Cubiculum | N. Claudius Tucca

  • > Die fabelhafte Welt des Nero Claudius Tucca und seines Sklaven Tuktuk <


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    Ein Raum für einen Mann, der wenig Wert auf visuelle Schönheit legt. Mobiliar und Gegenstände sind immer am gleichen Fleck, bis auf die sich wechselnden Blumen in der Vase auf dem Tisch gibt es wenig Veränderung. Auch wenn es dunkel ist, brennt höchstens eine Öllampe für Tuktuk.

  • Ich war acht Jahre alt und alles begann ganz harmlos. Kopfweh, die Augen schmerzten, es strengte mich an sie offen zu halten. Geh und leg dich in's Bett, sagte meine Mutter, dann ist morgen wieder alles gut, mein Schatz. Aber am nächsten Morgen war es nicht gut, es wurde schlimmer und ich bekam Fieber. Sie schotteten mich von der Welt ab, weil meine Eltern Angst hatten, es könnte etwas ansteckendes sein. Sie holten einen Medicus und anscheinend jammerte ich so viel über meine Augen, dass er schließlich beschloss, meinen Kopf mit einer Binde zu umwickeln und sie abzudecken. Du darfst jetzt nichts sehen, damit du später wieder klar siehst. Ich erinnere mich noch gut an diese Worte, trotz des Fiebers. Zum Glück war ich allerdings schon soweit im Delirium und sah nur noch so wenig, dass ich das Gesicht des Medicus nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte. Man stelle sich vor, das letzte, was man vor Augen hat, ist die hässliche Visage eines Medicus mit krummer Nase, faltiger Stirn und fleckigen Zähnen.


    Das letzte, an das ich mich visuell erinnerte, das war das Gesicht meiner Mutter. Leider verblasste es immer mehr, wie alles andere auch. Manchmal träumte ich davon zu sehen, doch wenn ich aufwachte, wusste ich nicht mehr, ob es tatsächlich so gewesen war zu sehen, oder ob es nur in meiner Vorstellung so war. Im Grund spielte es sowieso keine Rolle.


    Nach drei Wochen im Kampf mit dem Fieber wurde ich wieder klar im Kopf, doch von klar sehen war keine Rede. Ich wusste nicht, ob es Nacht war oder Tag und riss mir das kratzende Tuch von den Augen. Es wurde nicht heller. Ich weiß noch, dass ich an meine Lider langte und sie mit den Fingern aufhielt, weil ich mir nicht sicher war, ob meine Augen schon auf waren. Es wurde nicht heller und ich hatte Angst. Doch ich drehte mich um und schlief weiter, begierig auf den kommenden Tag. Irgendwann hörte ich ein kratzendes Geräusch, es war eine Sklavin. Ich hatte Angst, weil es immer noch so dunkel war und in der Dunkelheit in meiner kindlichen Vorstellung nur Verbrecher und Geister unterwegs waren.


    Am Ende blieben es tatsächlich einzig die Geister, die durch die Dunkelheit spukten. Anfangs fand ich es sehr beängstigend, ich hatte immer Angst vor der Dunkelheit gehabt, ich hatte Probleme zu entscheiden, wann Tag und wann Nacht war - mein innerer Rhythmus war dazu noch völlig durcheinander vom Fieber, und ich heulte viel, ohne dass die Tränen mir die Sicht verwässerten. Für meine Mutter war es der halbe Weltuntergang, dass mir für immer die Schönheit des Lebens entgehen würde, für meinen Vater war das schlimmste, dass die Zukunft seines Nachkommen vorbei war. Für ihn war ich kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mehr, würde es niemals sein können. Wenigstens war ich der Jüngste und nicht sein Stammhalter. Was er wohl sagen würde, nachdem ich all meine Brüder überlebt hatte?


    Sie schickten mich nach Ravenna, zu einem Onkel mütterlicherseits, der schon damals uralt gewesen war, weil das Leben überall sonst viel einfacher war als in Rom, gerade und insbesondere für mich. Mein Onkel schenkte mir Tuktuk und das Leben in Ravenna wurde tatsächlich nicht so schlimm, wie ich anfangs befürchtet hatte, auch wenn ich immer nach Rom und zu meiner Familie zurück wollte. Irgendwann passte nicht mehr mein Onkel auf mich auf, sondern umgekehrt ich auf ihn, bis er schließlich starb. Da wusste ich schon nicht mehr, ob ich noch nach Rom wollte. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Verwandte aus der Hauptstadt kamen, hielten sie mir unter die Nase, wie wunderbar es doch in Ravenna war, wie gut ich das Anwesen im Griff hatte und welch perfektes Leben ich dort führte. Und wenn ich zu überlegen begann, ob ich nicht doch irgendwann nach Rom kommen sollte, dann konnte ich hören wie stinkend, hektisch, laut und abscheulich Rom doch war, dass nur diejenigen dort lebten, die wegen ihrer Ämter keine Wahl hatten, und sie selbst so gern außerhalb der Stadt leben würden.


