Ein Opfer für Iuno | Quae mutatio rerum…

  • Nachdem Siv endlich die Villa wieder hatte verlassen können, war sie zunächst auf den Markt gegangen. So früh am Morgen war noch recht wenig los, war ihr nur Recht war, konnte sie Menschenmassen, die sich um sie drängten, doch nach wie vor nicht ausstehen, und würde das vermutlich auch nie wirklich können. Sie brauchte nicht lange, bis sie an einen Stand kam, der unter anderem kleine Opfertiere anbot. Einen Moment zögerte sie und betrachtete das Angebot von ihrem Standpunkt ein Stück entfernt, aber dann gab sie sich einen Ruck und trat vor, um die Tiere aus der Nähe in Augenschein zu nehmen. Sie winkte ab, als der Händler begann, ihr verschiedene Tiere anzupreisen. Sie hatte sich noch einmal umgezogen und trug nun ihre beste Tunika – dass sie Sklavin war, wurde gerade dadurch offensichtlich, denn eine Liberta oder Peregrina hätte sich ein derartiges Kleidungsstück kaum leisten können. Gleichzeitig machte diese Tunika aber auch klar, dass sie zu einem reichen Haushalt gehörte, und das wiederum bewegte den Händler dazu, sie um einiges ernster zu nehmen als so manchen Römer, der sich zuweilen um seinen Stand herumtrieb. Dennoch wollte sie keine Ratschläge, sie wollte selbst ein Tier auswählen. Ein Kaninchen sollte es wieder sein, nicht schlechter und nicht besser als das Opfer für ihre Götter. Aber von Caecus wusste sie, dass das Tier makellos sein sollte, weiß, und weiblich. Nachdem sie sich jedes einzelne weiße weibliche Kaninchen angesehen hatte, deutete sie schließlich auf ein bestimmtes davon. "Wie viel du willst, für das?" Der Händler betrachtete es kurz und lächelte dann zuvorkommend. "Zwanzig Sesterzen, für dieses prachtvolle Tier." Siv starrte ihn an. Dann schluckte sie nur trocken. Sie hatte ein wenig Geld, jeder der Sklaven bekam hin und wieder etwas, wenn sie etwas Wichtiges besonders gut erledigt hatten, oder manchmal auch einfach nur so… Sie hatte nie wirklich gewusst, wofür sie das ausgeben sollte – was sie zum Leben brauchte, hatte sie in der Villa, und Schmuck und sonstiges bedeutete ihr wenig. Gestern war sie zum ersten Mal froh gewesen, ein paar Münzen ihr eigen nennen zu dürfen, weil sie nur so an ein Opfertier kam, dass hoffentlich gut genug war. Sie hatte alles mitgenommen, aber es reichte nicht. Lange nicht. Mit zusammengepressten Lippen sah sie erneut auf die Tiere. Die anderen würden kaum billiger sein, immerhin sahen sie alle recht makellos aus. Davon abgesehen, dass sie das beste haben wollte, das in ihren Augen beste jedenfalls, wäre nun eigentlich ihre einzige Wahl, ein unblutiges Opfer abzuhalten. Aber etwas in Siv sträubte sich vehement dagegen. Mit ihrem Vorhaben sprang sie sowieso schon über ihren Schatten. Es kam gar nicht in Frage, dass sie nun einen Rückzieher machte, und sei es nur ein kleiner. Dafür war ihr das einfach zu wichtig. Und so tat sie etwas, was sie sonst nie getan hätte – sie bat. "Das… ich nicht habe so viel, so viel Geld." Fragend und bittend zugleich sah sie den Händler an, nicht in der Hoffnung, dass er ihr einen Preisnachlass gewährte, denn der würde kaum groß genug sein, dass ihre Mittel ausreichten, aber doch in der Hoffnung, irgendeine Lösung zu finden. Der Mann musterte sie kurz und schien zu überlegen, dann deutete er auf ihren Anhänger. "Der da. Ist das Silber? Dann wird der reichen." Sivs Hand für zu ihrem Hals und legte sich schützend über das kleine Pferd. "Nein", sagte sie – offen lassend, ob der Anhänger tatsächlich aus Silber war oder nicht, aber in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie die Kette nicht hergeben würde. Einen Moment sahen sie sich an, dann fragte sie bittend: "Kann ich später noch Geld bringen?" Der Händler sah sie einen Moment abschätzend an. "Wem gehörst du?" fragte er dann, sein Tonfall genauso wie seine Miene ausdruckslos. Siv zögerte nur einen Moment. Sie wusste, wenn er zu Corvinus ging, war sie vermutlich wieder in Schwierigkeiten, aber das Risiko musste sie eingehen. "Aurelius Corvinus." Sie drehte sich halb zur Seite, neigte den Kopf etwas und schob ihre Haare aus dem Nacken, damit er das Zeichen sehen konnte. "Aurelius, sagst du? Der Senator?" Einen Moment noch musterte er sie, dann nickte er. "Also gut. Gib mir was du hast, und bring den Rest später. Aber wenn du morgen nicht da bist, steh ich bei deinem Herrn auf der Matte, und dann will ich mehr haben!" Siv strahlte ihn an. "Ich werde kommen. Später. Danke!"


