die Unsterblichen sind ewig. Die Unsterblichen sind perfekt. In der Perfektion liegt das Immerwährende. Die Schönheit ist die Perfektion. Darum ist die Schönheit nicht vergänglich."
Ein schwarzer Skorpion kriecht über das strahlende Weiß. Ihre schwarzen Haare fallen weich über ihren Rücken. Verzehrend auch die schwarzen Augen der Callista.
Zweisam, nicht einsam. Callista ist beseelt.
"Der Tod ist fern. Das Nichts unmöglich. Lass uns den Vogel erklimmen. Ich habe Dir viel zu erzählen."
Callistas Glück nimmt zu. Er gehört zu denen, die ihre Gedanken fortspinnen können.
Ein blutroter Vogel verbeugt sich vor den Traumwandlern. Seine Füße sind Krallen besetzt. Sein Schnabel blutig und mit scharfen Zähnen.
"Ist er nicht schön?"
Olympisch verneigt sich der Feuervogel. Seine Schwingen breiten sich aus und bilden weiche Treppen.
"Er ist Wahrheit und darum schön."
Ein trockener Hauch umweht sie. Zerschnittene Berge fliegen unter ihnen vorbei. Eine Stadt aus blauem Lapislazuli manifestiert sich. Katapulte belagern die Stadt. Schwarzes Felsgestein zertrümmert Dächer und Mauern. Rote Flammenzungen lecken aus den öden Fensterhöhlen hinaus. Callista lacht entzückt auf. Die Schreie der Menschen mischen sich mit dem Brüllen der angreifenden Horden.
"Es ist ein Epitheton ornans."
Der heldenmütige Hektor. Seine schwarzen Locken umwehen sein schönes Haupt. Siegesgewiss steht er auf der Mauer. Sein stolzes Kinn erhoben. Sein Schwert ragt in die Höhe. Der blutige Kampf zeichnet seinen Körper. Ein Heroe ist er. Ein Held aus alten Zeiten.
Wie sehr sie ihn liebt. Ihr Heroe, ihr Hektor.
Und so endlos fern ist er ihr.
Silberne Tränen gleiten an ihren goldenen Wangen entlang. Bittere Tränen des Wehmuts. Des Schmerzes. Krokodilstränen.
Diamanten fallen an Tränen statt. Er fängt sie auf. Weiß schimmernd funkeln sie in seiner Hand.
"Ich wünschte, ich könnte sie dir schenken, denn nichts gibt es hier, was mehr zum Geschenk dir gereichte, doch gleichsam ist nichts mein Recht hier zu nehmen."
Das Schimmern zerfließt zwischen ihren Fingern. Liebkosend gleitet es an ihrem Arm hinauf. Tilgt den Schmerz. Lässt sie vergessen. Mondtränen.
Ihre Hand deutet herrisch nach vorne. Der Vogel schwingt sich über das Nil-Blau. Rauschend nähert er sich dem großem Tempel.
"Mein Geschenk ist das Erkennen selber. Mein Hirte der Seele."
Grau wirbelt der Nebel vor ihren Füßen. Kerzen schweben in der Luft. Die Flammen tanzen munter. Milchig wehen sanfte Schleier. Sie schreitet langsam durch den grauen Dunst.
Ein goldenes Bett. Ein schöner Mann erhebt sich von dem Bett.
"Dir schenke ich, was niemand erfahren hat."
Sie betrachtet ihn. Verschwörerisch, geheimnisvoll. Sie weiß nicht, seit wann er ihre Träume aufsucht. Aber er ist ihr vertraut geworden.
"Der Gott unter den Göttern. Der Kaiser unter den Kaisern. Der Strahlendste. Der Vollkommenste. Und der Schönste."
Neros schöne Lippen wölben sich zu einem maliziösen Lächeln.
"Liebste. Du bist zurück gekehrt. Und einen Besucher hast Du mitgebracht?"
Marmor schillert rein und makellos. Luxeriös ist das Zimmer. Blau glimmt es durch die Fensterhöhlen.
"Du"
Souverän verharrt Nero im Raum, schwebend in einem unendlichen Nichts aus Schwarz. Weiße Lichter umwirbeln das Gefilde.
Betörend legen sich Callistas Finger auf seine goldene Brust. Makellos ist sein Leib. Wunderschön sein Gesicht. Callista legt ihre Lippen auf seine Schulter.
"Er?"
Weiß spiegeln sich die Sterne in Callistas schwarzen Augen. Sie saugt das Licht auf. Verzehrt das Schöne. Zerstört das Reine. Verlangt nach mehr. Fordert alles. Und gibt selber nichts.
"Warum sie?"
Frenetisch schmiegt sich Callista an Nero. Er liebt sie. Sie liebt ihn. Es war schon immer so gewesen. Seitdem Callista zu reisen vermag. In die Welt der Visionen. Nero hebt seine Hand. Der Marmor verblasst. Der Boden wandelt sich in Stein. Wände wachsen empor. Ein Amphitheater entsteht.
Im Halbkreis des Koilon sitzen tausende Menschen. Schwarz und rot sind ihre Kleider. Ihre Gesichter helle Fratzen, ohne Gepräge. Ausdruckslos. Leer. Gleich und identisch.
Nero steht im Mittelpunkt des Orchestra. Seine goldenen Augen sehen über alle hinweg.
Weiß strahlt der Chor. Klangvoll sind ihre Stimmen. Nur Nero, er schweigt.
"Suchende suchen. Verlorene werden gefunden. Sie hat mich aufgespürt. Weil sie mich finden wollte."
Verzehrend zieht es Callista zu Nero. Ihre Gewänder rascheln. Sie nimmt neben ihm Platz. Zwischen all den Fratzen.
"Erkennt das Theater des Lebens. Wir sind nur Puppen. Schatten der Götter. Sie lenken uns. Sie führen uns. Das Schicksal ist finit."
Marionetten tanzen an langen silbernen Fäden. Ein grimmiger Jupiter hält sie in seinen Händen. Eine sorglose Venus zieht an den Fäden. Schön ist die Puppe der Callista. Sie tanzt. Tanzt die Liebe mit ihrem Heroe. Der Heroe reißt sich von ihr fort. Er flieht. Hört nicht auf ihre Rufe. Die kleine Callista weint goldene Tränen.
"Keiner entrinnt dem Los, was uns beschieden wurde."
Die Faust des Jupiters ergreift die Puppe des berückenden Heroen. Zerbricht sie und wirft sie in den schwarzen Abgrund. Callista seufzt entsetzt auf.
"Deus ex machina."
Thanatos umfängt ihn. Jupiter lacht laut. Callista will es nicht hören. Will es nicht sehen. Sie hält sich die Ohren zu und schreit markerschütternd.
"Herrin? Herrin. So erwache doch."
Den Schrei auf den Lippen schlägt Callista die Augen auf.
"Wo sind wir, meine Benohé? Ist er hierselbst?"
Sanft fährt Benohé mit ihrer Hand durch Callistas schwarze Haare.
"In Rom, Herrin. Und er ist noch nicht zurück gekehrt."
Schluchzend vergräbt Callista das Gesicht an der Brust ihrer Sklavin.
"Er ist tot. Die Götter haben ihn mir entrissen."
Die Vorhänge wölben sich im nächtlichen Wind. Silbernes Mondlicht fällt in das Gemach hinein. Lange hält Benohé die Patrizierin in ihren Armen. Bis sie darnach erneut entschlummert ist.