Niemand ist eine Insel

  • No man is an island, entire of itself;
    every man is a piece of the continent, a part of the main.
    If a clod be washed away by the sea, Europe is the less,
    as well as if a promontory were,
    as well as if a manor of thy friend's or of thine own were.
    Any man's death diminishes me because I am involved in mankind;
    and therefore never send to know for whom the bell tolls;
    it tolls for thee.
    John Donne 1572-1631


    An jenem Vormittag schickte die Wintersonne erste zaghafte Strahlen zur Erde, die durchaus als Vorboten für den herannahenden Frühling gedeutet werden konnten. Ein Zeichen dafür, das Brigid, die große strahlende Göttin schon bald die schwarze Morrigan vertreiben würde, so dass die Natur wieder erwachen und die ersten Lämmer wieder geboren werden konnten.
    Bridhe genoss das wärmende Sonnenlicht, als sie hinaus trat. Einen Moment lang blieb sie stehen und hob ihr Gesicht zur Sonne. Herrlich, diese Wärme! Das Leben hatte sie wieder.
    Der Junge hatte sich mit den Nachbarskindern zusammengetan, seinen Freunden. Sie spielten. Zufällig fiel sein Blick auf die Mutter. Er war ein wenig in Sorge, als seine Mutter das Haus verließ. Doch sie konnte ihn beruhigen. Sie wolle nur einige Besorgungen machen, sagte sie ihm und ging dann. Diarmuid sah ihr kurz nach, widmete sich dann wieder seinen Freunden und dem Spiel.


    Es war wohl kein Zufall gewesen, als sie ihre Richtung änderte und nicht in die überfüllten Straßen einbog, die alle irgendwann zum Mercatus Traiani führten. Vielmehr wandte sie sie sich einer Straße zu, die sie vor einigen Nächten schon einmal gegangen war. Sie führte sie in die Nähe des Flusses, dessen Geruch keinen Zweifel übrig ließ. Davon ließ sie sich aber nicht beirren.
    Unbeirrt führte sie ihr Weg zu diesem Platz, an dem sie vor wenigen Nächten zuvor gewesen war.
    Bei Tage sah das Ufer ganz anders aus, als im Morgengrau. Viel lebhafter und weniger gespenstisch. Die Böschung war nicht zu steil gewesen, so dass man gut hinunter ans Ufer steigen konnte. An dieser Stelle floss der Fluss langsam. Das war nicht nur ihr Glück gewesen, auch das des Urbaners, der sich mutig in die Fluten geworfen hatte, um sie zu retten.
    Gar nichts deutete mehr darauf hin, was hier wenige Nächte zuvor geschehen war. Alles erschien so friedlich und arglos. Nur in Bridhes Gedanken drehte sich noch alles um die Tat, die sie beinahe begangen hatte. Was war nur in sie gefahren, dass sie so verzweifelt gewesen war? So verzweifelt, dass sie selbst ihren Sohn zurück lassen wollte. Er war doch ihr Einziges! Das wertvollste, das sie besaß.
    In ihrer Verzweiflung hatte sie tatsächlich geglaubt, das Flüstern Midirs des Sidhefürsten zu hören und war ihm gefolgt: Vielschöne Frau, du Kleinod von Erinn, komm in mein Wunderland, du Wonnereiche, wo goldgelockt die Glücklichen wandeln! Aus sanfter Dämmerung dunkler Wimpern strahlen die Augen der Edlen dir Heil.
    Bridhe war zurückgekehrt, nicht nach Erínn, nicht an die Gestade ihrer Heimat. Sie war zu ihrem Sohn zurückgekehrt und hatte erkannt, dass sie so wenig ohne ihn sein konnte, wie er ohne sie. Doch mit dieser Erkenntnis war nicht auch ihre Sehnsucht besiegt worden. Diese würde sie immer mit sich tragen, gleich wo sie hin ging.
    Vorerst verharrter sie am Ufer des Flusses und stellte sich vor, dies wäre der Fluss, an dessen Ufer sie als Kind gespielt hatte.

    Sim-Off:

    Reserviert! :)

  • Selbst an den Saturnalien würde Phaeneas niemals in irgendwelche Bäder in Rom gehen, so wie er das in Mogontiacum gemacht hatte, denn ein Menschenauflauf im germanischen Verwaltungshauptsitz war etwas ganz anderes als Gleiches in der Urbs aeterna. Das Gedränge und laute Gerede der Leute wäre dem Bithynier auch das bestgefüllteste Wasserbecken nicht wert und – um eine Eigenheit seinerseits preiszugeben – er teilte nicht gern. Egal was es war, ob Wasser, Träumereien oder Menschen, er wollte sich auf etwas konzentrieren können und es nicht halb an andere abgeben müssen, die es mit ihrer hektischen Art dann meistens noch nicht einmal zu schätzen wussten.
    Aber es gab etwas in Rom, das war weitaus besser als eine Waschschüssel oder ein Brunnen (auch wenn es nicht so sauber war), und es war zweifelsohne Wasser, viel Wasser, das durch die Stadt floss. Andere Sklaven freuten sich darauf, von ihren Herrn zu Wagenrennen oder Gladiatorenkämpfen mitgenommen zu werden, aber Phaeneas konnte man mit so einem (verletzungs- und menschenlastigen) Spektakel nicht locken. Viel mehr beeindruckten ihn Wassermassen, so wie Flüsse, die sich fast unaufhaltsam ihren Weg bahnten, aus der Ferne kamen, in die Ferne gingen, scheinbar unendlich, so als wüssten nur sie alleine, wohin ihr Weg sie brachte. Ein Meer funktionierte da wieder ein bisschen anders.
    Jedenfalls war dieses Etwas geradezu dazu ausersehen, um Phaeneas anzuziehen wie das Licht die Motten, um einen Blick darauf zu werfen und darin etwas zu finden, was sein sonstiges Leben meist nicht bieten konnte. Weil es etwas war, was sich nicht in wenigen Worten und Sätzen benennen ließ, nicht fassbar war und erst recht nicht nützte. Es war wie aus einem Fenster zu schauen, man konnte das sehen, was vor einem lag, oder aber auch hinter das platte Gemälde und auf etwas wesentlich Tieferes blicken.
    Außergewöhnlich ruhig waren seine Schritte heute, als er über Roms Straßen und Plätze ging, die verschiedenen Tuniken der Leute wie bunte Lichtflecken vor Augen. Seine eigene war schneeweiß. Geduldig ließ er sich vom Menschenfluss schieben, versuchte nicht schneller als die Strömung zu sein, denn auch wenn er ein genaues Ziel hatte, war es doch nicht wirklich etwas, wo man ankam, sondern immer nur etwas, was einen weiterführte.