    Nur wenig später stand sie vor dem weitläufigen Tempelgelände. Siv drängte die Übelkeit zurück, die sich ihrer wieder bemächtigen wollte. Sie wusste nicht, ob es ein Fehler gewesen war hierher zu kommen. Aber sie würde das hier durchziehen. Einmal atmete sie noch tief ein, dann legte sie ein Tuch über ihre offenen Haare, ging weiter und betrat den Tempelvorhof. Etwas scheu sah sie sich um. Selten nur war sie hier gewesen, es war nicht oft vorgekommen, dass Corvinus in Sklavenbegleitung wünschte, wenn er seiner Tätigkeit nachging. Und sie hatte sich auch nie darum gerissen, einfach weil sie generell sich nicht darum gerissen hatte, ihn irgendwohin zu begleiten, wo sie immer so sehr darauf achten musste, was sie sagte oder tat. Jetzt allerdings war sie froh darum, schon hier gewesen zu sein – es waren vielleicht an zwei oder drei Gelegenheiten gewesen, aber es half, dass sie sich jetzt nicht ganz so verloren fühlte. In Gedanken ging sie zum unzähligsten Mal durch, was Caecus ihr erzählt hatte, unwissend darüber, dass sie vorhatte, das am anderen Tag in die Tat umzusetzen. Ein Fuß setzte sich vor den anderen, langsam, aber nichtsdestotrotz zielstrebig führten sie ihre Schritte in den Tempel hinein. Einen Moment stockte sie auf ihrem Weg, als sie an einer der Wasserschalen vorbeikam. Sorgfältig wusch sie ihre Hände, hatte Caecus doch gesagt, dass diese Reinigung wichtig war. Dann ging sie weiter, bis sie zu Iunos Abbild kam. Regungslos blieb sie davor stehen und schloss kurz die Augen. Vielleicht war es ein Fehler. Sie war Germanin, sie hatte hier nichts zu suchen, und schon gar nicht hatte sie hier zu opfern. Sie respektierte die römischen Götter, es waren immerhin Götter, und wer war sie schon, Göttern – gleich welchen Volkes – den gebührenden Respekt zu versagen? Aber sie verehrte nur die ihren, betete nur zu ihren, opferte nur für ihre, und sie hatte mehr als einmal gesagt, dass ihre Götter die stärkeren wären, wenn es hart auf hart kam. Ob es tatsächlich so war oder nicht, war gleichgültig. Sie war ihren Göttern gegenüber loyal.


