Im letzten Rot des vergehenden Tages, was in diesen Breiten nie lange währte, sondern schnell der Dunkelheit der Nacht weichen würde, hatten sich in einem ruhigen Winkel eines Gartens am Museion einige Gestalten versammelt. Nach und nach waren sie eingetroffen, und es trafen hin und wieder einige Nachzügler ein. Im Schutz des Schattens einer dichten Hecke, die diesen Bereich der Parkanlagen abgrenzte, standen die Menschen da. Unter ihnen war auch ein Mann jüngeren Alters. Auch wenn die Nächte immer noch mild waren in diesen Tagen trug er eine lange Chlamys und ein Tuch über dem Kopf, sodass auch jemand der zufällig vorbeikäme ihn nicht erkennen würde.
Im Rosengarten kurz vor Sonnenuntergang
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Auch, wenn Penelope das Messer nach wie vor für keine gute Idee hielt, hatte sie es wie versprochen mit sich mitgenommen und so unter ihrem Chiton versteckt, dass man es nicht sah, sie aber dennoch schnell hinkommen würde, sollte es nötig sein. Sie hoffte aber, es wäre gar nicht erst von Nöten.
Penelope sah die Versammlung, die sich im Schutz der Hecken bildete, und blieb vorsichtig in der Nähe stehen. Sie hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, und wollte sich nicht mitten in einen Haufen fremder Menschen stellen. Sie hielt sich schön am Rand, versuchte, nicht schüchtern zu wirken, und beobachtete das Ganze mit stillem Interesse. Sie war gespannt, was diese Einladung wohl zu bedeuten hatte, und warum der Gymnasiarchos sie auf so seltsame Art und Weise ausgesprochen hatte. Sie schaute sich ein wenig um, ob sie ihn überhaupt entdecken konnte, sah ihn aber nicht. -
Eine Gestalt löste sich aus der Traube an Menschen hinter der Hecke. Langsam kam sie auf die junge Frau zu. Eine lange Chlamys trug die Gestalt in einer dunklen Farbe, die nun wie alle Farben im Schatten der Hecken, die die Abendsonne zurückhielten, nicht zu erkennen war.
"Sei gegrüßt, werte Penelope. Mich freut, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Mich freut auch, dass du allein gekommen bist.", sagte die Gestalt und streifte sich einen Schleier oder eine Kapuze oder einen Zipfel der Chlamys, was genau, war nicht zu erkennen, vom Kopf. Das Gesicht des Gymnasiarchen war im Halbdunkel nun zu sehen.
"Dass du alleine kommen solltest, mag dir etwas unheimlich angemutet haben, doch wie ich sehe bist du dennoch gekommen. Ich bat dich nicht darum, dies zu tun, um nun, wenn du dies erwartet haben solltest, was ich bei all deiner Tugend nicht glaube, zu einer wilden Feier in der Art einzuladen, die den Göttern missfällt, da sie schäbig ist und vor allem die Teilnehmer nicht durch sie zu sehen lernen, sondern erblinden.
Freilich ist Dionysos am besten im Rausch verehrt, doch es gibt Unterschiede zwischen einem Rausch, der den Menschen am Leib spüren läßt, was seine Seele erfährt und dem Rausch, der um seiner selbst willen gepflegt wird und der nichts mehr ist als die abgetakelte Beschäftigung reich und fettgewordener Bürger.
Nicht einmal der Rausch, der zur Erkenntnis führt, wird an diesem Abend gelebt werden."Nikolaos blickte Penelope lange an.
"Denn etwas am Leib zu spüren, ist nur Ersatz für etwas Höheres, das ausbleibt. Der Rausch kann Reinigung sein, aber Reinigung ist nicht der Weg zur Reinheit."
Stille.
"Ich werde bald von etwas sprechen, dass mehr als nur ein weiser Lehrer mir mitgeteilt und dass ich schließlich selbst herangezogen und gehegt habe."
Stille.
"Die Sonne ist rot geworden am Rand des Ausschnittes der Welt, den wir überblicken können. Wir werden nun in eine Halle gehen, in der wir ungestört sind. Denke keineswegs, dass ich versuchen möchte, die hier anwesenden jungen und älteren Menschen anzustacheln, zu verführen oder aufzuhetzen. Mag ich mich vor niederem Trachten sowenig schützen, wie es jedem Menschen misslingt, doch nicht in Niedertracht habe ich euch alle zusammengerufen.