    Vor ihm tauchte der Tiber auf. Geradewegs zog es ihn nun nur noch auf das Wasser zu, aber es ließ ihn langsamer werden, als das Ufer sich näherte.
    Was ihn aber erst einmal gänzlich hemmte, näher an den Fluss heranzutreten, war der Anblick einer jungen Frau, die ein paar Meter weiter genau das tat, was er auch vorgehabt hatte, nämlich den Tiber betrachtete. Nach dem belebten Stadttreiben sah diese einzelne Gestalt vor dem Fluss ziemlich einsam aus, fast zerbrechlich wirkte sie neben dem tiefen Wasser, obwohl sie für eine Frau sehr groß war.
    Sie passte perfekt dorthin, als hätte jemand Phaeneas‘ Seele abgebildet, ihr dunkles Haar, die Ruhe, die auf allem lastete, als wäre alles Leben dort erstarrt, am Ufer des Tiber.

  • Ein leichter Wind strich durch ihr Haar. Sie schloss ihre Augen, als sie feststellen musste, dass ihre Imagination nicht ausreichte, um wenigstens für kurze Zeit das Gefühl zu haben, daheim zu sein. Aber auch mit geschlossenen Augen, so sehr sie sich auch anstrengte, gelang es ihr nicht, weil das Drumherum einfach nicht passen wollte. Die frische Brise des Meeres musste dem Gestank der Kloake weichen und die Ruhe des dahinplätschernden Flusses die allenthalben durch das Rufen der Möwen ergänzt wurde musste dem permanenten Lärm der Großstadt Platz machten. Dies war nicht die Boínne und auch das Meer war fern mit seinen Dünen, dem langen einsamen Strand. Wäre sie doch nur eines der Wasserwesen...
    Nein, nein, ihre Gedanken schweiften wieder ab, nahezu bis dahin wo es gefährlich wurde. Diesmal würde kein mutiger Urbaner zufällig zur Stelle sein! Besser war es, alles hinter sich zu lassen und tapfer sich dem zu stellen, was vor einem lag. Die Liebe zu ihrem Sohn hatte sich letztlich als stärker erwiesen. Sie hatte eine Aufgabe und es wäre feige gewesen, sich davor zu verschließen.
    Bridhe entschloss sich, diesen Ort zu verlassen, der ihr letztendlich nicht das bieten konnte, wonach sie sich sehnte und der ihr das Bewusstsein über ihren Verlust auf so sarkastische Weise vor Augen hielt. Vorsichtig, damit sie nicht doch noch ins Wasser fiel, suchte sie nach einem geeigneten Pfad, der sie wieder die Böschung hinaufführen sollte. Doch dann erstarrte sie, beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren, es gelang ihr aber, Halt zu finden. Sie war nicht allein gewesen. Wie lange dieser Mann schon da war und sie beobachtet hatte, konnte sie nicht sagen. Doch die Tatsache dass er da war, beunruhigte sie etwas. Sie blieb stehen und nun betrachtete sie ihn ihrerseits. Je länger sie das tat, gelangte sie zu der Überzeugung, dass er gar nicht so gefährlich aussah.
    "Salve!", sagte sie zögerlich, nichtsahnend, dass dieser Mann und sie womöglich mehr mehr miteinander gemein hatten, als nur Bewohner der glweichen Stadt zu sein.