    Aber sie hatte niemals über die römischen Götter geschimpft, hatte nie deren Namen in den Schmutz gezogen. Auch wenn es nicht die ihren waren, es waren Götter, so einfach war das in Sivs Augen. Und sie lebte nicht unter Römern, war Sklavin eines Römers, nein, sie lebte mitten in der Hauptstadt des Römischen Reichs, mitten im Zentrum ihrer Macht. Im hohen Norden mochten ihre Götter die stärkeren sein, aber hier waren sie es sicherlich nicht, das war ihr bei aller Treue klar. Das allein war für sie bisher kein Grund gewesen, nun auch römischen Göttern zu opfern, aber etwas grundlegendes hatte sich geändert. Es waren nicht ihre Götter, aber es waren Corvinus’ – und damit auch die ihres Kindes. Sivs Augen öffneten sich wieder, und ihre Hand legte sich unwillkürlich auf ihren Bauch. Für sie war das Grund genug, um auch Iuno um ihren Beistand anzuflehen. Sie hoffte nur, dass es für Iuno auch Grund genug war, ihr diesen Beistand zu gewähren. Dass die Göttin die Tatsache, dass ihr Kind zur Hälfte Römer war, über die Tatsache stellte, dass die andere Hälfte germanisch war – dass sie, die Opfernde, Germanin war. Dass Iuno in erster Linie die Schutzgöttin der Mütter war und nicht die Schutzgöttin römischer Mütter. Erneut holte Siv tief Luft, dann ließ sie sich niedersinken, kniete sich hin. Ihre Hand zitterte leicht, als sie Weihrauchkörner hervorholte und sie in die Schale vor dem Kultbild rieseln ließ, in der ein kleines Feuer brannte. Die Körner begannen sofort zu glühen, und bald breiteten sich Rauchschwaden um sie herum aus. Wieder rang Siv einen Augenblick mit Übelkeit, als der schwere Duft in ihre Nase drang und ihre Sinne vernebelte, aber sie blieb standhaft. Das Beben ihrer Hände dagegen brachte sie nicht wirklich unter Kontrolle, als sie nun Früchte, Dinkelkekse und Blumen hervorzog. Sie hatte gestern lange in den Vorratsräumen herumgestöbert, bis sie zufrieden gewesen war mit ihrer Auswahl. Glänzende Äpfel legte sie vor Iunos Abbild und Trauben, sogar ein paar Orangen hatte sie mitgenommen und Datteln. Die Dinkelkekse hatte sie mit Nikis Hilfe am Abend noch selbst gebacken – die Köchin hatte zwar etwas fragend geschaut, aber nichts gesagt, und Siv hatte den Blick ignoriert. Die Blumen waren aus dem Garten der Villa, und bei diesen hatte sie darauf geachtet, nicht nur die schönsten zu nehmen, sondern hauptsächlich solche, die sie selbst aus Samen oder Ablegern gezogen hatte. Caecus hatte nichts davon erwähnt, dass das wichtig wäre, aber da kam schlicht die Germanin durch – ihre Götter legten Wert darauf, dass in den Opfern persönliche Arbeit steckte, unter anderem in dem Met, der eigentlich selbstgebraut sein sollte. Und so waren es nicht nur Blüten von schönen und seltenen Pflanzen, die sie auslegte, sondern die, die ihr am meisten abgefordert hatten. Sie hatte sogar eine Blüte von der Orchidee abgebrochen – Corvinus würde vermutlich ausrasten, wenn ihm das auffiel –, weil die Orchidee die Pflanze im Garten war, um die sie sich in der letzen Zeit mit Abstand am meisten bemüht hatte. "Iuno", murmelte sie. "Himmelskönigin. Schutzgöttin, von Haus und Frauen. Von Mütter." Sie schluckte, als die Nervosität wieder größer wurde. Caecus hatte ihr noch mehr Beinamen genannt. Noch mehr offizielle Anreden. Und erst vor kurzem war sie sie in Gedanken durchgegangen, hatte sich Worte zurecht gelegt. Aber jetzt war ihr Kopf wie leergefegt. Einen Moment schwieg sie, dann fing sie an zu reden, fing an das zu sagen, was ihr auf dem Herzen lag – auf Germanisch wäre es ihr leichter gefallen, aber sie zwang sich dazu, Latein zu nutzen, allein schon aus Respekt vor der Göttin, die sie um Beistand bat. "Iuno. Ich weiß… ich bin Germanin, ich weiß, du nicht meine Göttin bist, und ich weiß, dass ich, dass Opfer von mir nicht ist… nicht ist sein soll, weil ich keine Römerin bin. Trotzdem… Bitte hilfe. Ich bin… ich habe das, hier, das Opfer für dich. Bitte nimm Opfer. Hilf, dass alles gut ist. Das…" Siv schluckte, und wie schon bei ihrer Bitte an Hel musste sie sich überwinden, um es auszusprechen – aber wie schon in der Nacht wusste sie, dass sie sagen musste, worum es ging. "Mein Kind. Hilf, dass es gesund ist. Dass alles gut ist, nicht für mich, für Kind, mein Kind. Bitte." Ihre Stimme war nur ein Flüstern, das schließlich verstummte. Es gäbe noch viel mehr zu sagen, Siv hatte so viel im Herzen, hatte sich so viel zurechtgelegt, aber sie in diesem Augenblick wusste sie nicht mehr zu sagen. Während sie die die Blumen um die Opferschale herum anordnete und anschließend die Früchte dem Feuer übergab, hoffte sie nur, dass ihre Worte ausreichten, um Iuno zu zeigen, wie ernst es ihr war.