Es gibt nur Dinge, über die nicht jeder nachdenken sollte. Der Großteil der Menschen ist dazu bestimmt, zu arbeiten, sich mehr oder weniger glücklich zu schätzen. Darunter sind auch viele sehr große Männer - und Frauen. Es ist keineswegs der Fall, dass ich Menschen, für die jene Gedanken in meiner Vorstellung nicht bestimmt sind, verachte oder geringschätze. Das Gegenteil ist der Fall.
Es liegt mir bloß am Herzen, sie nicht zu verwirren oder aus der natürlichen Ruhe zu bringen, die zu zuweilen zu haben scheinen, auch wenn natürlich der Anschein trügt, denn kaum ein Mensch hat die Gabe der Ruhe."Stille.
"Wenn du uns folgen möchtest, so tue es. Wenn du es nicht möchtest, so gehe deiner Wege."
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Erhaben und ruhig stand Penelope da, ganz, wie ihr Großvater es sie gelehrt hatte. In diesen Momenten war sie mehr als froh über die harte Schule, durch die er sie als Kind bereits geschickt hatte. Ein Künstler war bei seinen Auftritten nun mal nicht zögerlich und schüchtern, sondern erhaben wie Apollo selbst, und führte sein Instrument stets beherrscht und mit ruhiger Hand. Diese Lektionen hatte sie tausendfach gehört, und auch, wenn Harmonia noch sicher in ihren Räumlichkeiten lag, hatte sie dennoch ihre gerade und aufrechte Haltung, ganz wie bei einem Auftritt.
Ruhig hörte sie sich alles an, was der Gymnasiarchos mitzuteilen hatte. Bei seinen ersten Worten war sie leicht verunsichert. Auch wenn er beteuerte, dass dies hier keine Orgie war, war die Art, wie er das betonte und vom Rausch sprach doch ein wenig unheimlich. Ganz so, als wisse er ziemlich genau, wovon er da sprach, und wolle sie doch ein wenig neugierig darauf machen. So zumindest kam es ihr vor. Doch sie ließ sich nichts anmerken.
Der Teil danach verwirrte sie allerdings fast noch mehr. Sie würden also in eine Halle gehen? Das war allerdings schlecht für Anthis Plan zu ihrer Rettung, sollte diese notwendig werden. Und Penelope hatte auch keine Ahnung, ob sie Nikolaos da so blind vertrauen konnte oder nicht. Er sagte immerhin nichts, was darauf schließen ließ, was er vorhatte. Ihre Neugierde war natürlich groß, aber ihre Vorsicht war ebenfalls geweckt. So stand sie ein paar Momente einfach schweigend da und ließ sich das gesagte durch den Kopf gehen, ehe sie antwortete.“Werter Gymnasiarchos. Ich muss zugeben, deine Worte verwirren mich, weiß ich doch noch immer nichts über den Zweck meines Hierseins. Du sagst, deine Absichten sind nicht die eines Rausches, wie es dem Dionysos wohl geziemt, und das glaube ich dir. Hätte ich solches angenommen, wäre ich hier auch gar nicht erst erschienen.
Und doch weiß ich nicht, was du bezweckst. Und wie kann ich eine solche Entscheidung treffen, ohne zu wissen, worum es überhaupt geht? Wie du weißt, liegen mir vier Dinge am Herzen. Die Götter, die Polis, meine Familie und meine Ehre. Versicherst du mir, dass nichts, was in dieser Halle geschieht, einem dieser Teile Schaden bringen wird? Und gibst du mir dein Wort als Ehrenmann?“
Das war viel gewagt, das wusste Penelope, und sie versuchte, ruhig zu wirken. Innerlich war sie aufgeregt und nervös, ob sie nicht zuviel gesetzt hatte mit ihren Worten. Aber sie konnte nicht einfach irgendwohin mitgehen, ohne wenigstens zu wissen, ob sie dort in Sicherheit war und auch wieder gehen könnte, wenn es nötig wäre. Und sie würde sich an keiner Verschwörung gegen die Polis beteiligen, soviel musste Nikolaos klar sein. -
Ruhig erwartete der Gymnasiarch die Antwort des Mädchens. Er ließ sich Zeit, dem Mädchen, soweit es im Halbdunkel möglich war, tief in die Augen zu blicken, ehe er antwortete.
"Dich ehrt deine Besorgnis um diese Dinge, und auch mir liegen sie meinerseits sehr am Herzen. Manche mögen über mich sagen, ich sei von der Macht besessen und von der Gier zerfressen. Ohne mir aber damit einen Lorbeerkranz flechten zu wollen, muss ich sagen, dass dem nicht so ist. Alles, was ich tue und was meine Ehre oder die anderer Menschen betrifft, was die Polis betrifft, und ja, was die Götter betrifft, tue ich in der festen Überzeugung, zum Guten zu handeln. Ob es gut ist oder nicht, mag ich nicht beurteilen.