  • Ihr verwunschener Anblick schlug Phaeneas in seinen Bann, hielt ihn unbewegt an Ort und Stelle und hielt seine Augen fest – fast so als wäre sie Wasser. Menschgewordenes Wasser. Ja, nur Wasser faszinierte ihn sonst so oder die Bilder, die er sah, wenn er die Augen schloss – oder zumindest die inneren Augen. Andere würden wohl sagen, sie sähe aus, wie aus einem Traum, wie Teil eines seiner Träume, aber er träumte nachts fast nie etwas (zu schlafen war für ihn wie in tiefe, gedankenlose Finsternis zu sinken) und noch weniger etwas schönes. Mehr einem Tagtraum kam sie gleich, auch wenn dem Bithynier klar war, dass es wohl kaum ein Kompliment sein konnte, denn die Landschaften seiner Tagträumereien waren meist düster und wüst und leer, wenn auch von schwachem, dumpfem Grün durchzogen, mit Bäumen und Flüssen, mit viel Himmel und einer Sonne, die nur leicht durch die Wolkendecke zu scheinen schaffte. So wie heute, nur dass sie an diesem Tag etwas Wärme mit sich brachte. In seinen Träumereien fühlte er nie etwas, nicht das Moos unter seinen Füßen, noch den Nebel, durch den er ging. Es war genauso materielose Fantasie wie sein Körper, der in diesen Welten nur aus Luft bestand, zusammenhängendem Nichts.
    Auch wenn Phaeneas zugeben musste, dass er die fühlbare Sonne mochte, in Germania hatte sie sich nur so kurz und nur so wenig durchsetzen können und es hatte ihm gefehlt. Schließlich war er ein echter Südländer. Wirklichkeit und Traum waren ungefähr so wie Theorie und Praxis, unvereinbar.
    Plötzlich kam Bewegung in die junge Frau und ihre suchenden Augen trafen den Sklaven.
    Nachdem er zuerst nur ihren Rücken und sie ein bisschen von der Seite gesehen hatte, wandte sie ihm nun ihr blasses, zartes Gesicht zu. Ihre Augen hielten den fast schwarzen des Bithyniers stand, eine undefinierbare Kraft sprach aus den ihren, auch dass sie da schlicht nur stand, hatte etwas von Festigkeit. Phaeneas erwiderte ihre Betrachtung nur mit ausdruckslosem Gesicht – denn obwohl all das sehr gemächlich ablief, ging es ihm doch zu schnell, um zu reagieren.
    „Salve“, erwiderte er mit vergleichbar wenig Enthusiasmus, der Überraschung wegen. „Ist ... ist alles in Ordnung?“ Ihr vorübergehendes Schwanken war sogar für Phaeneas offensichtlich gewesen, der sonst alles andere als der war, der sich zu spontaner Hilfsbereitschaft entschloss geschweige denn sich für den Zustand fremder Leute interessierte. Aber hier keine Nachfrage zu stellen, wäre jeglichen zwischenmenschlichen Umgangsformen zuwidergelaufen, die sogar der nicht sonderlich gesellige Bithynier anerkannte, wenn jemand so offensichtlich unmittelbar vor den eigenen Augen, wenige Schritte entfernt, fast fiel, dann verlangte die reine Höflichkeit, wenigstens verbal Unterstützung zu bieten. Seine Erkundigung konnte er sich also mit Höflichkeit erklären und doch befand Phaeneas, dass sie Teil seines tiberinischen Seelenbildes war, einer unwirklichen Wirklichkeit, und als solches war er der Ansicht, auch einige Worte mit ihr wechseln zu können

  • Ihr starrer Blick war voller mistrauen gegenüber diesem Fremden, der ihren Gruß erwiderte. Abwartend, beobachtend verharrte sie an einer Stelle, darauf bedacht, sich kaum zu bewegen, als könne ihr dadurch etwas entgehen.
    "Ja äh, alles in Ordnung!" Die Antwort kam mit einiger Verzögerung, da die Frage mit eben dieser Verzögerung von Bridhe aufgenommen wurde. Wieso interessierte ein Fremder, wie ihr Befinden war? Warum hatte Serapio sie aus dem Wasser gezogen? Aus den gleichen Beweggründen! Weil es Menschen gab, die den Mut hatten, über den Tellerrand hinaus zu blicken und daberi erkannten, dass sie nicht allein auf der Welt waren. "Danke!", warf sie noch hinterher. Dann trat wieder Stille ein. Nur das plätschern des Flusses belebte die Szenerie. Die Gestalt des Mannes verriet der Hibernerin nur wenig, mit wen sie es hier zu tun hatte, und welches Ansinnen er hatte. Weshalb war er hier? Weswegen war sie hier? Es wohl sehr unwahrscheinlich, dass er versucht hatte, an exakt der gleichen Stelle seinem Leben ein Ende zu setzen und dabei gescheitert war.
    "Ist bei dir auch alles in Ordnung?", fragte sie nach einer Bedenkpause, in der sie kampfhaft nachdachte, was sie noch sagen konnte, um nicht ein zu großes Vakuum entstehen zu lassen.
    Endlich löste sie ihren Blick von ihm, um wieder in die Richtung des Flusses zu schauen. Einige Möwen kreischten über ihnen, was kein Zweifel offen ließ, dass das Meer nicht in unerreichbarer Ferne war. Der Ruf der Vögel hatte etwas Vertrautes für Bridhe. Wäre doch nur dieser Fluss ein anderer! Wäre doch dieses Land ein anderes! Die Sehnsucht schlich auf leisen Sohlen, darauf bedacht, wieder Besitz von der Hibernerin zu ergreifen. Es gab nun nur zwei Möglichkeiten: sich der Sehnsucht zu ergeben oder davor davonzulaufen.
    Aber davonlaufen ging nicht. Irgendetwas hielt sie fest. Sie konnte sich nicht erklären, was. Es war einfach da. Vielleicht war es ja der Fremde...
    "Weshalb bist du hier?" Einen Grund dafür musste es doch geben. Man tat nichts ohne Absicht. Selbst Bridhes Dasein hatte einen Grund.

