Nikolaos war zum Heiligtum der Musen gegangen, wie es Theodoros ihm befohlen hatte. Zuvor hatte er eine Kanne Wein, einige getrocknete Blüten und ein Päckchen Opium aus dem Schlafsaal geholt, die er den Musen als Opfergabe darbringen würde. Weihrauch war in diesen Tagen leider knapp. Ob es am Krieg lag, wusste Nikolaos nicht zu beantworten. Zwar nahm er jede Information darüber auf, die er von Händlern und Reisenden erhielt, doch ganz auf dem Laufenden waren wohl nur die rhomäischen Feldherren selbst.
Nun stand Nikolaos in der Vorhalle des Heiligtums. Er sah an den Säulen hinauf zur hohen Decke. Ehrfurcht ergriff ihn. Vergessen war das Tagesgeschäft. Vergessen waren seine Pläne. Vergessen waren die lästigen Tagespflichten. Er betrachtete die Bemalung der Decke, der Säulen, der Wände. Geometrische und florale Muster waren dort, Eierstabsmuster, Spiralen, an den Wänden Szenen aus der Theogoie, die Geburt der Musen, Apollon mit seinen Schwestern auf dem Berg Helikon, Orpheus, verschiedene berühmte Männer der Künste, seltsame Kreaturen. Schon die Vorhalle leuchtete in grellen Farben. Wenn man nahe genug an die Mauern trat, konnte man eingeritzte Inschriften in ungelenken, kritzeligen Buchstaben erkennen.
Philas besorgt es dir für drei Oboloi, denn Philas ist ein kleiner (durchgestrichen) - Hütet euch, Knaben, der Gelehrte Timon holt sich gerne Frischfleisch ins Bett - Es lebe der Basileus! - Livouthygatera lupa est - Hinaus mit den Rhomäern!
Rasch wandte sich Nikolaos ab. Er schien allein zu sein. Er lenkte seine Schritte auf den Eingang zu. Es war in diesen Hallen noch stiller als in den Anlagen und Gebäuden um das Heiligtum herum. Nur der leise Widerhall
seiner Schritte war zu hören. Auf einmal waren da weitere Schritte. Hinter einer Ecke kam ein unscheinbarer, alter Mann zum Vorschein. "Chaire, kyrie", grüßte Nikolaos ihn höflich. "Chaire.", antwortete der alte Mann und fuhr sich unwillkürlich durch den dünnen Bart aus feinen, silbrigen Haaren. "Mein Name ist Drosos. Sieh an. Ist es heute nicht ein schöner Morgen? Der Tau liegt noch auf den Blättern. Bald wird er wieder zum Himmel hinaufschweben, und in der Nacht wird er hinunterfallen. Solange wir Menschen sind, wird dieser Kreis nie unterbrochen."
Im Heiligtum der Musen
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"Und jedes Jahr steigt die mohnbekränzte Persephone aus dem Hades voller Freude, doch wehmütig, denn zwei Jahresdrittel später muss sie wieder zurück. Und jedes Jahr lässt sich der Bakhos zerreißen, damit aus seinem Blut die Erde neu wachse und sein Leib wächst wieder zusammen, seine Wunden heilen, nur damit er wieder zerrissen werden kann.", sagte Nikolaos. Er spürte ein fiebriges Frösteln. Drosos nickte. "So ist es. Und siehst du, auch wir Menschen sind nicht anders. Wir werden geboren, zeugen Kinder und sterben. Die Kinder werden geboren, zeugen Kinder und sterben. So geht es immer weiter, bis es einst vielleicht keine Menschen mehr gibt." "Glaubst du das?" "Ich weiß es nicht." Drosos sah Nikolaos nachdenklich an. "Du hast einen schönen Morgen gewählt, um den Musen zu opfern. Deshalb bist du sicher hier-" "So ist es." "Gut. Doch zuvor klopfe den Staub von deiner Kleidung und benetze deine Stirn mit Wasser. Nimm dazu den Tau, er ist ganz frisch, vor wenigen Nacht und kaum drei Tagstunden fiel er vom Himmel. Ich habe es miterlebt. Ich war seit dem Tod der Nacht im Heiligtum." Nikolaos reichte Drosos seine Opfergaben. Drosos nahm sie vorsichtig und behutsam entgegen. "Die Musen werden sich freuen. Sie haben eine Schwäche für menschliche Schönheit." Der Alte lächelte. "Ich danke dir, Drosos.", sagte Nikolaos. Drosos nickte und verschwand im Inneren des Heiligtums.