    Mit meiner zweiten Frau dann war es wirklich ein gutes Leben in Ravenna. Und danach, nun, ich kannte mich aus, konnte auch ohne Tuktuk unterwegs sein, und wenn ich irgendwo in die falsche Richtung ging, dann hatte mich früher oder später jemand darauf hingewiesen. Man kannte mich, und in Ravenna reichte tatsächlich dein Name aus, um die Tage und Abende ausfüllend zu gestalten. Es war ja nicht so, dass ich nicht auch ein passabler Gesprächspartner war. Doch mittlerweile kannte ich jeden Fleck und jede Frau, die für Geld zu haben war. Die anderen auch, allerdings auf intellektuelle Weise, nicht ganz so körperlich, und natürlich mit den zugehörigen Männern. Es war nicht so, dass ich das Leben im Norden leid war, ich brauchte nur einfach etwas frischen Wind um die Nase, etwas neues. Rom sehen und sterben, so hieß es immer. Und es nicht zu sehen, war doch noch lange kein Grund, deswegen gleich ins Gras zu beißen. Ich war mir sicher, es gab in Rom mehr als genug, was man nicht sehen musste, um es zu genießen. Meine einzige Sorge war, dass man in Rom nur dann jemand war, wenn man wichtig war, und wichtig war nur der, der ein Amt oder eine Aufgabe hatte. Ich würde wohl nie ein Amt oder eine Aufgabe inne haben, da mochte mein Name noch so schillernd und meine Verwandschaft noch so einflussreich sein. Tatsächlich befürchtete ich etwas, dass meine Tage und Abende in Rom recht einsam werden könnten, aber das musste ich riskieren. Wenn das Leben hier nichts war, konnte ich schließlich wieder nach Ravenna zurückkehren, doch dann konnte ich immerhin sicher sein, dass das Leben in Rom tatsächlich so furchtbar war, wie immer alle erzählten.

  • Tuktuk hatte ich bekommen, nachdem ich ein paar Monate lang hilflos durch die Dunkelheit geirrt war. Zu dieser Zeit war ich wütend auf alles gewesen, auf das Leben, darauf, dass ich nicht gleich gestorben war, auf meine Umgebung, auf mich selbst, auf die gesamte Welt. Ich hatte mich in meinem Cubiculum versteckt, wollte nicht einmal zum Essen, weil es mir sogar vor meinem Onkel peinlich war, nicht einmal richtig essen und trinken zu können, obwohl ich genau wusste, dass er wegen seine Alters schon mächtig zitterte und selbst die Hälfte verschüttete und versaute. Ich wollte keinen Stock in die Hand nehmen, wollte nicht wie ein Blinder in der Gegend herumtasten, aber auch nicht über alles stolpern, was mir im Weg lag. Genau genommen wollte ich gar nichts mehr. Und um ehrlich zu sein, hatte ich unglaubliche Angst. Ich hatte schon vorher panische Angst vor der Dunkelheit gehabt, auch nachts musste immer ein Öllämpchen in meinem Cubiculum brennen und wenn ich aufwachte und es aus war, hatte ich geheult wie ein Trauerweib. Nun war auf einmal alles um mich herum finster, nirgends auch nur das kleinste Flämmchen zu sehen. Ich erschrak jedes mal, wenn ich irgend etwas berührte, weil ich es da wo es war nicht vermutete. Ich erschrak, wenn auf einmal eine Person vor mir stand ohne dass ich sie kommen gesehen hatte. Ich erschrak, wenn ich das Essen auf meinem Teller berührte. Ich erschrak, wenn jemand an die Tür klopfte. Kurzum, ich erschrak andauernd, weil ich nicht sah, wer oder was auf mich zukam und um mich herum war. Ich versuchte so angestrengt etwas zu sehen, dass ich völlig vergaß, dass der Mensch noch weitere Sinne hatte, dass ich nicht zuließ, auf andere Weise etwas wahrzunehmen.