  • Misstrauen. Aus ihren Augen sprach wirklich Misstrauen. Herrje – fast musste Phaeneas schmunzeln. Er sah so oft andere Leute argwöhnisch an, aber er selbst wurde nur selten so betrachtet. Die meisten hatten es nicht nötig. Denn nur scheue Wesen bedachten andere mit misstrauischen Blicken. Solche, die allein auf der Welt waren und dementsprechend hilflos. Wie ein von Jägern umkreistes Tier stand die Fremde da, jederzeit bereit weglaufen zu können – oder in anderer Weise reagieren zu können. Kurz gesagt, wie ein Sklave, der den plötzlichen Launen seines Herrn ausgesetzt war. Vor denen es nur den Schutz wacher Sinne gab.
    Sie musste also ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie Phaeneas – ganz gleich, ob als Sklavin oder nicht.
    Wieder reagierte sie wie eine Unfreie. Natürlich, im Notfall – spontan gefragt – war immer alles in Ordnung. Aber wer weiß – vielleicht ging es ihr ja wirklich super und sie war im Grunde genommen in bester Laune. Der Gedanke gefiel dem Bithynier nicht, denn eine rundum zufriedene, glückliche Frau passte nicht in sein Seelenbild.
    Längst hatte er sein Gewicht auf den linken Fuß verlagert. Nachdenklich sah er die Fremde noch an. Sie sah aus wie bestellt und nicht abgeholt - genauso unentschlossen und ... verloren wie Phaeneas häufig.
    Ihre – für den Sklaven überraschende – Frage irritierte ihn. Logisch bedacht war es die Erkundigung, die sich aus seiner folgerte, aber er rechnete – ebenfalls – nie damit, dass sich jemand danach erkundigen könnte, wie es ihm ging. Und vor allem: Wie ging es ihm eigentlich? Er empfand es als ziemlich schwer, darauf eine Antwort zu finden.
    Als die fremde Frau ihre Augen dem Fluss zuwandte, folgte Phaeneas ihrem Blick. Hm, die Möwen gaben dem Ganzen sogar etwas lebendiges ... und dazu noch die Sonne darüber ... Wenigstens die Geräuschkulisse blieb so ruhig und konstant, wie der Bithynier es sich von Wasser erhoffte.
    „Ich denke ja“, erwiderte er, genauso wie sie, verzögert und das noch mit der bei ihm zu erwartenden Einschränkung: „Soweit alles in Ordnung sein kann.“ Nachwievor war sein Gesicht unbewegt, nur die etwas groß wirkenden schwarzen Augen waren aufmerksam auf die ihm Begegnete gerichtet. Dass er genauso verloren in der Landschaft herumstand wie sie, konnte er nicht vermeiden – das begleitete ihn, wohin er ging.
    Was sie weiter wissen wollte, war berechtigt zu fragen. Phaeneas machte eine Kopfbewegung in Richtung Tiber. „Wegen des Tibers.“ Mit völliger Selbstverständlichkeit sagte er das. „Noch nie war ich an einem Ort, wo es ein Gewässer gab, ohne dass es mich nicht früher oder später zu sich gerufen hätte“, führte er langsam aus und wurde dann eine kleine Spur leiser: „Wasser ist ganz anders als Land. Nicht so fest einem Ort zugehörig und dementsprechend nicht an ihn gebunden.“ Das erzählte er ihr, weil es zum einen nichts direkt Gefährliches, also etwas Verantwortbares war und zum anderen durfte sie, die sie so perfekt in diese Szene passte, so etwas erfahren. Es war ihr Sonderprivileg. Das hatte sie einfach nur dafür, was sie war, und dafür, dass sie da war.
    „Du bist auch deswegen hier, nicht wahr? Wegen des Flusses.“ ‚Oder bist du nur beim Einkaufen kurz vorbeigekommen?‘, ergänzte eine sarkastische Stimme in seinem Hinterkopf. Denn das war die Antwort, die Phaeneas nicht hören wollte. Sein Blick ging in die Ferne, über den Fluss hinaus, an ihm vorbei, über ihn hinüber, durch ihn hindurch. Er war gerade ganz der Sehnsucht ergeben. Und es fühlte sich gut an. Angenehm wie sonst nie. Und nichts.

  • Es war auf eine seltsame Weise betörend, dem Fremden zuzuhören. Was er sagte, klang wie eine Liebeserklärung an das Wasser. Das gefiel Bridhe. Ihr Misstrauen ihm gegenüber schwand. Dieser Ort, an dem sie noch vor einigen Tagen den Tod zu finden hoffte, mit dem sie nur Kälte und Dunkelheit verbunden hatte, sie sah ihn nun mit ganz anderen Augen. Nicht zuletzt weil sich an diesem Tag die Sonne dazu entschieden hatte, sich ein wenig zu zeigen und mit jeder Stunde, die näher an die Mittagszeite heranrückte, an Stärke gewann.
    Als er sie nach dem Grund fragte, weshalb sie hier war, wollte sie erst ausweichen. Um den wahren Grund, dem sie bislang niemandem offenbart hatte, auch vor ihm zu verbergen, suchte sie nach einer Ausrede. Etwa der, dass sie eigentlich beim Einkaufen war und dann Lust verspürte, zum Fluss zu gehen. Aber dann erschien ihr das als falsch, ihm die Wahrheit vorzuenthalten, da es ihr so aufrichtig erschien, wie er mit ihr redete. Nur selten sprach Bridhe mit Fremden, nur wenn sie gezwungen war, mit ihnen zu sprechen.
    "Ja, wegen des Flusses bin ich hier." Bridhe sah noch einmal zu den kreischenden Möwen empor, bevor sie sich endgültig entschloss, weiter zu sprechen.
    "Ich wollte, dass der Fluss mich nach Hause trägt. Aber ich bin wieder an seinem Ufer gestrandet." Dies war mehr, als sie je einem anderem Menschen anvertraut hatte. Vielleicht gerades deshalb, weil er ein Fremder für sie war, den sie wahrscheinlich niemals wieder treffen würde.
    "Warst du schon mal am Meer?", fragte sie, ganz aus dem Zusammenhang heraus. Wenn er Wasser mochte, dann musste er doch genauso auch das Meer lieben. Die Hibernierin hatte bisher kaum einen Menschen getroffen, der ihre Sehnsucht nach dem Meer teilte. Für viele war das Meer bedrohlich und bedeutete Tod und Leid. Bridhe jedoch hatte das Meer niemals als Feind betrachtet. Es spendete Leben und hatte ihre Familie ernährt, jeden Tag.

