Dies ist die Subura. Insulae bestimmen hier das Bild, vollgestopft mit Strauchdieben, Tagelöhnern, Scharlatanen, Huren. Illegale Wettkämpfe finden des Nachts statt, bedeuten die rettende Gewinnchance, oder weitere Schulden. Und kaputte Menschen trifft man auf den Straßen. Gauklervolk, Bettler, Leute vom ärmsten Schlag versuchen hier über die Runden zu kommen. Manche würden sich sogar gegenseitig für das Abendessen an die Gurgel gehen. Nicht zu vergessen die Gaunerbanden, die in der Subura ihr Unwesen treiben. Die Cohortes Urbanae können nicht viel tun, scheint es. Schmuggel, Münzfälschung, illegales Glücksspiel sind an der Tagesordnung. Ganz zu schweigen von den Huren, die ihre Dienste aboten. Der Großteil von ihnen hatte sich - freiwillig oder nicht - unter den Schutz eines der vielen zwielichtigen Objekte gestellt, die für ihre Sicherheit garantierten. Oder wenigstens für die Sicherheit des Geldes, das die Frauen einbrachten. Doch gelegentlich kam es auch zu Streitigkeiten, wenn rivalisierende Schutzherren aneinander gerieten. Dies ist die Subura.
Mit einem kräftigen Tritt scheuchte Sermo einen schmierigen Köter aus seinem Weg. Ein kalter Wind pfiff ihm um die Ohren, weshalb er den Mantel enger um sich zog und seine Schritte noch einmal beschleunigte. Es war noch immer kalt und feucht, ein äußerst ekelhaftes Wetter. So waren an diesem Tag auch nur wenige Menschen auf der Straße unterwegs, denen Sermo begegnete. Er passierte die Lagerstatt eines Bettlers, der in schmutzige Decken eingerollt auf dem Boden schlief. Der Kerl musste vor Dreck nur so strotzen und stank vermutlich wie ein Schwein. Aber wenige Momente später würde Sermo ihn sowieso vergessen haben, denn ihn beschäftigten gegenwärtig ganz andere Fragen. Zum Beispiel was aus Lysandra werden würde, wenn Sermo ihr von Ostia aus keinen Schutz mehr bieten könnte? Und wollte er den kleinen Sven mitnehmen oder in Rom lassen? Und was sagte Diocles zu dieser ganzen Sache eigentlich? Hinzu kamen noch gewisse offene Fragen bezüglich des Rattenbeißens, die er seiner Lieblingslupa gerne stellen wollte.
Die nächste Kreuzung kam in Sicht. Der Quintilius bog nach links ab, legte circa zwei dutzend Fuß zurück und stand dann vor der Mietskaserne, in der Lysandra ihr Zimmer hatte. Sicheren Schrittes betrat er das Haus - er kannte sich hier immerhin schon gut aus, war öfter hier gewesen, als ihm lieb war - und stieg die Stufen empor. Vor Lysandras Kammer angekommen verharrte er kurz, lauschte angestrengt. Nein, sie war offenbar mit niemandem zugange. Sermo klopfte an und trat daraufhin einfach ein. "Salve meine Liebste," begrüßte er die Lupa, die auf ihrem Lager saß und Münzen - vermutlich die Tageseinnahmen - zählte. Überrascht schaute sie auf, denn Sermo war unangekündigt hier. "Salve. Welch Überraschung." Sie war aufgestanden und kam nun freudenstrahlend auf den Quintilier zu. Doch der streckte den Zeigefinger aus und stoppte sie eine Armlänge vor sich. Dann ging er vorwärts und schob sie zurück aufs Bett, wo sie sitzenblieb. Er jedoch blieb stehen.
"Wir müssen reden."
Lysandras ungläubiger Blick verriet ihre Verwirrung. "Aber...was?"
"Ich werde nach Ostia gehen, Lysandra. In die Stadtverwaltung, als Magistrat. Und das schon bald." Sein Blick traf sie, musterte sie eindringlich. "Das bedeutet, dass ich dir hier nicht mehr beistehen kann, falls es mal brenzlig wird.
"Sermo..."
"Es bedeutet, dass du hier entweder alleine klar kommen musst, oder mit mir kommst." Er war sich durchaus bewusst, wie gefährlich es hier für Lysandra werden konnte. Besonders wenn Agathon von Sermos Abwesenheit erfuhr.