    Ich habe keine Ahnung, wo mein Onkel Tuktuk aufgetrieben hatte. Er war ein paar Jahre älter als ich, aber trotzdem nicht viel größer. Er sei so schwarz wie die Nacht, hatte mein Onkel gesagt, deswegen würde er gut zu mir passen, denn da ich nur noch schwarze Nacht um mich herum sah, würde er mir gar nicht auffallen. Ich wollte keinen Sklaven, wie ich auch sonst nichts wollte, doch Tuktuk blieb in meinem Cubiculum sitzen - was hätte er auch sonst tun sollen? Zu dieser Zeit war er etwa zwei Jahre in römischem Besitz und sprach ein ziemlich mäßiges Latein. Er war samt seiner Familie eingefangen worden und als er von seinen Eltern getrennt worden war, hatten sie ihm als Rat mit auf den Weg gegeben, dass er tun solle, was man ihm sagt, dann würde er ein gutes Leben haben, viel besser als sein bisheriges.


    Erst viel später habe ich herausgefunden, dass sie wohl tatsächlich Recht hatten, und dass Tuktuk deswegen sich nie beklagt hat oder den Drang verspürte, zu fliehen. Er stammte aus einem Land, in dem die Erde so trocken ist, dass man mit Händen nicht in ihr graben kann. Jeder kümmerliche Grashalm, der aus diesem Boden wächst, ist von Anfang an trocken wie Heu. Die Menschen leben in Sippen ohne feste Dörfer oder Häuser. Am einen Tag sind sie hier, am nächsten packen sie ihre Sachen und ziehen weiter auf der Suche nach Wasser und Nahrung. Wer kein Jagdglück hat, muss die seinen hungern lassen. Tuktuk hatte oft gehungert, manchmal Tage. Er war zufrieden gewesen mit seinem Leben, doch es war nichts im Vergleich mit dem, was ihn im römischen Imperium erwartet hatte.


    Da saß er also nun in meinem Cubiculum in Ravenna, schweigend. Vielleicht hatte er mich beim Nichtstun beobachtet, vielleicht schlief er auch, ich wusste es nicht. Irgendwann aber sagte er, dass er noch nie das Meer gesehen hätte. Hätte ich damals darüber nachgedacht, hätte ich merken müssen, dass er log, immerhin war er irgendwie von Afrika nach Italia gekommen und es war schwer, das Meer dabei zu umgehen, das wusste jedes Kind. Es war die einzige Lüge, die er mir gegenüber je ausgesprochen hat. Ich sagte ihm, er könne an den Strand gehen und sich das Meer anschauen, denn ich brauchte ihn sowieso nicht. Doch Tuktuk erwiderte, dass er nicht ohne mich gehen könne, denn mein Onkel ihm aufgetragen hatte, nicht von meiner Seite zu weichen, und ob es mir etwas ausmachen würde, ihn zu begleiten, da ich doch sowieso den ganzen Tag nur untätig in meinem Cubiculum saß. Ich war deswegen wütend auf ihn und fragte, wie er sich das wohl vorstelle. Tuktuk antwortete, dass ich nur meine Hand auf seine Schulter legen müsste, dann könnte ich in seiner Fußspur laufen, denn laufen sollte ich immerhin noch können.


    Ich hatte gezögert, doch schließlich eingewilligt. Seine Schulter war knochig, der Stoff seiner Tunika rau und er roch irgendwie fremd, doch er bewegte sich unter meiner Hand geschmeidig wie eine Katze. Anfangs waren meine Schritte vorsichtig, doch Tuktuk kommentierte den Weg - Stufe, Steigung aufwärts, Riss im Boden, Fließen, Steigung abwärts, Kieselsteine, dickes Grasbüschel auf dem Weg, Pflastersteine, Sand - und während seine Stimme durch meine Ohren zog, strömten unzählige andere Eindrücke auf mich ein. Am Meer dann wusste ich nicht mehr, wohin mit meinen Sinnen. Ich hörte das Rauschen der Wellen, das rollende Geräusch, wenn Kiesel von einer Woge an den Strand gespült und wieder zurück ins Meer gezogen wurden. Ich hörte die gellenden Schreie der Möwen. Ich hörte das Rauschen der Dünengräser und der Blätter der Sträucher im Wind. Ich hörte den Wind. Ich roch den Wind. Ich spürte den Wind. Ich roch den Seegeruch, die frische Brise nach Tang. Ich spürte den Sand unter meinen Schuhen, der fester wurde, je weiter wir zum Wasser hin gingen. Und ich spürte, wie es warm um mich herum wurde, wie die Wärme auf meinen Backen zunahm, wenn ich das Gesicht nach oben wandte. Es gab kein Licht mehr und keinen Schatten, es gab keine Farben mehr und nichts zu sehen, doch es gab noch so viel mehr.


