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    ~~ Lukian ~~


    Ich hatte gerade die Fahnen für mein neuestes opusculum magnissimum*), wenn man so will, in der Hand - wen es beiläufig interessiert: es handelt von einem ungelehrten Büchernarren. Es goß auch heute, wie seit Tagen schon aus allen Öffnungen des Himmels, als ob der Gott der Iudaier eine erneute Sintflut herbeibeschwören, als ob die Tage von Deukalion und Pyrrha wieder angebrochen seien. Nur ein Narr war an einem solchen Tag unterwegs, ich hatte es mir auf der überdachten Veranda meines kleinen Landgutes, welches ich durch die Tantiemen meiner Werke nur mühsam halten konnte, gemütlich gemacht, ein nettes Feuerchen knisterte im Kohlebecken, ein alter Falerner stand in einer Tischamphore in ihrem Ständer, Feigen, Datteln und Mandelbrot reizten meine Gaumensäfte.


    Hie und da machte ich eine Randbemerkung und strich das ein oder andere. Bei Piscator, meinem germanischen Verlag, hatte eine eifrige Lectrix das Heft in die Hand genommen und nun bekam ich meinen Text "geschlechtsneutralisiert" wieder. Ich las dann etwa "servus/-a" oder (grammatikalisch falsch) "doctorA" oder (faktisch falsch) "senatrices". Die junge Frau, die über "Geschlechterrollen germanischer Moorleichen" eine interessante Arbeit verfaßt hatte, regte mich weniger auf als mein nächstes kleines Projekt an, welches ich mit dem Arbeitstitel "Das neutralisierte Geschlecht" zu versehen gedachte. **)


    Ich markierte gerade einen Schusterbuben, als ich über den sanft geschwungenen Hügel vor meinem Anwesen eine hagere Gestalt, die einen Korb wie einen störrischen Esel hintersich herschleifte. Langes Haar, langer Bart, langes Gesicht. Der Mensch besteht meines Wissens nach zu achzig Prozent aus Wasser, aber bei dieser Gestalt waren es bestimmt weit über 95%, so durchnäßt kam sie mir vor. Sie nieste hie und da, wenn man die Augen schloß, hätte man aus den Abständen und der anwachsenden Lautstärke auf die sich verringernde Entfernung zu meiner Veranda schließen können.


    Schließlich war das Wesen so nah an meiner völlig trockenen Heimstatt angekommen, daß ich entsetzt auffuhr, die Fahnen über den Boden verteilend, und rief: "Diagoras! Nein, sowas!"






    *) Anm.: Lukian schreibt und spricht Koiné, aus Gründen der Verständlichkeit werden alle griechischen (Fach-)Ausdrücke in ihrer latinisierten Version widergegeben.
    **) Leider ist uns davon keine Zeile überkommen; d. Übers./-In

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    ~~ Lukian ~~


    Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich fuhr entsetzt, die Fahnen über den Boden verteilend, auf und rief: "Diagoras! Nein, sowas!" Oder rief ich "Diagoras! Bist Du's wirklich?" Im Grunde sind das ephemere Angelegenheiten, denn - nein, sowas! - es war wirklich Diagoras. Diagoras von Melos, mein kluger aber wenig weiser Freund aus Ephesos. Naja, wir kennen das Klischee sicher alle: ein Gelehrter, der seinen Kopf entweder in die Schriftrollen steckt oder in die Wolken und dann, wenn er mal dieses mit lauter Nutzlosem übervolle Gefäß in den Wind streckt, sofort umgeweht wird. Bitte ihn, eine gelahrte Abhandlung über das "E apud Delphos" zu schreiben (was sicherlich keinen außer ein zwei Provinzpriester interessieren dürfte) oder eine Expertise über die Ur-Großeltern, wenn man so will, eines auf einer Wiese herumfaulenden Apfels, dann ist er Euer Mann. Wer sich aber auf ihn verläßt, ein Hühnerei zu kochen oder einen einfachen Sachverhalt mit einfachen Worten zu extrapolieren, der ist hoffnungslos verlassen. Geht es nicht um Äpfel und Birnen (und in diesem Falle sind sie wirklich einmal vergleichbar) oder um den Götterglauben der Menschen, wobei ich Diagoras im Verdacht habe, selbst Atheist zu sein, benimmt er sich in Gedanken, Worten und Werken wie ein Affe in einer Glasbläserei.