  • Wieder kam ihre Antwort etwas zeitversetzt, so als würden im Kopf der Fremden ganz andere, viel Aufmerksamkeit erfordernde Dinge ablaufen. Ihm waren bedachte Menschen lieber als solche, die einfach drauflosredeten ohne zu wissen was. Außerdem ... war oft der einzige Weg, um in dieser Welt Schönes zu sehen, Schönheit im Geiste zu erschaffen. Und in dieser Hinsicht war Gedankenlosigkeit ein klarer Nachteil.
    Leicht hoben sich Phaeneas‘ Mundwinkel, aufgrund der Bestätigung seines Verdachtes – oder eher seiner Hoffnung – von ihrer Seite. Natürlich, wegen etwas anderem konnte ein solches Wesen auch gar nicht in so eine Umgebung kommen. Was sie dann sagte, ließ Erstaunen auf seinem Gesicht entstehen und ... Bewunderung. Ja, eine Spur bewundernd sah der bithynische Sklave die keltisch wirkende Frau vor sich an.
    Nach Hause ... Es klang aus ihrem Mund so wunderschön, als wäre es ein herer, ferner Ort, an den man sich nur sehnen konnte ... als gäbe es so etwas auch für ihn ... Und auch wenn ihre Schilderung des Ausgangs ihres Unternehmens den Tiber wie eine Fessel, eine lästige Kette erscheinen ließ, verstand sie es dennoch, diese wunderschöne Sprache beizubehalten. Sie hatte es wirklich gewagt ...
    „Und du bist einfach so losgeschwommen? Du bist einfach so ins Wasser gestiegen?“ Neugierig, ehrfürchtig, ein klein wenig mit Aufregung in der Stimme und doch nachwievor so ruhig und gelassen, unaufdringlich erfragte er dies von ihr.
    Was es wohl gewesen war, das sie wieder zurückgebracht hatte?
    Ganz aus dem Zusammengang gerissen befand der Bithynier die Erkundigung nach dem Meer auch nicht, es war ganz und gar die gleiche Thematik. „Ja, manchmal hatte ich durch meine Herrschaften schon die Gelegenheit dazu, ans Meer zu kommen. Wann immer es mir möglich war, bin ich dorthin gegangen.“

  • Losgeschwommen... Wäre das nur so einfach gewesen! Diese kindlich anmutende Frage barg für sie ihre ganz eigenen Erinnerungen, an die Zeit als sie selbst noch ein Kind gewesen war, kurz vor dem Übergang ins Erwachsenenalter. Damals war ihre Mutter gestorben. So gerne wäre sie ihr gefolgt, nach Tír na n´Og. In ihrer kindlichen Fantasie hatte sie geglaubt, es ließe sich einfach so einrichten, ihr auf die Insel der Glückseligkeit zu folgen, indem man einfach losschwamm. Der Gedanke an sich klang sehr reizvoll. Sie war davon wie besessen gewesen, bis ihr Vater sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte. Letztendlich scheiterte es an dem Unvermögen der Menschen, weil sie zu wenig Ausdauer, Stärke und Zuversicht besaßen.
    "Nein, ich ließ mich einfach treiben. Wie ein Blatt auf dem Wasser. Einfach so..., ja.", gab sie als Antwort zurück. Irrte sie sich, oder sprach da wirklich so etwas wie Bewunderung aus dem Fremden? Serapio hatte für sie keine Bewunderung übrig gehabt, nachdem er sie gerettet hatte. Vielleicht lag seine Bewunderung in dem begründet, weil Serapios Voraussetzungen ganz andere waren, wie sie der Fremde mitbrachte. Die Hibernierin konnte den weiteren Worten des Fremden deutlich entnehmen, dass er kein freier Mann war. Er sprach von seinen Herrschaften, als wäre es ein ganz normaler Teil seiner selbst, so wie es Bridhe schon oft erlebt hatte. Ihr war es stets schwer gefallen so zu reden, Besitz eines anderen zu sein und diesem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.
    "Du bist ein Sklave, nicht wahr?" In ihrer Stimme schwang Mitgefühl mit, so wie sie es jedem entgegenbrachte, der diesem Schicksal erlegen war. Auch wenn sie es damals mit ihrem Herrn recht gut getroffen hatte, gab es ihrer Meinung nach nichts, was man daran hätte beschönigen können. Man hatte ihr, Bridhe, Gewalt an getan, als man sie fortriss von ihrer Insel, ihrer Familie, ja ihres gesamten Lebens. Entwurzelt und der Freiheit beraubt, hatte man sie an weit entfernte Gestade gebracht, wo sie sich anfangs wie ein Fremdkörper gefühlt hatte. Und selbst heute, Jahre später, ging es ihr manchmal noch immer so, als sei sie ein Fremdkörper, der sich nur schwer anpassen ließ.
    Wie mochte sich Pheneas in seiner Rolle fühlen? War das Bedauern, das sie ihm entgegenbrachte etwas wohltuendes oder empfand er es als beleidigend, weil er glaubte, sie wolle sich über ihn lustig machen? Bridhe war unsicher geworden. Verletzen wollte sie ihn nicht, wo er doch ein Gleichgesinnter war. Einer der das Wasser liebte, und das Meer. Das Meer...