Doch nicht das Wohl oder die Ehre, nicht das Heil der Polis wird davon berührt, was zu sagen ich vorhabe. Es trägt im Gegenteil zur Ehrung der Götter bei."
Er legte eine Pause ein und versuchte, an Penelopes Miene abzulesen, was ihr durch den Kopf ging nach seinen Worten.
"Ich möchte eine Art der Betrachtung der Welt preisgeben, die weder anstößig, noch verboten, noch frevelhaft ist. Jedoch ist sie sehr wohl in der Lage, Menschen, die allzu sehr verwurzelt sind mit dem, was man allgemeinhin das Tagewerk, das tägliche Leben nennt, zu versuchen, vielleicht zu erschrecken."
Wieder eine Pause und ein tiefschürfender Blick.
"Die Halle, von der ich spreche, ist im Übrigen kein Verlies. Wenn du, entgegen meiner Meinung über dich, zu den Menschen gehörst, die ich eben ansprach, so kannst du zu jeder Zeit nach Hause gehen."
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Er erforschte ihre Seele mit seinem Blick, so zumindest kam es Penelope vor. Ruhig erwiderte sie seinen Blick, ohne Anzeichen von Angst. Das hier war wie ein Auftritt, sagte sie sich, und da hatte sie die Kontrolle. Angst nützte nichts, wenn man spielen wollte, Furcht machte die Hände zittrig und die Stimme kratzig. Und ein Künstler, der sich wie eine Maus versteckte, konnte nie mit Lorbeer rechnen. Also versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen von den Sorgen, der Unsicherheit und dem Zweifel, der tief in ihr nagte.
Sie konnte gehen, wann immer sie wollte, das war gut. Und es wäre keine Verschwörung gegen die Polis, auch das war gut. Ihre Ehre war nicht in Gefahr, auch das war gut. Zwar wusste sie noch immer nicht, worum es ging, aber so waren schon mal die größten Ängste ausgeräumt. Und zur Not hatte sie immer noch das Messer und eine wirklich kräftige Stimme, wenn sie wollte.
“Nungut, Gymnasiarchos, dann werde ich mich euch vorerst anschließen und hören, was du zu lehren hast.“
Mehr wollte sie jetzt nicht sagen. Wenn es ihr wirklich zuviel werden würde, würde sie gehen. Aber ihre Neugierde war nun doch geweckt, worum es eigentlich ging. -
Nikolaos nickte. "Das freut mich sehr, werte Penelope." Er sah sie wieder eine Weile an. "Du brauchst mich jetzt nicht den Gymnasiarchos zu nennen, denn das bin ich außerhalb der Mauern, die dieses Heiligtum umgeben. Innerhalb der Mauern bin ich Gelehrter, wie auch du."
Er wandte sich an die anderen.
"Wir können hineingehen. Es sind alle da."
Die Sonne hatte ihr tiefstes Rot angenommen. Bald würde es ganz dunkel sein. Es dauerte, so hatte Nikolaos oft bemerkt, in diesen Breiten weitaus kürzere Zeit als weiter nördlich, in Rom oder in Athen. Nikolaos in der Mitte gingen die Menschen, es waren vielleicht mit Penelope ein Dutzend, durch den dämmrigen Park auf einen kleinen Pavillon zu, der abseits der Mauern zur Straße hin in einem Zedernhain stand. Nikolaos schätzte diese Baumart sehr. Sein Landhaus war auch von Zedern umgeben.
Sie erreichten das kleine, runde Gebäude. Auf eine Säulenhalle, die es umgab, führte eine hohe, doppelflügelige Tür hinaus, die Nikolaos nun öffnete. Einer seiner Schüler hatte rasch irgendwoher aus seinem Gewand eine Öllampe geholt, deren Flamme von einem Glaskolben geschützt war, der nur oben ein kleines Loch aufwies. Als die Flamme nun wieder frei atmen konnte, loderte sie sogleich auf. Mit dieser Lampe entzündete der Schüler einige andere Öllampen, die an der gewölben Wand des Raumes auf einer schmalen, umlaufenden Brüstung aufgestellt waren. Nach und nach wurde der Raum, ein hoher, kreisrunder Saal, erleuchtet.
Zu erkennen waren nun steinerne Stufen in einer Größe, die eine Funktion als Sitzplatz nahelegte, zu sehen, die in einem Halbkreis um eine ebenfalls steinerne Kathedra am anderen Ende des Raumes angelegt waren.
Ein anderer Schüler schloß die Tür ein Stück weit, ließ jedoch einen Spalt zwischen den Türflügeln frei, durch den der wohltuend kühle Abendwind in den fensterlosen Raum gelangen konnte. Draußen zirpten Grillen.