"Verzeiht mir den Frevel, verzeiht mir meine Unwürde.", begann Nikolaos, als der Priester der Musen außer Hörweite war. "Nehmt meine Gabe an." -
Nikolaos ging die Stufen der Vorhalle hinab und fuhr mit den Händen über einige Sträucher. Dabei verletzte er sich seine Hand an einem Dornenbusch, den er nicht bemerkt hatte, da er zwischen den anderen versteckt lag. Aus einem kurzen, schmalen Riss in der Haut quoll Blut, rot und glänzend wie reife Kirschen. Es tropfe auf die Blätter und mischte sich mit Tau. Gedankenversunken betrachtete Nikolaos dieses Schauspiel. Er hielt die Hand solange über einen junge Lorbeersetzling, bis kein Blut mehr hinabtropfte. Dann fuhr er sich mit der anderen Hand über die Stirn. Erst jetzt spürte er den stechenden Schmerz, als hätten sich Atome des Dorns abgelöst und säßen nun tief in der Wunde. Er schob die Hand unter seinen Chiton und presste sie gegen den Stoff. Die Lippen aufeinanderpressend stieg er die Stufen zur Vorhalle des Rundtempels hinab. Seine Schritte hallten.
Er stellte sich vor ein Wandgemälde, dass die Geburt der Musen zeigte und wartete auf Drosos.
"Ihr Musen, ich will euer ergebener Zögling sein."
Hatte Euterpe ihm zugelächelt? Nun war ihr Mund wieder zu einem anmutigen Nichtlächeln verzogen. Sie hatte die Auloi im Mund behalten. Ihr Körper war weiß und zart. Ihr Kopf war mit Orchideen bekränzt.
Kalliope schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln. Oder täuschte er sich? Ihre schmalen Lippen glänzten matt. Klio hingegen verzog verächtlich den Mund. -
Die schwere Flügeltür zum Heiligtum wurde geöffnet, doch trotz ihres Gewichts flogen die Türflügel leicht auseinander. Kunstfertige Mechaniker hatten dafür gesorgt, dass die Aura dieses Ortes nicht durch schwergängige Türen oder gar deren Quietschen beschmutzt wurde. Drosos kam, leichtfüßig für sein vermutliches Alter, durch die Säulenhalle auf Nikolaos zu. Sein Gewand flatterte im leichten Morgenwind, der in diesen frühen Stunden noch seine Kühle verbreitete, eher er der drückenden, staubigen Hitze weichen würde. Drosos blieb vor Nikolaos stehen. Nikolaos sah ihn fragend an. "Die Schwestern des Apollons scheinen dein Opfer angenommen zu haben", murmelte Drosos. Seine Stimme klang fern und raumlos. Nikolaos nickte und schwieg. Auch Doros schwieg einige Zeit. "Folge mir", sagte er dann, mit einer Stimme, die keinen eigenen Klang zu haben schien. Sie entfernten sich ein Stück vom Heiligtum und gingen auf die andere Seite. Aus einer beinahe unsichtbaren Öffnung zum der Tür gegenüberliegenden Seite des Rundtempels floss Rauch in feinen Strömen und wurde vom Wind davongetragen. In der Morgensonne schimmerte er rötlich. Ein zarter Duft von Blüten war zusammen mit dem schweren, süßlichen Duft des Opiums zu riechen. "Sie laben sich an den Speisen, die du ihnen darbrachtest. Sie nehmen deine Gabe an. Denn der Trank der Götter ist der Rauch, er ist für uns Sterbliche nicht." Der Rauchstrom war nun abgebrochen. Drosos sah Nikolaos ernst an.
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