  • Angelockt von den Weihrauchdüften blickte Iuno auf die Sterbliche hinab. Ob das junge Menschlein Germanin war oder nicht, interessierte Iuno herzlich wenig, denn nördlich des Limes war sie als Frigg bekannt. Aber hier war sie Iuno, denn es musste alles seine Ordnung haben.


    Und so wartete sie ab, was nun passieren mochte.

  • Die Flammen begannen, nach den Früchten und Keksen zu lecken, und die begannen zu verbrennen, nicht besonders schnell, nicht besonders langsam. Siv bemühte sich um ein regungsloses Gesicht, aber ein leichtes Stirnrunzeln konnte sie nicht verhindern. Was bedeutete das? Caecus hatte gesagt, an der Geschwindigkeit, in der das Feuer das Opfer annahm, konnte man erkennen, wie gewogen die Götter waren… Aber Siv hatte keine Ahnung, was nun schnell oder langsam war. Sie hätte Caecus mehr ausfragen sollen. Oder vielleicht hier jemanden bitten sollen, ihr zu helfen… Sie kräuselte die Nase etwas und beugte sich vor, näher an die Opferschale heran, und betrachtete die Flammen und die kleiner werdenden Reste des Voropfers. Ihre Nase kräuselte sich erneut, diesmal wegen des Geruchs von dem Verbrannten, der hochstieg, während sie versuchte irgendetwas zu entdecken, was ihr einen Hinweis darauf geben könnte, was Iuno davon hielt. Aber sie konnte es beim besten Willen nicht sagen. Sie blieb sitzen und starrte in die Flammen, bis auch der Rest verbrannt war, dann machte sie Anstalten, sich zu erheben – und hielt inne. Im letzten Augenblick war ihr eingefallen, dass sie sich ja nach rechts wenden musste. Also tat sie das, dann stand sie langsam auf. Zwei Schritte machte sie zurück und betrachtete noch einmal das Kultbild, dann wandte sie sich endgültig um und ging mit dem nun leeren Beutel in der einen und dem kleinen Tragekorb, in dem das Kaninchen saß, hinaus in den Tempelvorhof. Einen Augenblick blieb sie unschlüssig stehen auf den wenigen Stufen, die hinunter führten, dann bewegte sie sich auf den Altar zu, und auf dem Weg dorthin ging sie in Gedanken erneut den Ablauf durch. Das war wichtig, hatte Caecus gesagt. Ein kleiner Fehlgriff konnte darüber entscheiden, ob ein Opfer angenommen wurde oder nicht. Siv holte tief Luft und entließ sie beinahe lautlos wieder. Immerhin war im Tempel nach wie vor wenig los, wofür Siv den Göttern dankte, denn so hatte sie wenigstens nicht das Gefühl, von irgendjemandem beobachtet zu werden – was ihre Aufregung vermutlich noch gesteigert hätte.