Die Schüler hatten sich inzwischen ihrer Mäntel und Umhänge entledigt. Größtenteils waren es junge Menschen beider Geschlechter, aber auch einige Männer, die älter waren als Nikolaos. -
Einen Augenblick überlegte Penelope, wie sie ihn sonst nennen sollte. Mit Vornamen konnte sie ihn kaum ansprechen, sein voller Name war doch ein wenig lang vielleicht, und „werter Keryke“ klang irgendwie seltsam. Aber vielleicht umschiffte sie das einfach geschickt, und ließ die anrede weg, so es ging? Ja, das war wohl praktikabel.
Sie ging mit den anderen Menschen mit zu dem kleinen Pavillon und blieb davor etwas stehen. Ein klein wenig hatte sie ein mulmiges Gefühl, aber nun war sie bereits zu weit, um einen Rückzieher zu machen.
Die anderen Menschen gingen bereits hinein und entledigten sich ihrer Umhänge, setzten sich auf die Steintreppen. Penelope betrat mit als letzte den Raum uns suchte sich einen Platz nahe der Tür. Umhang hatte sie keinen, also gab es auch nichts, was sie ablegen müsste. Sie setzte sich auf den kühlen Stein und schaute sich die anderen Mithörer an. Sie glaubte nicht, dass sie irgendeinen davon kannte. Aber sie war schon beruhigt, dass sie nicht die einzige Frau in dieser Runde war.
Erwartungsvoll schaute sie zu Nikolaos hinüber. Dieser Ort, das Treffen, die Umstände, das alles gab der Sache doch einen sehr mysteriösen Hauch, und sie war nun wirklich gespannt auf das, was er mitzuteilen hatte. -
Als sich alle gesetzt hatten, nahm auch Nikolaos platz, nicht jedoch auf der Kathedra, sondern in den Reihen der Zuhörer.
"Der große Platon sagt, und ich will es nur kurz wiedergeben, sicher tue ich mit dieser unzureichenden Beschreibung ihm ein wenig Unrecht, sicher werden die Klugen von euch Makel daran finden, es gibt eine Welt der Stoffe als bloßes Abbild der Welt der Ideen, die wiederum aus der Welt der höchsten Ideen hervorgeht. Das stoffliche Abbild können wir sehen, fühlen, riechen, schmecken - vielleicht nur eines davon, vielleicht alles. Die Ideen können wir mit dem Verstand durchdringen. So entdecken wir Gesetze in der Natur, finden Gleichartigkeiten. Wir erkennen jedes Huhn als Huhn, obgleich alle Hühner unterschiedlicher Gestalt sind. Wenn ein Kind ein Huhn sieht, fragt, was es sei, die Amme sagt, ein Huhn, und es sieht wenig später ein weiteres Huhn mit einer anderen Farbe des Gefieders, so sagt das Kind: Ein Huhn!
Doch diese Ähnlichkeiten, die wir Ideen nennen möchten, sind nichtig. Wenn es auf der Welt keine Hühner mehr gibt, wer weiß denn, dass es Hühner gibt? Platon sagt, es gibt noch eine Erkenntnis über der der Ähnlichkeit des Huhnes. Denn jeder einfachen, sich in der stofflichen Welt abbildenden Idee liegt etwas zugrunde, dass höher ist und schwer ergründlich. Wie man dahin gelangt, es schauen zu können, werde ich nicht weiter ausführen." -
"Natürlich ist die Welt der Ideen nicht bloß von der Idee des Huhnes erfüllt. Es gibt kompliziertere Ideen, die zu ergründen die Gabe des Verstandes benötigt. Allein - die losgelöste eine Idee über allen anderen ist mit dem Verstand allein nicht zu begreifen."
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"Nicht nur, dass die stoffliche Welt nur vergänglich wäre. Platon sagt auch, die stoffliche Welt ist nicht."
"Ein Huhn, dass er weder ertasten, noch seinen Geruch wahrnehmen, noch gackern hören kann, ist für den Blinden nicht in der Welt der Abbilder anwesend. Gackert es, so ist das ganze Huhn für ihn ein Gackern. Riecht er es zudem, so ist das Huhn für ihn ein Gackern und ein Geruch. Hält er es in den Armen, so ist es ein warmer, größerer, sich bewegender Gegenstand."
"Wie können wir sicher wissen, dass wir Glücklichen, die wir sehen, hören, tasten, riechen und schmecken können, nicht andere Sinne entbehren, die uns die Welt der Abbilder erschließt?