"Ich...ich komme schon klar," entgegnete Lysandra trotzig und schaute hinaus durch das schmale Fenster. Ihr Gegenüber verdrehte genervt die Augen. Er hatte es ja geahnt. Störrische Gans.
"Hör mal. Ich halte es für klüger, wenn du mit nach Ostia kämst. Da gibt es auch Arbeit für dich. Und keinen Agathon, der dir ans Leder will."
Die junge Frau zog eine Schnute. "Wie lange werden wir weg sein?"
"Nun, es haben gerade erst Wahlen stattgefunden in Ostia. Es wird also eine Amtszeit dauern, bis ich dort kandidieren kann. Und dann werde ich eine Amtszeit lang Magistrat sein und daraufhin als Duumvir kandidieren. Also insgesamt zwei bis drei Jahre. Wir brechen ja nicht sofort auf."
"Ich will nicht weg aus Rom," protestierte die Lupa nun. "Zwei bis drei Jahre! Sermo, so lange soll ich meine Freundinnen hier nicht sehen? Und was ist mit Sven? Und Diocles, wird er auch mit dir gehen?"
"Sven wohnt von nun an dauerhaft in der Casa Quintilia. Und Diocles ist sein eigener Herr. Er kann gehen wohin er will."
Lysandra schlang die Arme um ihre Knie und schien zu überlegen. Die erwartete Antwort blieb nicht aus. "Ich bleibe in Rom."
Sermo schnaufte, beließ es jedoch dabei. "Gut. Dann sei es so. Ich werde Bursa bescheid geben, dass er ein Auge auf dich hat." Er ging zu dem klapprigen Tisch und setzte sich auf einen der beistehenden Hocker.
"Was hattest du mit den Cohortes Urbanae zu schaffen? Beim Rattenbeißen." Seine Augen verengten sich zu schlitzen. Die Erinnerung an jene Nacht erzeugte jedes Mal ein Schaudern auf seinem Rücken. Derweil starrte die Gefragte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Das hatte sie schon beinahe verdrängt gehabt. Bona dea, Sermo war ja sogar abgeführt worden!
"Ich war...also dieser Mann..." stotterte sie.
"Centurio Decimus. Ein Centurio der Cohortes Urbanae. Was hast du mit ihm zu schaffen?" Sermo wiederholte sich, diesmal klangen seine Worte noch schärfer. Das zeigte seine Wirkung, als die gesuchten Antworten endlich aus der Lupa herausbrachen.
"Er hat mir Geld geboten, wenn ich den anderen Mann verführe! Ich sollte ihn in eine Gasse locken! Ich wusste nicht, dass er Urbaner ist! Und dann bist du plötzlich mitten ins Getümmel gestürzt!" Fast anklagend keifte sie, wollte den Quintilier für die erduldete Unbill selbst verantwortlich machen. Doch ihre Worte wurden schnell versöhnlicher, beinahe entschuldigend. "Was haben sie mit dir gemacht in der Nacht? Wieso haben sie dich mitgenommen? Und was hattest du überhaupt dort zu suchen? Bist du ein Komplize des anderen Mannes?"
Sermo konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. "Ich bin kein Komplize jenes Verbrechers. Die Urbaner glaubten dies allerdings und haben mich verhört. Ich kann von Glück sagen, dass meine Erklärungen sie von meiner Unschuld überzeugten. Und was ich beim Rattenbeißen zu suchen hatte, geht dich überhaupt nichts an." Für ihn war klar: Lysandra war kein Spitzel, sondern nur unwissendes Werkzeug gewesen. Damit hatte er seine Antworten. Somit erhob er sich vom Hocker und wandte sich zum gehen.
"Gib auf dich acht, Lysandra," verabschiedete er sich und griff schon zur Türe, als er heftig umarmt wurde. "Du auch," keuchte die junge Griechin, während sie die Tränen zu unterdrücken versuchte. Sie war eine starke Frau, das wusste Sermo. Er würde sie wiedersehen. "Ich komme wieder," flüsterte er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, dann schob er sie von sich und öffnete die Türe. Kurz hielt er inne, warf noch einen Blick auf die schöne junge Frau, die ihn seit so vielen Jahren schon auf seinem Weg begleitete. Dann riss er sich los und verließ das Mietshaus, um den Weg zur Schola Atheniensis einzuschlagen. Er musste Informationen einholen, Dinge nachschlagen, sich ein Bild verschaffen. Ostia erwartete ihn und er würde es nicht zu lange warten lassen!