    Am Altar angekommen, legte sie ihre Sachen auf den Boden davor ab und bereitete vor, was sie brauchen würde – das Opfermesser, drei Schalen, der Wein, der den Met in dem kleinen Schlauch ersetzt hatte. Caecus hatte von einer Mischung aus Salzlake und Dinkelschrot gesprochen, der Mola Salsa, aber sie hatte nicht gewusst in welchem Verhältnis das gemischt werden musste, und auch nicht, ob sie das im Tempel bekommen würde – und Wein genügte auch, um das Tier zu weihen, hatte Caecus dann noch gesagt. Nachdem sie das erledigt hatte, wusch sie sich erneut die Hände in einer bereitstehenden Wasserschale, warf wieder Weihrauchkörner ins Feuer und holte dann das Kaninchen aus dem Korb. Mit einem sicheren Griff hielt sie es fest, während sie es mit dem Wein weihte. Erneut holte die Germanin dann tief Luft. Was kam nun? Ihre Hand schwebte über dem Opfermesser, zögerte aber kurz, während sie überlegte – dann schlossen sich ihre Finger um den Griff. "Iuno. Das ist Opfer für dich. Sei da, für mein Kind. Bitte." Die Klinge verharrte kurz zitternd in der Luft, während das Kaninchen in ihrem festen Griff zwar etwas bebte, aber sich ansonsten kaum rührte. "Bitte", wiederholte sie wispernd. Dann senkte Siv das Messer und strich damit sacht vom Kopf des kleinen Tiers bis zu seinem Schwanz. Caecus’ Erklärung für diesen Ritus hatte sie nicht ganz begriffen, aber sie hoffte, dass das nicht nötig war, damit alles klappte. Im nächsten Moment schnitt sie mit einer raschen, gekonnten Bewegungen die Kehle des Kaninchens durch. Das Blut floss in eine der drei Schalen, während die Zuckungen des kleinen Körpers rasch schwächer wurden. Siv wartete, bis der Strom versiegte, was nicht wirklich lange dauerte, dann legte sie das Kaninchen auf den Rücken, öffnete den Bauch und weidete es aus. Nacheinander landeten Niere, Leber und übrige Eingeweide in der zweiten Schale, und als Siv damit fertig war, hielt sie wieder inne. Die Aufregung, die während der von früher altvertrauten Tätigkeit des Ausweidens sich verzogen hatte, war plötzlich wieder da. Jetzt kam der entscheidende Moment. Das Verbrennen der Eingeweide und des Rests vom Kaninchen war auch wichtig, aber wenn die Eingeweide nicht makellos waren, konnte man das Opfer vergessen, hatte Caecus erzählt, dann blieb einem nur die Möglichkeit, das Opfer zu wiederholen – entweder sofort oder zu einem anderen Zeitpunkt, wenn man sich davor im alltäglichen Leben angestrengt hatte, so dass Iuno einem mehr gewogen war. Siv dachte kurz daran, wie sie das Kaninchen bekommen hatte. Sie hatte nur diese eine Chance. Brix würde ihr sicher das restliche Geld geben, ansonsten hätte sie das Kaninchen gar nicht erst angenommen vom Händler, wenn sie davon nicht überzeugt wäre – aber ihr ein zweites Mal so viel Geld zu geben, da würde Brix ebenso sicher nicht mitspielen, erst recht nicht wenn er nicht wusste, worum es überhaupt ging. Siv zögerte noch einen Moment, dann wandte sie sich der Schale mit den Eingeweiden zu und begann, sie zu untersuchen.