Wenn wir nun die Welt der Abbilder nicht vollständig erkennen, wie sollen wir in der Lage sein, Ideen zu erkennen?"Nikolaos blickte der Reihe um den Anwesenden in die Gesicher.
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All diese Geheimniskrämerei für eine Diskussion über die Schriften Platos? Über die Existenz oder Nichtexistenz von Hühnern? Und darüber hatte sich Penelope mit Ánthimos gestritten? Einen Moment musste sich Penelope beherrschen, um nicht lachen zu müssen. Wenn sie ihm das nachher erzählte, der würde sich kugeln vor lachen.
Aber Penelope war zunächst einmal sehr beruhigt. Sie hatte sich im Geiste schon Verschwörungen ausgemalt, irgendwelche Geheimbünde oder verworrene Philosophien wie die der Christen. Aber das hier war nur eine harmlose, philosophische Diskussion, wie es bislang aussah. Dafür wäre die Geheimniskrämerei mit dem Zettel wirklich nicht nötig gewesen, und ebenso wenig die ermahnenden Worte im Rosengarten. Wer sollte sich schon davon in seinem Weltbild schwer erschüttert sehen? Das war eine Meinung, eine diskussionswürdige Meinung zwar, aber doch nur ein philosophischer Ansatz.
Sichtlich entspannter saß Penelope nun da. Von Plato hatte sie nicht genug Ahnung, um wirklich mitdiskutieren zu können, und ihre eigene Meinung dazu war wohl nicht besonders relevant. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Sollten ruhig die anderen Männer und Frauen dazu etwas sagen, wenn sie sich mit der Materie auskannten. Sie lauschte einfach schweigend, vielleicht lernte sie ja noch etwas Interessantes für sich und ihre Musik. -
"Wo ein Huhn ist, da kann, so denken wir, nicht gleichzeitig eine Kuh sein.", setzte Nikolaos wieder an. "So denken wir! Doch dabei sind wir blind."
Er legte wieder eine Pause ein. Aus einer Tasche zog er einen Apfel und hielt ihn den Zuhörern entgegen. Auf der den Zuhörern zugewandten Seite war ein Alpha eingeritzt.
"Was steht auf der Seite, die ihr nicht sehen könnt?", frug Nikolaos. Mit einer eleganten Handbewegung drehte er den Apfel um. Nun war ein Omega zu sehen. "Wo beginnt einer der unzählen Kreise der Rundung des Apfels?" Er ließ den Apfel kreisen.
"Wo das Alpha ist, ist auch das Omega, doch wir sehen nur eines davon."
"Ein Mensch, so denken wir, ist für den Geist das, was ein Atom, so wir die Lehre der Atomisten einmal für unsere Überlegungen annehmen wollen, für die Materie ist.
Im fernen Indien denken kluge Menschen, vor allem Priester, anders. Sie sagen: In jedem Menschen wohnt eine Vielzahl an Seelen!"
"Ein Mann, ein ehrbarer Bürger, erschlägt einen anderen Mann, auch einen ehrbaren Bürger. Wir lassen außer acht, warum er dies tat, nehmen aber an: Aus, wie wir meinen, niederen Beweggründen.
Für die, die das sehen und für die Richter, die über ihn urteilen, ist er ein Mörder. Für seine Kinder ist er ein Vater. Für sein Weib ein Mann. Für seine Eltern der Sohn."
"Was ist nun dieser Mann? Hat er, indem er zum Mörder wurde, aufgehört Vater, Ehemann, Sohn zu sein?"
"Gehen wir davon aus, die Seele sei unteilbar und aus einem Stück gegossen. Wo ein liebender Vater ist, kann kein Mörder sein, und umgekehrt.
Nun aber hat der Mann den anderen Mann heimlich erschlagen, niemand hat's gesehen. Der Mann kommt nach hause, seine Familie begrüßt ihn freudig. Gehen wir davon aus, dass das eigene Verbrechen dem Mann keine Qualen bereitet. Gehen wir davon aus, er vergißt es beinahe."
"Ist der Mann ein Mörder? Wo er niemanden mordet - sondern gemordet hat - und es niemand weiß, nicht einmal er selbst noch?"
Was ist mit seiner Seele? Hat er nun eine Mörderseele, da er gemordet hat? Hat sie sich gewissermaßen blutrot gefärbt?"Er sah die Zuschauer eindringlich an.
"Meine Antwort, und ihr könnt davon halten, was ihr wollt, ist: Im Geist des Mannes sind der Geist eines Mörders, der eines Vaters, der eines Ehemannes, der eines Sohnes vereint.
Es gibt also eine Mörderseele.
Nun möchte ich eine Annahme voranstellen: Von nichts kommt nichts.