    Seitdem war kaum ein Tag vergangen, an dem Tuktuk nicht bei mir, nicht meine Augen war.

  • Zwei mal war ich verheiratet. Meine erste Frau ist mit einem Senator durchgebrannt, die zweite habe ich ins Grab gebracht. Seitdem bevorzugte ich kurzweilige Beziehungen, denn am Ende verlassen einen die Frauen doch nur.


    Bei meiner ersten Hochzeit war ich achtzehn und sie vierzehn. Die Ehe war schon beschlossen worden als wir beide noch Kindern waren und ich, nun, sagen wir ruhig als ich noch ein vollwertiger Patrizier war. Volumnia Philonica war die vierte Tochter ihres Hauses, also nicht unbedingt für eine wichtige Verbindung vorgesehen, deswegen löste ihr Vater das Verlöbnis auch nicht, als ich dann kein vollwertiger Patrizier mehr war. Er drückte ihre Mitgift und bekam am Ende doch alles was er wollte, nämlich die Verbindung zur Claudia. Sie dagegen hatte sich mehr erhofft als nur meinen Namen, sie wollte Politik treiben in großem Stil und war deswegen natürlich maßlos von mir enttäuscht. Ich habe ihretwegen tatsächlich eine Weile lang versucht, mich am lokalpolitischen Leben Ravennas zu beteiligen, doch funktioniert hat es nicht. Worüber ich auch nicht unbedingt unglücklich gewesen bin.


    Anfangs führten wir zumindest eine Art Ehe, dann blieb Philonica immer öfter über Nacht fort, wie sie sagte bei Freundinnen. Später reiste sie oft nach Rom zu anderen Freundinnen. Ich mag zwar nichts sehen, aber begriffsstutzig bin ich deswegen noch lange nicht. Sie verbrachte ihre Nächte natürlich in fremden Betten und landete schließlich bei einem Senator. Wir einigten uns darauf, dass wir nicht mehr Aufmerksamkeit darauf lenken müssten als notwendig, ließen uns nach zwei Jahren Ehe scheiden und das war es. Sie heiratete diesen Senator, der sich ein paar Jahre später in enorme Schulden stürzte und kurz darauf starb. Oder gestorben wurde, ich weiß es nicht genau. Sie steckte in all dem mit drin und hatte Glück, noch die Hälfte ihrer Mitgift wieder zu bekommen. Nicht, dass ich nachtragend war, aber ein bisschen schadenfroh war ich schon, da sie sich danach irgendwo im Süden verkriechen musste, in einem einfachen Haus, wie Unbeteiligte mir zu Ohren getragen haben, ohne bedeutenden Namen und ohne Politik.


    Ein Jahr nach der Scheidung heiratete ich noch einmal, Genucia Lenaea. Die Hochzeit wurde von einem meiner Verwandten arrangiert, der eine Verbindung zu Lenaeas Familie brauchte, um an einen Statthalterposten in Gallien zu kommen. Tuktuk sagte immer, sie hatte Haare wie ein Krähennest und abstehende Ohren, doch für mich war sie die schönste Frau der Welt. Ihre Nase war vollkommen gerade und in ihrer Stimme lag stets eine unbändige Lebensfreude. Manchmal flüsterte sie fast, so als befürchtete sie, ihre Freude könnte das Glas sprengen. Ihre Haut war zart und weich, sie duftete wie ein Beet voller Erdbeeren und wenn sie am Webstuhl saß oder stickte, dann summte sie leise vor sich hin. Sie hatte keine Ambitionen außer einer Ehe und wir liebten uns fast drei Jahre lang. Dann starb sie und nahm unser Kind mit sich.


    Das war bald fünf Jahre her.

  • Obwohl zwischen Tag und Nacht in meiner Sicht kein Unterschied war, da ich nicht einmal Helligkeit wahrnahm, gab es natürlich auch für mich diesen generellen Unterschied. Nachts war die Welt viel leiser als am Tag, nicht nur die Menschen, auch die Natur schlief dann ein. Nur die nachtaktiven Tiere waren noch zu hören, und deren Laute waren wiederum für die Nacht sehr charakteristisch. Die Gerüche änderten sich ebenfalls. Tagsüber roch ich Essen, Blumen, Duftöle oder Arbeit, denn fast jede Tätigkeit hatte einen anderen Geruch. Nachts roch es in Häusern nach dem Öl, das in den Lampen verbrannte, oder Kerzenrauch. Draußen kühlte es ab, drinnen entweder auch oder aber es wurde geheizt, so dass die Luft trockener wurde. Zusätzlich hatte ich meinen inneren Rhythmus, auf den ich mich fast immer verlassen konnte. Außer, wenn er durch zu viel Wein verflüssigt war, aber wer scherte sich dann schon noch um das Aufstehen am nächsten Tag?