  • Sich treiben lassen, sich vertrauensvoll dem Fluss übergeben, einfach so ... Träumen ließ die Schilderung der Fremden Phaeneas, als hätte sie ausgesprochen, wonach er sich immer gesehnt hatte. So einfach, so simpel klang ihre Beschreibung, als hätte jeder Mensch an jedem Tag seines Lebens die Möglichkeit, zu einem Blatt auf dem Wasser zu werden. Natürlich wusste der Bithynier, dass es nicht so problemlos ging. Bei Weitem nicht jeder hatte diese Möglichkeit.
    Fasziniert, wie verzaubert sah Phaeneas sie an, als würde sie ihm die Weisheit der Welt persönlich verkünden. Und genau so, als würde sie ihm – vielleicht – gleich ein großes Geheimnis anvertrauen, fragte er weiter: „Wie hat es sich angefühlt? Sich dem Fluss zu überlassen?“ Nicht dass er sich das nicht selbst in seiner eigenen Phantasie ausmalen konnte (sehr idealisiert natürlich). Doch er wollte es hören, aus dem Munde dieser Frau hier, die es selbst am eigenen Leib erlebt hatte. Erfahrungsbericht sozusagen.
    Was sie weiter sagte, gehörte völlig selbstverständlich zum Alltag des bithynischen Sklaven, es war eine ganz gewöhnliche Erkundigung, auf die hin man sich immer wieder mit etwas vollkommen Selbstverständlichem identifizierte, es war manchmal fast wie ein festes Ritual – oder einfach eine Umgangsform, mit der man sich selbst als einer Gruppe zugehörig bezeichnete und von anderen zugeordnet werden konnte. Meistens war es dann auch noch der perfekte Einstieg in ein zwangloses Gespräch, ohne sich groß ein bedeutendes Thema zurechtlegen zu müssen.
    Doch die Art, wie sie es sagte, ließ sofort Argwohn auf seinem Gesicht erscheinen. Denn zum einen waren Menschen, die so sprachen, aus verschiedenen Gründen mit Vorsicht zu genießen. Und zum anderen – aber das war der wesentlich unbedeutendere Teil – befand der Sklave, Mitleid kein bisschen nötig zu haben, und wer auch immer sich dazu herabließ, ebensolches mit ihm zu haben, musste zukünftig mit Missachtung in Phaeneas‘ Innerem rechnen.
    „Ja, das bin ich“, erwiderte er fest. Seine Stimme war merklich kühler geworden. Jegliche Ehrfurcht war vorübergehend daraus verschwunden. Und mit einem sehr aufmerksamen Geist – oder viel Phantasie – konnte man vielleicht den ironischen Anklang aus seiner Folgerung heraushören: „Dann bist du keine Unfreie?“

  • Bridhe fühlte sich geschmeichelt, Faszination bei ihrem Gegenüber ausgelöst zu haben. Es gab nur sehr wenig Menschen, die von diesem Ereignis wussten. Eigentlich nur zwei, er und der Tribun, der sie gerettet hatte. Der Tribun hatte sie verurteilt für ihre Tat, er jedoch bewunderte sie dafür.
    "Das Wasser war anfangs sehr kalt. Aber mir hat es nichts ausgemacht. Ich wollte es einfach, verstehst du? Die Strömung hat mich dann einfach mitgenommen. Es war, als rufe mich eine Stimme, derer ich mich nicht entziehen konnte. Aber ich wollte mich ihr auch nicht entziehen. Ich wollte einfach nur wieder zurück. Ich habe tatsächlich geglaubt, so wieder nach Hause zu kommen. Du hältst mich jetzt bestimmt für verrückt!" Sie wollte sich nichts vormachen, auch wenn er fasziniert von ihr war, ihr Versuch sich das Leben zu nehmen, hatte rein gar nichts mit Faszination zu tun, es war lediglich ein Versuch gewesen, dieses Leben abzustreifen. Durch ihre Rettung war ihr Leben verlängert worden. Was sie daraus machen würde und wie sie diese Chance nutzen würde blieb ihr überlassen. Den einzigen Halt, den sie noch hatte, war ihr Sohn.
    Ihr fiel die plötzliche Veränderung im Gesicht des Fremden auf. Die Faszination war verschwunden. Es war Argwohn, der nun vorherrschte. Auch der Ton seiner Stimme war anders. So hart, so abweisend. Sie war verwirrt. Wie immer suchte sie zuerst die Schuld bei sich selbst. Was hatte sie nur getan oder gesagt, um einen solchen Stimmungsumschwung bei ihm zu verursachen oder ihn gar zu verletzen?
    Dann die Ironie, die in seiner Gegenfrage lag. Auch sie spürte Bridhe ganz deutlich. Und jetzt verstand sie auch endlich, womit sie ihn beleidigt hatte. Es war ihr Mitgefühl, dass sie ihm hatte geben wollen, welches er aber ablehnte. Für sie, die sie die Jahre der Sklaverei als das Schlimmste, was ihr je passiert war, ansah, war es schwer vorstellbar, dass es Menschen gab, die es als Selbstverständlichkeit ansahen, Sklaven zu sein. Solche hatte es auch in der Villa Flavia gegeben. Menschen, die als Sklaven geboren worden waren. Youenn zum Beispiel. Er war durch und durch Sklave gewesen und hätte sich auch kein anderes Leben vorstellen können.
    "Bitte verzeih mir, ich wollte dich nicht beleidigen! Nur..., ich weiß wie es ist. Ich kam auch nicht aus freien Stücken nach Rom. Ich weiß, wie es ist... der Verlust der Freiheit!"

