Sanft und schaukelnd bewegte sich die claudische Sänfte durch die dicht gedrängten Strassen Roms. Vorbei am Forum Romanum, dem flavischen Amphitheater und östlich des Palatinus, hinauf die Strasse, an dem Tempel des Divus Claudius vorbei, in Richtung des Mons Aventinus strebte die Sänfte. Schon nahe der Stadtgrenze lenkten ihre Träger sie auf in eine gepflasterte Seitenstrasse zu. Vor einem großen, steinernen Torbogen kam sie zu einem Halt, und Epicharis zupfte die Vorhänge beiseite, um hinauszuspähen.
"Ein Déjà-vu", sagte sie verwundert und blinzelte fasziniert ins helle Licht der Frühlingssonne. Eine ältere Sklavin neigte sich zu ihr und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden. Epicharis fächelte nur unwirsch mit der Hand und musterte die grotesken Fratzen aus geschwungenem Metall, die in ihrer Ganzheit ein Tor bildeten. Durch die winzigen Zwischenräume des Schmiedeeisen hindurch schimmerten Amethyst und Pyrit zwischen schneeweißem Marmorkies. Epicharis schloss die Augen und sog die Luft ein. Einen Augenblick später war sie bereits der Sänfte entstiegen und auf das Tor zugeeilt, dessen Pforten sich dieses Mal nicht für sie auftaten und Geheimnisse versprachen: Der Hortus Domesticus hatte geschlossen. Enttäuscht legte die Claudierin ihre flache Hand auf ein besonders garstig dreinschauendes Ungetüm und sog den Duft der Blüten ein, der ihr nicht verwehrt blieb.
"Das Gröbste weißt Du wohl schon immerhin über mich, ich diene in der legio und habe zwei Kinder. Aber gibt es vielleicht etwas, was Du gerne von mir noch erfahren willst?" Epicharis riss die Augen auf und sah sich um. Ihr Herz hatte einen Sprung gemacht, doch Aristides blieb verborgen. Misstrauisch sah sie sich um. "Schnee ist kalt, nass und sehr feucht. Er macht alles klamm und bringt einen leicht zum Frieren. Doch er kann auch wunderschön sein. Wenn er frisch fällt und jungfräulich, ohne eine Spur, auf den Feldern liegt, funkelt er wie tausend Sterne im Sonnenlicht, strahlender als jeder Edelstein." Epicharis legte eine Hand auf ihre Brust und suchte den Atem zu beruhigen. Etwas ging hier ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, herzukommen. Ganz gewiss spielte ihr nur das Gewissen einen Streich. Dennoch warf sie einen durchdringenden Blick auf die hellen Kiesel jenseits des Tores. Sah so Schnee aus? "Ob ich es bis zur nächsten Wahl schaffe, aus der legio auszutreten und auch noch mich zur Wahl zu stellen, vermag ich jetzt noch nicht zu sagen. Es könnte durchaus sein, daß es sich noch um eine weitere Amtszeit verlängern könnte, zumal es zur Zeit einige Gerüchte in der Legio gibt, die von einem größeren Einsatz sprechen. Dann kann es durchaus sein, daß mich der Legatus auch nicht vorher aus dem Dienst entlassen würde." Eine der Masken hatte eine recht entfernte Ähnlichkeit mit Aristides. Doch, ja, wenn sie es recht bedachte... Obwohl, nein. Seine Nase war nicht so flach und der Mund viel...sinnlicher? Epicharis schüttelte den Kopf und nahm sich vor, die Mohnkekse doch lieber Mars zu opfern statt selbst welche zu essen. Andererseits...wie lange war Aristides nun fort? All die Monate...ach, viel zu lange. "Es gibt da eine sehr bedeutsame Frage, die ich Dir gerne stellen würde. Vielleicht magst Du es schon erahnen, schließlich konnte ich mich schon von Deiner geistreichen Art, die sich mit Deiner strahlenden Schönheit messen kann, bewundern." Epicharis schmunzelte und drehte eine Strähne ihres Haares um den Zeigefinger. Komplimente verteilen konnte Aristides, aber sie hatte vielmehr seine unvergleichlich humoristische Ader lieb gewonnen, die selbst dann in seine Worte einfloss, wenn er es gar nicht wollte. Die Claudierin schloss die Augen und stellte sich den Moment vor, in dem er sie gefragt hatte. "Ich möchte Dich fragen, ob Du Dir vorstellen könntest, mich zu heiraten?"
Ein nur schwer zu deutendes Lächeln zierte Epicharis' Lippen bei diesem Gedanken, und sie öffnete die Augen erst nach einer Weile wieder. Mit dem rechten Zeigefinger zog sie die Konturen des vermeintlichen Aristidesgesicht nach, seufzte und setzte schließlich einen flüchtigen Kuss auf die leicht rostige Nase. Als sie sich umwandte, schien sie ausgeglichener zu sein als zuvor. Eine Sklavin half ihr beim Einsteigen in die Sänfte, und sie nannte den Sänftenträgern ein weiteres Ziel am Mons Aventinus, an das sie nun zu gelangen dachte. Schaukelnd erhob sich die Sänfte, und Epicharis' Blick ruhte bis zuletzt auf den geschlosssenen Pforten des Hortus Domesticus, an dem sie die wichtigste Entscheidung ihres bisherigen Lebens getroffen hatte.