Woher dann die Mörderseele?
Sie muss vorhanden gewesen sein, bevor er den anderen erschlug. Also werden manche Menschen als Mörder geboren, andere nicht?
Doch lange Jahre lebte dieser Mann, ohne ein Mörder geworden zu sein. Er wird vielleicht nie wieder töten.
Töten - es töten auch Männer im Krieg. Man nennt sie nicht Mörder, da sie ihre Polis und die Daheimgebliebenen verteidigen.
Doch töten sie! So wie auch unser Mörder tötete.
Daraus folge ich: In uns allen-"
Er blickte die Zuhörer eindringlich an.
"-steckt eine Mörderseele. Beim Einen regt sie sich, beim anderen nicht.
Geht man davon aus, dass alle Teil-Seelen ständig miteinander ringen, so hat in dem Moment, als jener Mann den anderen erschlug, die Mörderseele die Oberhand erhalten."Pause.
"Gehen wir zurück zu Platon und, wie ich zugeben muss, rupfen seine Werke etwas auseinander und nehmen uns die Fetzen, die wir brauchen, doch nicht in böser Absicht, sondern in der guten Absicht einer neuen Erkenntnis, die uns anfängliche Nachlässigkeit verzeihen wird:
Wie in einer Menschenseele viele Seelen sind, so ist vielleicht die Idee des Guten die Seele der Welt, die viele Ideen beinhaltet, auch die Idee des Mörders. Das, was uns verwerflich erscheint, hat seinen Platz im Kosmos und im Logos." -
Bedächtig lauschte Penelope den Ausführungen. Sie hatte noch nie über einen Philosophos diskutiert, erst recht nicht über einen wie Platon. Einige Dinge konnte sie also gut nachvollziehen, andere wiederum nicht. Was Nikolaos mit dem Huhn, der Kuh und dem Apfel mit seinen eingeritzten Zeichen wollte, war ihr beispielsweise nicht schlüssig klar. Den folgenden Teil aber verstand sie. Zumindest inhaltlich konnte sie allem folgen. Durch ihr Leben in Rhakotis wusste sie nur zu genau, dass viele Menschen mehr als eine Seite hatten, und es in den nobelsten Menschen eine dunkle Seite gab, ebenso wie einige Menschen, die man nur als Verbrecher benennen mochte, eine sanfte Art manchmal hatten. Von daher war dies nichts, was sie völlig aus dem Konzept brachte. Es gab manchmal nicht nur schwarz und weiß, in einigen Fällen gab es wirklich grau. Allerdings hatte sie keine Ahnung, worauf Nikolaos nun hinaus wollte.
Während der einsetzenden Pause, in der einige der anderen Zuhörer anfingen, mit dem Nachbarn zu murmeln und zu tuscheln, überlegte Penelope für sich allein, ob sie etwas sagen sollte. Sie hob sich nicht gerne aus der Masse heraus, zu viel schlechte Erfahrungen hatte sie gesammelt, wenn sie gesehen wurde. Unauffällig wie ein Mäuslein kam man in gefährlichen Gegenden besser durchs Leben. Aber auch sie hatte eine andere Seite, und die war Künstlerin. Und als Künstlerin war ihre Stimme klar und rein und gut hörbar, als sie sich an den Gymnasiarchos wandte.
“Aber was heißt das nun, möchte ich dich fragen? Auch wenn wir sagen können, das kein Mensch von Grunde auf schlecht oder von Grunde auf gut ist, sondern stets mehrere Seiten in sich trägt, mehrere Ideen, was machen wir mit diesem Wissen? Muss der, der seinen Nachbarn erschlug, nicht dennoch gestraft werden, auch wenn er ein liebender Vater und Ehemann ist? Verlangen die Götter nicht dennoch Gerechtigkeit?“
Penelope konnte bestimmt hunderte von Gedichten und Versen, die sich mit göttlichen Strafen an Sterblichen befassten, die auch nur eine oder vielleicht zwei Taten begangen hatten, die frevlerisch waren. Die ganzen guten taten waren auch da nicht relevant, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass ein Sisyphos so abgrundtief böse war, oder ein Poteus nur in böser Absicht gehandelt haben mochte. Und dennoch hatten beide ewig währende, grausame Strafen erhalten. Und niemand würde auf die Idee kommen und behaupten, die Götter hätten ihnen Unrecht getan. -
"Gewiss muss der Mann bestraft werden, denn sein Handeln ist der Ordnung der menschlichen Gesellschaft zuwider. Aber es ging mir weniger darum, als darum, dass es eine Ordnung jenseits der uns geläufigen gibt, die dieser widerspricht.", antwortete Nikolaos bedächtig.