    Zum Schlafen schloss ich natürlich die Augen und ich träumte auch. Ich wusste nicht, ob ich im Traum noch sehen konnte, denn ich wusste nicht mehr genau, wie es gewesen war, zu sehen. In den vielen Gesprächen, die ich in Ravenna mit mehr oder weniger intelligenten Gästen geführt hatte, hatte ich herausgefunden, dass die Menschen sowieso auf völlig unterschiedliche Arten träumten. Ob ich nun sehend träumte oder nicht, machte vermutlich auch keinen Unterschied. Trotzdem wachte ich an manchen Tagen auf und war innerlich aufgewühlt, weil ich glaubte, mich an den Anblick von irgend etwas erinnert zu haben. Leider hatte ich es mit dem Aufwachen meistens schon wieder vergessen.


    Die erste Zeit des Tages nach dem Aufwachen verging üblicherweise damit, dass Tuktuk mich präsentabel machte. Das war nicht nur eine Sache der Optik, ich legte Wert auf guten Geruch und ein angenehmes Gefühl auf der Haut. Allerdings wählte ich auch je nach Lust und Laune meine Kleidung farblich aus. Denn obwohl ich fast keine visuelle Vorstellung mehr von Farben hatte, gab es sie noch immer in meinem Leben. Manchmal versuchte ich sie mir bildlich vorzustellen, aber meistens kam ein Geschmack, ein Geruch oder ein Gefühl dabei heraus. Dunkelrot wie ein schwerer Wein. Hellgrün wie frisches Gras. Blau wie die Augen unserer nordischen Sklavin Ida. Gelb wie Eidotter. Beige wie Sand. Braun wie Erde. Weiß wie Kreide und schwarz wie die Nacht. Aber es waren nicht die Farben an sich, die ich dann in meinem Kopf vor Augen sah. Es war der Geschmack des Weins, das runde Gefühl, wenn er die Kehle herunter rann. Es war das Gefühl der biegsamen, weichen Grashalme zwischen meinen Fingern oder ihr Kitzeln unter meinen nackten Fußsohlen. Es war die Erinnerung an die kindliche Freude, wenn Ida mich mit einem Blitzen in den Augen angesehen und mir eine extra große Portion vom Nachtisch auf den Teller gepackt hatte. Es war das glibbrige Eintauchen der Finger in flüssiges Eigelb. Es war der raue, körnige Sand, der weiche, fruchtbare Duft frischen Humus' oder die mehlige Kreide, die matt an den Fingern haftete. Die einzige Farbe, von der ich wirklich eine Vorstellung hatte, war keine Farbe und sie war schwarz. Denn schwarz war alles um mich herum.


    So unbegreiflich das für einen Sehenden vielleicht klingen mochte, doch aus eben diesem Grund der Farbwahrnehmung ließ ich mir keine gelben Tuniken von Tuktuk andrehen. Wer kleidet sich schon gerne in Eidotter?

  • Draußen war ein schöner Tag. Ich hörte das am Zwitschern der Vögel und daran, dass es windstill war. Wenn ich meine Hände auf den Fenstersims legte, konnte ich außerdem die Wärme der Sonne spüren. Verwunderlich war dieses Wetter nicht, immerhin war es ein Feiertag zu Ehren der Fortuna. Ich war schon seit dem frühen Morgen unruhig, denn ich hatte beschlossen diesen Tag mitten in Rom zu feiern.


    Eigentlich hatte ich schon längst auf dem Weg sein wollen, doch ich hatte es beim Frühstück geschafft, meine Tunika voll zu kleckern, weshalb Tuktuk und ich noch einmal in meinem Zimmer standen. Besser gesagt, ich stand und Tuktuk wuselte hin und her.


    "Welche Farbe?"
    "Mir gleich. Nein, warte, irgend etwas, worauf man Weinflecken nicht sieht."
    "Wenn es danach ginge, müsstest du jeden Tag in Rotbraun herumlaufen."
    "Und? Mich würde es nicht stören. Und wer garantiert mir, dass ich das nicht sowieso tue? Gib mir endlich eine Tunika, sonst kommen wir noch zu spät."
    "Wie kann man zu einem Fest zu spät kommen, das den ganzen Tag andauert und die halbe Nacht noch dazu?"
    "Ich will die Prozession nicht verpassen. Das ist hier nicht wie in Ravenna, wo die Priester auf die Zuschauer warten. Hier in Rom fangen sie an, wenn sie anfangen. Denke ich. Also gib mir endlich die Tunika."