  • Gebannt hafteten seine Augen an ihr, wie immer, wenn man ihm eine für ihn spannende Information in Aussicht gestellt hatte. Jedes Wort aus dem Mund der Fremden saugte Phaeneas auf und konservierte es – ganz so, als würde es einen Unterschied machen. Kälte, ja, das konnte er sich gut vorstellen, sich die Glieder allmählich davon lähmen zu lassen und durch dieses Gefühl zu etwas anderem zu gehen. Durch die Kälte ans Ziel. Ja, sowas machte einem in so einem Moment nichts mehr aus. Phaeneas nickte, als sie ihn fragte, ob er verstand. Sich einfach nur treiben lassen ... ja, und dabei erst recht das mühselige, sinnlose Denken aufgeben, wie mit einer Welle alles Irdische davonschwimmen lassen.
    Als sie erzählte, hörte der Bithynier die Stimme, ja, er hörte sie, ganz deutlich. Die, die ihn schon sein ganzes Leben lang rief. Oh, ihr zu folgen ... Welch kostbare Sünde ...
    Allein davon zu träumen, das war einem Sklaven erlaubt, aber ins Wasser zu gehen oder einen Strick zu besorgen oder sich zu Tode zu hungern, das war genauso schändlich wie Weglaufen.
    Nun ja, zurück zu rein theoretischen Betrachtungen dieser Sache. Verrückt war die Vorstellung ja schon, über die Strömung des Tibers an einen ganz bestimmten Ort zukommen. „Wolltest du denn wirklich nach Hause ... oder an einen“ – kurz überlegte er, „ ... anderen Ort? Wo bist du eigentlich zuhause?“, schob er dann noch hinterher.
    Menschen, die einen mit Mitgefühl nach seinem sozialen Status fragten, waren entweder Schleimer, die sich mit geheucheltem „Verständnis“ lieb Kind machen wollten, nur um einen für die eigenen Zwecke zu benutzen, oder – und das war noch viel schlimmer – gefühlsduselige Weltverbesserer (sie glaubten zumindest, die Welt würde dadurch besser werden), die aus irgendeinem Grund die Rechte rechtmäßiger Sklavenbesitzer beschnitten sehen wollten und Unfreien wie Phaeneas ihr Leben, ihre Haltung und ihre Lebensphilosophie schlecht redeten. Und diese letzteren Leute sprachen wirr von Freiheit, von körperlicher und seelischer Unversehrtheit und dergleichen ähnlichen Dingen, mit denen der Bithynier nichts zu schaffen haben wollte. Nein, solche Menschen konnten wirklich zu lästig und unangenehm sein.
    Fast hätte er der Fremden – innerlich – vorgeworfen, die Stimmung zerstört zu haben, aber nein, das tat sie nicht. Denn auch wie sie ihr Verhalten begründete, traf in ihm eine dafür empfängliche Stelle.
    Ob er ihr verzieh, dazu sagte er nichts. Vor allem vergaß er so etwas nie.
    „Wie meine Eltern ... Meine Eltern wurden auch hierhergebracht ...“, stellte er, eine kleine Spur leiser, nachdenklich, fest.


    Sim-Off:

    Edit: Tippfehler

  • Dieses angenehme Gefühl, wenn einem Bewunderung entgegengebracht wird, es war dazu verdammt, nicht lange anzuhalten. Denn das Idyll, welches Bridhe mit ihrer Geschichte geschaffen hatte, begann an allen Ecken bereits zu bröckeln. Mit jeder neuen Frage, die ihr der Fremde stellte, war das so. Nüchtern gesehen hatte sie doch nur einen Versuch unternommen, sich selbst das Leben zu nehmen. Ob dies aus reiner Selbstsucht oder tatsächlicher Verzweiflung geschehen war, spielte keine Rolle. Ihre Tat, ihr Vorsatz zählte. Für jeden Fremden, der sie und ihre Geschichte nicht kannte, war sie eine Irre, eine Selbstmöderin, die es nicht geschafft hatte. Selbst dafür war sie nicht zu gebrauchen!
    Sie musste an ihren Sohn denken, den sie hatte einfach zurück lassen wollen, ganz sich selbst überlassen. Hätte er sie auch verurteilt, wenn er davon nur die leiseste Ahnung von ihrem Vorhaben gehabt hätte? Oder hätte er gar Verständnis für sie aufbringen können?