"Die Götter strafen, doch Gerechtigkeit ist ihnen fremd. Denke nur daran, wie sie sich gegenseitig quälen und bekämpfen. Das, was uns als höchste Ordnung vorkommt, ist im Grunde nur die Ordnung, die dafür sorgt, dass es in unserem Winkel der Welt kein Durcheinander gibt. Die Ordnung, in der unsere kleine Ordnung aufgeht, ist gleichsam größer und umfassender wie in unserem Sinne widersprüchlich.
Wo wir bei den Göttern sind, möchte ich darlegen, was ein alter, weiser Mann, der einst auch ein Priester der Musen war, und nun vermutlich längst gestorben ist, mir erzählte:
Genauso, wie in uns Menschen viele Seelen wohnen, sind auch die Götter verschiedene Teile eines großen Ganzen.
Wir fangen im Kleinen bei den Göttern an:
Persephone, das Mädchen, bringt den Sommer, ist aber im anderem Teil des Jahres die Königin der Unterwelt, wennauch geraubt durch Hades, so doch schließlich ihrem Schicksal gefügig.
Es gibt Artemis, die Jungfrau und es gibt Aphrodite, die Liebesreiche.
Es gibt die Isis, die den Osiris, ihren geliebten Bruder, nachdem er zerrissen worden ist, zusammennäht, es gibt die Kybele, die ihren Geliebten Attis zerreißt.
Auch Dionysos wird zerrissen, gekocht, gegessen, und ersteht wieder auf.Es gibt viele Göttinnen. Betrachtet man sie näher, sind sie doch ein- und dieselbe. Jedes Volk hat seine Götter. Doch gleich, welchen Namen die Menschen ihnen geben, sind sie dieselben.
Wir finden Ähnlichkeiten zwischen der Zerreißenden und der Heilerin, wie wir sehen, dass ein und derselbe Mann Mörder und Vater ist."
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Dass die Götter in anderen Ländern teils neue Namen annahmen, war auch Penelope bekannt. Dionysos soll bis nach Indien gegangen sein, jenes ferne Land, das sonst nur Alexander der Große erforscht hatte. Und dass Hermes hier dem Thot gleichgestellt war, war auch kein Geheimnis. Es waren Mächte, die die Welt zusammenhielten, die Namen, unter welchen man sie anrief, waren nicht ganz so bedeutend. Zumindest war das Penelopes eigene, kleine Meinung dazu, die sie aber niemals laut ausgesprochen hätte.
“Natürlich sind auch die Götter ihrem Schicksal unterworfen, natürlich haben auch sie Schwächen, ebenso wie sie ihre Stärken haben. Aber ich würde nicht soweit gehen, zu sagen, sie seien nur verschiedene Teile eines großen Göttlichen. Selbst die Ägypter kennen zumindest zwei Prinzipien, das männliche und das weibliche. Wer mag schon sagen, dass dies ebenfalls nur zwei Teile eines Ganzen sind?
Doch zurück zu meiner eigentlichen Frage: Selbst wenn wir erkennen könnten, dass dies Wahrheit ist und Ordnung, unumstößlich und unwiderlegbar, was nützte uns das? Verlangt Wissen nicht, dass man es anwendet? Oder ist es um seiner Selbst willen bereits erstrebenswert?“
Penelope stellte diese Frage bewusst provokant. Sie lernte auch Dinge, die sie nicht anwenden konnte, oder deren Nützlichkeit nicht auf der Hand lag. Und doch hatte alles seinen Platz in ihrer Welt, und sie konnte sagen, wofür sie etwas lernte. Bei dieser Diskussion hier konnte sie das bislang noch nicht, und sie war doch recht praktisch veranlagt in manchen Dingen. Was nützte es, zu wissen, dass die Götter sich gegenseitig ergänzten, wenn man damit nichts tun konnte? Was nützte es, sich über die Existenz von Hühnern Gedanken zu machen, wenn einem der Magen knurrte? Was nützte es, zu sehen, dass ein Mann ein liebender Vater sein konnte, wenn er dennoch ein Mörder war? An all diesen Dingen konnte man durch bloßes Wissen nichts ändern, und erst die Tat machte einen Menschen wirklich zu einem edlen Wesen, oder eben nicht. -
Nikolaos lächelte.
"Zu den beiden Prinzipien komme ich sogleich. Für den alten Mann, der mir einen Teil dessen, was ich nun wiedergebe, erzählte, waren es Isis uns Sarapis, die die von dir erwähnten beiden Prinzipien verkörpern. Doch wie Isis sowohl die Schwester als auch die Geliebte als auch die, die den zerrissenen Leib näht, als auch unter einem anderem Namen die Zerreißende verkörpert, und noch vieles mehr und wie Sarapis Osiris ist und Horus, auf der anderen Seite letztendlich auch Seth ist, so ergänzen sich vielleicht auch Isis und Osiris zu einem Ganzen.