    Ich zog meine Tunika über den Kopf, warf sie in die Richtung wo mein Bett stand, und hielt Tuktuk auffordern meine Hand hin. Kurz darauf landete eine neue Tunika auf meinem Unterarm. Ich befühlte den Stoff und hielt sie Tuktuk wieder hin, schüttelte dabei meine Hand leicht.


    "Das ist eine von meinen besten."
    "Sie ist rotbraun, wie Wein."
    "Ja, aber dass man Weinflecken darauf nicht sehen soll, das heißt, dass ich vorhaben könnte viel Wein zu trinken und das vielleicht einige Tropfen auf der Tunika landen werden."


    Der Stoff zog über meine Hand, Tuktuk raschelte, dann hatte ich eine neue Tunika auf dem Arm. Ich fühlte den Stoff, suchte dann am Kragen die Vorderseite und zog sie an.


    "Welche Farbe?"
    "Blau."
    "Wird man Weinflecken darauf sehen?"
    "Vermutlich. Du musst einfach vorsichtig sein und darfst eben nicht so viel trinken."
    "Irgendwann lasse ich dich für so etwas den Löwen vorwerfen. Aber egal, wir sind sowieso schon spät dran."


    Tuktuk wusste natürlich, dass ich ihn niemals den Löwen vorwerfen würde. Wortlos nahm er meine rechte Hand und legt sie auf seine linke Schulter. Das Fest der Fors Fortuna wartete auf uns.

  • Jetzt stand ich vor dem Cubiculum von Tucca und versuchte hier mein Glück. Vergeblich hatte ich einige Male an der Zimmertür von Priscilla angeklopft, aber es schien niemand da zu sein. Eigentlich wollten Priscilla, Tucca und ich zu den Märkten und heute Mittag hatte ich mit Tucca besprochen, dass wir uns im Cubiculum meiner Schwester treffen würden. Deshalb war ich zuerst etwas verwundert, als mir dort niemand die Tür öffnete, doch dann kam mir die Idee, an der Tür von Tuccas Zimmer anzuklopfen. Vielleicht hatten sich meine Schwester und er dorthin zurückgezogen.


    *poch,poch,poch*

  • Nicht nur, dass das Haus die meiste Zeit ziemlich leer erschien, es schien auch alle Neuankömmlinge in seinen Eingeweiden zu verschlucken und nicht mehr auszuspucken. Priscas Cubiculum war leer gewesen, zumindest hatte niemand reagiert. Das allein wäre noch nicht allzu verwunderlich gewesen, denn ich wusste nicht, ob sie von Verus' Plänen gewusst hatte. Womöglich war sie einfach nur vor uns schon außer Haus gegangen. Also war ich in mein Cubiculum zurück gekehrt und hatte Tuktuk ausgeschickt, Verus zu suchen und die Augen gleichzeitig nach Prisca offen zu halten. Mein Sklave war nun schon so lange fort, dass ich mir langsam Sorgen machte, dass das Haus nach Prisca nicht nur Verus, sondern auch noch Tuktuk verschlungen haben könnte.


    Ich saß auf der Bank in einer der Fensternischen und ließ meine Finger über den feinen Stoffbezug des Sitzkissens wandern. Meine Fußspitzen tippten ungeduldig im Wechsel auf den Boden. Ich mochte es nicht, zu warten. Noch weniger mochte ich es, auf Tuktuk zu warten. Und noch viel weniger mochte ich es, in einer mir fremden Umgebung auf Tuktuk zu warten. Trotz der Tatsache, dass ich schon einige Zeit in Rom war, war mir das Zimmer immer noch fremd. Unnütze Dekoration hatte ich entfernen lassen, denn sie irritierte mich meist sowieso nur. Eine Vase stand noch auf einem kleinen Tisch und die Blumen darin wurden jeden Tag gewechselt, so dass ich nie wusste, nach was es am Abend riechen würde. An diesem Tag stand Oleander in der Vase, doch da die Blüten nicht sonderlich geruchsiintensiv waren und ich schon die Nacht mit ihnen verbracht hatte, nahm ich ihren Duft nicht mehr ganz so stark wahr.