    "Nein," antwortete sie ganz nüchtern. "Ich wusste, dass ich niemals wieder nach Hause komme, auch nicht, wenn ich mich einfach auf dem Wasser dieses Flusses treiben lasse. Deshalb wollte ich dieses Leben abstreifen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte." Bridhe senkte den Kopf als sie sprach dabei. Sie hatte keine große Tat vollbracht, auf die man hätte stolz sein können! Nun rechnete sie mit einem ähnlich vernichtenden Urteil, wie nach ihrer Rettung durch den Tribun, ian jenem Morgen.
    " Tá mé as Éirinn - ich komme von der Insel, weit draußen im Nordwesten, die die Römer Hibernia nennen. Auch wenn sie meine Heimat bisher unbehelligt ließen, so fangen sie dort dennoch immer wieder Menschen, um sie auf ihren Märkten als Sklaven zu verkaufen, so wie mich." Dass im Gegenzug irische Piraten gelegentlich auch die cymrische Küste heimsuchten, verschwieg sie dabei, denn dies war kein Phänomen, das erst seit der Ankunft der Römer in Britannien aufgetreten war.


    "Kennst du dieses Gefühl, entwurzelt zu sein?" fragte sie ihn plötzlich. "Nirgendwo richtig dazuzugehören? Wie eine Pflanze, die man ihre Muttererde entrissen hat, um sie an einem anderen Ort, weit weg von ihrem angestammten Platz wieder in die Erde zu setzen. In fremde Erde. Auch wenn ich jetzt frei bin, so kann ich doch keine Freude daran finden, denn ich bin wie diese Pflanze, die der Muttererde entrissen wurde. Meine Sehnsucht war in dieser Nacht so groß, dass ich sogar mein Kind zurücklassen wollte." Bridhe sah auf und sah in das Gesicht des fremden Sklaven. Auch jetzt noch loderte die Sehnsucht in ihr. Dieses Feuer würde niemals erlöschen, solange sie lebte.
    "Mein Volk glaubt, dass die Welt und das Leben ein ewiger Kreislauf ist. Nichts hat einen Anfang und auch kein Ende. Wenn unser Leben endet, dann ist das der Beginn von etwas neuem. Ich habe in dieser Nacht gehofft, nach Tír na nÓg zu kommen, in das Land der Glückseligleit."

  • Deprimierend war diese Feststellung wirklich ... Niemals wieder nach Hause. „Meine Eltern stammen aus Bithynia. Und ich weiß haargenau, dass ich dieses, das Land meiner Herkunft mit überwältigend großer Wahrscheinlichkeit nie sehen werde.“
    Das vernichtende Urteil blieb (noch) aus, denn Phaeneas hatte Verständnis für ihre Beurteilung des Lebens und für ihre Sehnsucht nach dem Ende desselben. Das Leben abstreifen ... welch schöne Formulierung. Die vorherige Faszination verwandelte sich allerdings eher in Mitgefühl ... ja, jetzt war er derjenige, der sie so anschaute. „Wieso .. hat der Fluss dich eigentlich nicht behalten?“
    In einer Phaeneas vollkommen unbekannten Sprache sagte sie einen kurzen Satz. Der Klang dieser Sprache war ganz anders als der des Lateinischen, aber es hörte sich unglaublich melodisch an. Sie passte einfach zu der Fremden mit dem zarten, blassen Gesicht. Ah, von der ‚winterlichen Insel‘. Also war diese Frau wirklich Keltin. Und aus der Freiheit geraubt und in die Sklaverei überführt worden. Hm, Freigeborene, das war immer so eine Sache. Und freigelassen inzwischen auch, wie er weiter erfuhr.
    Eindrucksvoll erzählte sie von Heimat, von Muttererde, von Wurzeln. Während sie redete, glaubte Phaeneas seine Mutter zu sehen, zumindest hatten ihre Augen den gleichen Ausdruck angenommen, wenn sie nur das Wort ‚Bithynia‘ erwähnt hatte ...
    „Nein“, schüttelte er auf die Frage hin den Kopf, „Meine Wurzeln wurden von Anfang an an diesen Boden gewöhnt. Ihnen ist diese Erde nicht fremd. ... Aber meine Mutter ... könnte dieses Gefühl vielleicht gekannt haben ...“ Es war seltsam für Phaeneas, über seine Mutter Mutmaßungen anzustellen. Als sie noch gelebt hatte und bei ihm gewesen war, hatte sie ihm verboten, sie zu ihrer Vergangenheit zu befragen. Fraglos hatte er das stets hingenommen.
    Als die Fremde aber von der Existenz ihres Kindes sprach, packte ihn kaltes Entsetzen. Nach außen blieb er unbewegt, aber innerlich kostete es ihn einiges an Mühe, das Rütteln an seinem Weltbild – an seinem Mutterbild! – zu verkraften. Für seine Verhältnisse aber doch relativ rasch und relativ eindringlich bat er sie: „Sehnsucht ist das eine, nach der Heimat, nach dem Ende von sinnlosen Mühen, und die Sehnsucht wird einen wohl niemals loslassen - aber ein Kind ist etwas ganz anderes! Einer Sehnsucht nachzugeben, mag Ungeahntes bringen, aber das Wohl eines Kindes ist etwas gewisses, das in jedem Fall sichtbare Früchte bringen wird. Bitte versuche nicht noch einmal, dich umzubringen – ein Kind braucht seine Mutter.“ Man sah seinen oft unlesbaren, aber im Moment fast flehenden Augen an, wie wichtig ihm diese Angelegenheit war. „Wie alt ist dein Kind?“
    Kein Ende. Das klang insoweit beunruhigend, wenn auch alles danach so verlief wie das Leben zuvor. Doch das Land der Glückseligekeit ... das klang gar nicht beunruhigend. „Das Land der Glückseligekeit?“, fragte er deshalb, fast ein bisschen neugierig, nach. „Was ist das?“

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