Im Beischlaf sind Mann und Frau vereint. Vereint ist für einen Moment, was einst vielleicht Eins war, wie Aristophanes im Symposion des Platon sagt, oder eher Platon den Aristophanes sagen läßt. Anhand der achtgliedrigen und doppelgesichtigen Kugelmenschen kann man den Zwang des zweifachen Prinzips widerlegen: In diesem Mythos gibt es drei Geschlechter. Letztendlich aber sind alle drei unterschiedliche Formen des menschlichen Prinzips, das sie alle drei teilen. Ob man Blei zu einem Stab formt oder zu einer Lamelle auswalzt, Blei bleibt es.
Doch zurück zu den Göttern. Wer es sagen mag? Ich sage es, und ich sage dazu, dass es eine Vermutung ist, wie alles, was wir Menschen sagen, da wir immer nur Teile des Ganzen schauen können und daraus versuchen, das Ganze uns vorzustellen.
Wir müssen dabei beachten, dass es unzählige Ebenen des Denkens gibt, und dass nicht immer die höheren Ebenen nützlich sind. Um der kleinen Ordnung willen muss der Mörder gerichtet werden, auch wenn er in der größeren Ordnung vielleicht einen Platz hat. Aber vielleicht ist auch der Widerspruch selbst zwischen der kleinen Ordnung und der großen Ordnung Teil der Ordnung. Vielleicht ist der Widerspruch nur ein Scheinbarer.Wie hilft uns diese Erkenntnis, ob sie nun wahr ist oder nicht? Sie hilft, den Mörder nicht des Mordes wegen zu verabscheuen, sondern nüchtern für richtig zu befinden, dass er um der kleinen Ordnung willen gerichtet wird. Es hilft uns - vielleicht - weniger einseitig zu denken.
Das sollte uns ein Denk-Prinzip sein, kein Handlungsprinzip jedoch, denn wenn man es folgerichtig auf alles Handeln anwendet, kann man nicht mehr handeln.
Die Khristianer wenden dieses Nicht-Verabscheuen auf ihr Handeln an und nur die Stärksten verzweifeln nicht daran. Führten Khristianer ein Gemeinwesen, so müssten sie entweder ihre Überzeugung auf das Denken beschränken und nicht auf das Handeln, oder aber das Gemeinwesen müsste verderben und in kurzer Zeit untergehen.
Was ich damit sagen will: Wer eine Entscheidung trifft, muss zumindest annehmen, dass sie richtig ist oder wenigstens richtig sein könnte, während er handelt. Doch dieser Annahme muss nicht das ganze Denken zu jeder Zeit verhaftet bleiben.
Viele Menschen bleiben ihren Annahmen verhaftet. Auch sie können - im Sinne der kleinen Ordnung - >richtige< Entscheidungen treffen. Liebhaber der Weisheit jedoch müssen wissen, dass ihre Annahmen Annahmen sind.
Gehen wir, in Bezug auf die Nützlichkeit, den umgekehrten Weg: Was nützt es, wenn man seine Seele mit Abscheu über einen Mörder vergiftet? Was nützt es, wenn man über die Waisen des hingerichteten Mörders seinen Hohn ausgießt und ihnen vorhält, sie würden sicher auch bald zu Mördern? Was nützt es, das Denken des >nützlichen< Handelns willen zu verderben? Was nützt es überhaupt, zu verabscheuen, zu hassen und zu lieben?
Einen Nutzen vielleicht haben diese Regungen: Sie können Antrieb sein für das Handeln. Doch man darf sich nicht auf sie verlassen. Denn gleich einem ungeschickten Ruderer führen sie den Menschen zu weit, wenn nicht der Verstand in die entgegengesetzte Richtung rudert. Wer nur verabscheuend, hassend oder liebend handelt, wird ehe er sich versieht zum Mörder.
Das ist es der Punkt, indem sich diese Theorien mit dem Leben scheiden. Epikur sagt dies mit den Gefühlsregungen, und ich stimme ihm zu. Man kann es nun dadurch ergänzen, indem man sagt: Jede Gefühlsregung ist nur ein Teil meiner selbst, nicht ich selbst. Gefühlsregungen haben in der großen Ordnung ihren Platz, doch wie der Mörder im Gemeinwesen gerichtet werden muss, müssen Gefühle um die kleine Ordnung der Beständigkeit der Seele bekämpft werden."
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