    Es klopfte und mein Ohr drehte sich zu dem Geräusch. Tuktuk würde nicht klopfen, außerdem klopfte er anders. Ich stand auf und trat, eine Hand leicht nach vorne gestreckt, zur Tür, tastete nach dem Griff und öffnete.


    "Ja?"

  • Etwas überrascht war ich ja, dass mir die Tür von Tucca geöffnet wurde. Eigentlich hatte ich mit Tuktuk gerechnet. Deswegen schaute ich zunächst etwas verwundert drein, bevor ich antworten konnte.


    "Salve Tucca, ich bin etwas überrascht, dich hier in deinem Zimmer zu treffen. Wollten wir uns nicht in Priscillas Cubiculum zum Spaziergang treffen? Dort bin ich eben vorbeigegangen, aber es hat mir niemand geöffnet. Ist Priscilla vielleicht bei dir? Ich kann sie nirgends finden"

  • "Ah, Verus. Ein Glück, ich dachte schon, die Villa hat dich verschluckt. Ich glaube wirklich, sie macht das ab und zu. Einwohner verschlucken, meine ich." Ich versuchte, ernst zu bleiben und nicht zu lachen. "Wie dem auch sei, Prisca hat sie verschluckt, da bin ich ganz sicher. Ich war auch bei ihrem Cubiculum, aber dort war sie nicht. Wir haben einen Sklaven gefragt, der das Öl in den Lampen auf dem Gang aufgefüllt hatte. Ein merkwürdiger Kerl. Er hat sie auch nicht gesehen, wusste auch nicht, wo sie ist." Ich zuckte mit den Schultern.


    "Ich habe Tuktuk ausgeschickt, dich und Prisca zu suchen. Das ist schon eine Weile her, vielleicht hat ihn die Villa auch verschluckt. Gehen wir einfach ohne Prisca? Wahrscheinlich ist sie gar nicht hier, sondern schon irgendwo in Rom unterwegs." Ich tastete neben die Tür, wo ich meinen Stock abgestellt hat.


    "Was meinst du, hältst du mich alleine aus? Tuktuk hat ziemlich viel zu tun, seit wir in Rom sind. Ich würde ihm gerne ein bisschen Zeit für sich zugestehen." Genau genommen hatte Tuktuk hier keine Minute für sich. In Ravenna bewegte ich mich sowohl zuhause, als auch in der Stadt ziemlich eigenständig, aber hier in Rom brauchte ich ihn für alles. Natürlich hätte ich einen anderen Sklaven heranziehen können, aber Tuktuk war nicht so einfach zu ersetzen. Er war kein einfacher Sklave und wir hatten ein besonderes Vertrauensverhältnis zueinander. Wenn es nicht zwingend notwendig war, vertraute ich keinem anderen Sklaven meinen Weg an.


    "Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht." Verus würde ich meinen Weg anvertrauen, es wäre nicht das erste mal. Natürlich waren wir bisher nur in Ravenna unterwegs gewesen, wo ich mich sowieso auskannte, aber er würde mich sicher auch durch Rom lotsen können. "Und du musst mir versprechen, mich nicht mitten in Rom allein stehen zu lassen." Ich grinste, obwohl mir bei dem Gedanken daran überhaupt nicht wohl war.

  • Das war schon seltsam, dass Priscilla nirgends aufzufinden war. Vor allen Dingen, weil sie offenbar niemandem etwas gesagt hat. Sie hätte ja wenigstens Tucca oder mir Bescheid sagen können, dass sie heute keine Zeit hat, uns zu begleiten. Oder war sie einfach nur so in Gedanken und hat unseren Ausflug einfach vergessen?


    Tuktuk hatte ich auch nicht gesehen. Allmählich bekam ich wirklich den Verdacht, dass die Villa ihre Bewohner verschluckt.


    "Ok, Tucca, gehen wir ohne Priscilla. Vielleicht hat sie einfach nur vergessen, dass wir einen Ausflug machen wollten. Wir können sie ja später fragen."


    Tucca wollte also ohne Tuktuk los. Es war eigentlich auch eine gute Idee ohne die Sklaven zu gehen. Dann musste ich auch nicht auf die Suche nach Andronicus gehen, der sich hier irgendwo im Haus herumtrieb.


    "Nein, es macht mir überhaupt nichts aus. Dann nehme ich Andronicus auch nicht mit. Mal ganz abgesehen davon, dass ich im Moment gar nicht weiß, wo er sich herumtreibt. Ihn hat die Villa auch irgendwie verschluckt."