  • Amüsiert sah Iuno auf das Opfer herab. Die Bewegungen wirkten linkisch wie bei jedem, der zum ersten Mal ein solches Opfer durchführte und die Rhetorik war alles andere als ausgefeilt. Dennoch achtete sie auf die Richtigkeit der Handlung, denn alles musste seine Ordnung haben, allerdings ließ sie durchaus den Milderungsgrund des ersten Opfers gelten.


    Die junge Sterbliche würde keinen Makel in den Eingeweiden finden, das Opfer war angenommen. Iuno sendete ihr zusätzlich noch ein gutes Gefühl und das Bedürfnis, besser Latein sprechen zu wollen.

  • Siv sah sich die verschiedenen Organe durch. Dann noch mal. Und noch ein drittes Mal. Sie fand nichts. Mit einem erleichterten Aufatmen schloss sie die Augen. Nichts. Kein Makel. Jedenfalls nicht, so weit sie erkennen konnte, und sie hatte schon mehr als einmal ein Tier ausgenommen und zerlegt, und auf Mängel musste man da auch achten, immerhin war der behaftete Teil dann selten genießbar. Iuno hatte das Opfer angenommen. "Danke. Oooh, danke, danke, vielen Dank!" Tränen sammelten sich in ihren Augen, und Siv wischte sie weg, mit dem Handrücken, um sich nicht das Gesicht voll mit Blut zu beschmieren. Auf einmal war die Aufregung wie weggefegt. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, das Gefühl, dass alles irgendwie gut werden würde. Siv atmete ein paar Mal tief durch. Es war gleichgültig, dass sie Germanin war und keine Römerin. Jedenfalls in ihrer Situation, offenbar. Oder vielleicht hatte Iuno es gerade gerührt, dass sie sie anflehte und ihr ein Opfer darbrachte, obwohl sie Germanin war – diesen Schritt zu tun, hatte ihr einiges abverlangt, waren für Siv die römischen Götter doch schlicht andere als ihre eigenen. Vielleicht hatte auch einfach nur gezählt, dass sie sich bemüht hatte, das Opfer so korrekt wie möglich darzubringen, auf alles zu achten, was Caecus ihr gesagt hatte. Vielleicht war es auch eine Mischung aus allem. Der Grund war letztlich egal, die Hauptsache war, dass Iuno das Opfer, ihr Opfer, angenommen hatte, und dass sie ihr damit auch ihre Bitte gewährt hatte. Siv begann, ganz leicht zu lächeln, während sie zuerst die Eingeweide und dann nach und nach, nachdem das Feuer die Organe verzehrt hatte, den Rest des Kaninchens den Flammen übergab. Mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen blieb Siv stehen, bis auch das letzte bisschen verbrannt war, und nahm sich gleichzeitig vor, wieder herzukommen, irgendwann in der Zukunft, und Iuno einfach nur zu danken, dass sie sich ihr heute wohlgesonnen erwiesen hatte. Dann wusch sie sich die Hände und packte anschließend ihre Sachen zusammen, und während sie das tat, stand da auf einmal ein Gedanke in ihrem Kopf, wie aus dem Nichts hergezaubert. Ich sollte wirklich Cassim fragen, ob er mir auch mal Einzelunterricht gibt. In Griechisch. Und in Latein. Sie hatte sich schon länger mit dem Gedanken getragen, den Parther, der sie bei den Flaviern unterrichtete, zu fragen, aber sie hatte es immer wieder aufgeschoben – sie wollte zwar lernen, aber irgendetwas war stets dazwischen gekommen, und überhaupt war sie sich nicht so sicher, ob sie Cassim wirklich darum bitten konnte. Jetzt allerdings war ihr Bedürfnis, ihr Latein zu verbessern, so stark, dass sie sich vornahm, ihn bei nächster Gelegenheit zu fragen. Etwas verwirrt über diesen plötzlichen Entschluss, verschnürte sie ihren Beutel und verließ dann den Tempel, um sich auf den Heimweg zu machen.

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