    Und dieser Diagoras schleppte sich nun hügelaufwärts mit einer - wie ich später feststellen mußte - mit leise aber duftig vor sich hingährenden Apfelgriepschen (sic!) gefüllten Korbkiste.


    Ich übergehe seinen Zusammenbruch und die ersten drei Wochen seiner Rekonvaleszenz, denn im Grunde gibt es nicht mehr zu berichten, als daß er "Chaire, Lukian" röchelte, mehr oder minder der ganzen Länge nach ins tropfnasse Gras schlug und in den ersten Wochen außer leisem Stöhnen, lautem Husten und kantigen Bewegungen auf seiner in einem Gästezimmer hergerichteten Liegestatt nichts von sich gab. Sieht man vom Kapaun in Honigsauce am ersten Abend ab, mit dem ich ihn zu füttern versuchte. Den mochte er einfach nicht, kräftige Brühe mit zerquetschter Einlage hingegen schon.


    Täglich habe ich nun Aeskulapios geopfert, und langsam kommen Diagoras' Kräfte wieder. Inzwischen murmelt er etwas von wegen "ich bin verloren, ich bin verloren", als ob ihn jemand suchen würde. Eine Depesche nach Ephesos ist bislang unbeantwortet geblieben, wie auch meine Frage, warum er eigentlich nicht in Alexandria sei, wie ich es ihm angesichts seiner immer schon labilen Gesundheit dringendst angeraten, ja eigentlich befohlen hatte. Warum haben die Menschen nur immer einen eigenen Kopf - und warum führt dieser eigene Kopf sie immer an den Rande des Abgrunds?

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    ~~ Lukian ~~



    Einer der zentralen Fragen philosophischer Ethik wird meiner Meinung nach zu wenig Augenmerk geschenkt: Dürfen wir Menschen zu ihrem Glück zwingen?


    Die meisten Menschen werden eher andere Menschen zu ihrem eigenen Glück zwingen wollen, als daß sie sich die Mühe machen, was deren Glück eigentlich ist. Ein thrakischer Goldschmied wird andere Vorstellungen vom Glück haben als ein römischer Eques, der als publicanus irgendwelche Provinzen auspreßt wie ein Kerl hinter der Theke eine Pomeranze, der aus dem Saft dann ein Mischgetränk mit Minze, gutem 25jährigem Weißwein und viel gestoßenem Eis herzustellen gedenkt.


    Aber ich schweife ab. Tatsache, liebes Tagebuch, lieber wertgeschätzter Leser (und liebe wertgeschätzte Leserin - ich muß an meine Lectrix bei Piscator denken, wenn ich das Diarium verhökern möchte), ist, ich habe Diagoras hinausgeworfen. Er ist nun bald ein halbes Jahr bei mir gewesen, hat sich prächtig erhohlt, mich prächtig amüsiert und ist mir dann auch prächtig auf die Nerven gefallen. Freunde zu Besuch ist wie Fisch, wir wissen ja.


    Habe ich Diagoras nun zu meinem Glück gezwungen oder zu seinem? Diese Frage stelle ich mir sein geraumer Zeit, seit ich ihn mit einer kleinen Karawane nach Antiochia und von dort auf ein Schiff expediert habe. Alles im voraus bezahlt, Diagoras kann keinen Unsinn anstellen.


    Seine Gesundheit ist zwar wiederhergestellt, aber das Klima hier ist zu feucht und unbeständig, als daß es ihm auf Dauer zuträglich sein kann. Und in dieser humiden Gegend fing er - die Götter mögen es verhüten! - auch wieder damit an, an die Götter zu glauben und ich habe ihn Gebete murmeln und kleine Weihrauchkörnchen verbrennen sehen. Schlechtes Klima, schlechter Einfluß.


    Er soll mir mal schreiben, dann sehe ich ja, ob zwischen meinem und seinem Glück ein so großer Unterschied besteht.




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