    Natürlich würde ich Tucca nicht alleine in der großen Stadt stehen lassen. Schon in Ravenna hatte ich das nie getan, auch wenn Tucca sich dort ausgekannt hat.


    "Was meinst du, Tucca, wollen wir noch ein Stück mit der Sänfte zurücklegen, oder möchtest du den ganzen Weg laufen?"

  • Nun musste ich doch lachen, als Verus befürchtete, dass die Villa seinen Sklaven auch noch verschluckt hatte.
    "Wir sollten uns beeilen, dass wir hier herauskommen. Wer weiß, am Ende sind wir die nächsten. Ich höre schon die Schlagzeilen-Ausrufer der Imago auf dem Forum: 'Rätselhafter Einwohnerschwund in der Villa Claudia - liegt es an einem Monster im Keller oder wohnt ein Greif im Gebälg?'"


    Ich nahm meinen Stock, der neben dem Bett stand, und hielt Verus meinen Arm hin, dass er mich führen konnte. "Gehen wir zu Fuß, das geht sicher schneller."
    Nur ein einziges Mal war ich in Rom einigermaßen schnell mit der Sänfte voran gekommen. Das war, als sich meine Träger direkt hinter die Sänfte eines Consuls gereiht hatten, dessen Liktoren lauthals für freien Durchgang gesorgt hatten. Ansonsten hatte ich eher das Gefühl, die Fortbewegung mit der Sänfte war eine sehr stockende Angelegenheit.


    Gemeinsam verließen wir die Villa Claudia, um uns zu den Märkten durchzuschlagen.

  • II-XIV


    Es gab nicht viel zu packen. Ich hatte nur wenig mit nach Rom gebracht und würde nicht viel mehr mit zurück nach Ravenna nehmen. Ravenna, ich freute mich unglaublich auf zuhause. Ich freute mich auf den Duft nach Lavendel im Atrium, den Duft nach Rosen und Hyazinthen im Peristyl, und den nach Azaleen und Magnolien im Garten. Ich freute mich auf das Zwitschern der Vögel und Zikaden, die ich in Käfigen im ganzen Haus hielt, und ich freute mich auf das Knarzen der alten Weide am Forum. Ich freute mich auf den frischen, salzigen Wind, das Rauschen der Wellen und das Gefühl des körnigen Sandes unter meinen Füßen am Strand. Ich freute mich darauf, endlich wieder allein durch die Stadt ziehen zu können (nichts änderte sich je in Ravenna), mit Yama, meiner Stute, ausreiten zu können (wenn Platorinus noch lange in Ägypten bleiben würde, würde sich sicher ein anderer Reiter mit einem Führungspferd finden), und ich freute mich auf die allabendlichen Gelage (vor allem die bei Seia, die bei den Quinctiliern und die beim alten Flavius).


    Rom sehen und sterben. Ich hatte Rom gesehen, auf meine Art, aber zu sterben hatte ich trotzdem noch lange nicht vor. Doch ich wusste nun, dass Rom zu groß für mich war, zu weit, zu voll, zu dicht, zu laut, zu viel. Ich hatte meine Zeit hier genossen, jede Sekunde davon. Ich konnte zufrieden nachhause zurückkehren, wissend, dass ich nichts verpasste, und mit dem guten Gefühl, dass Ravenna genau passend für mich war.


    Heimisch war ich in der Villa Claudia zu Rom nie geworden. Ich war ein Besucher gewesen und würde es stets sein. Eine kurze Notiz hatte ich Menecrates hinterlassen und für die Gastfreundschaft in seinem Haus gedankt. Von Serapio, mit dem ich Brüderschaft getrunken hatte, fehlte mir leider eine Adresse, denn ich hätte ihn gerne einmal nach Ravenna eingeladen. Doch vielleicht würde ihn das Schicksal irgendwann noch einmal vor meiner Haustür schwemmen, oder mich vor die seine - wer wusste es schon. Und bestimmt würde er sich an mich erinnern, wenn er irgendwann in den Norden Italiens kam.


    Mehr gab es nicht zu tun. Ich nahm meinen Stock, der neben dem Bett gelehnt hatte, und schloss die Tür zu dem Cubiculum, das nun wieder nach einem Fremden roch. Tucca wartete bereits und legte meine freie Hand auf seine Schulter, um mich hinaus zur Sänfte zu bringen.



    >>> So endeten die fabelhaften Abenteuer des Nero Claudius Tucca und seines Sklaven Tuktuk in Rom - vielleicht vorerst, vielleicht auch für immer, denn wer kann schon vorhersagen, was die Zukunft bringt? <<<

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