Auf dem Meer | Eine lange Reise

  • Der Abschied von Rom fiel Penelope deutlich leichter als ihrer Tochter. Während Panthea schon die ein oder andere Träne vergoss, blieb ihre Miene ungerührt wie immer, als sie sich nochmals für die Gastfreundschaft der Aurelier bedankt hatte und dann gegangen war. In Ostia wartete auch schon das Schiff, dass sie zurück nach Alexandria bringen sollte. Dieses Mal würde es schneller gehen, da das Schiff nicht die lange Route an der Küste entlang, sondern über das offene Meer fahren wollte und so etliche Tage der Reise einsparte. Nun, da die Winterstürme vorbei wahren und die Gewitter des späten Frühlings noch nicht heraufzogen, war es eine gute Jahreszeit, um mit dem Schiff zu reisen.
    Die „Neptuns Gunst“ war ein mittelgroßes Handelsschiff, das auch einige Passagiere mitnehmen konnte. Die Fracht war bereits sicher verstaut im Laderaum, ehe die Gäste an Board kommen durften. Zwar kostete die Überfahrt vergleichsweise viel, dafür aber stand den Passagieren im Laderaum ausreichend Platz zur Verfügung, um es sich dort für die Wochen der Überfahrt gemütlich einzurichten.
    Es gab noch zwei weitere Familien, sowie ein paar alleinreisende Männer, mit denen sich Penelope den Laderaum teilen musste. Für ein wenig Privatsphäre waren Seile gespannt worden, an die einfach nur Chitons zum Trocknen gehangen wurden, um so ein wenig Sichtschutz zu bieten. Allerdings würde der Stoff kaum ernsthaft ein Hindernis darstellen, so dass man sich auf die Mithilfe anderer Passagiere und der Mannschaft im Endeffekt verlassen musste. Aber wenigstens der nötigste Privatraum war gewährleistet.


    Die Reise an sich verlief ruhig. Das Meer war glatt, nur wenige Wellen ließen das Schiff leicht herumschaukeln, und auch der Wind blies angenehm in die richtige Richtung, so dass sie gut vorankamen. Zunächst ging es an der Küste Italias nach Süden, vorbei an Sicilia mit seiner schroffen Landschaft, und dann hinaus auf das weite, blaue Meer.
    Die Stimmung an Bord war gut, und Penelope ließ sich überreden, abends auf Deck zu spielen, anstatt unter Deck nur für sich zu üben oder für ihr Kind ein paar Gute-Nacht-Lieder zu spielen. Matrosen wie Gäste lauschten ihr gern, und für eine Weile vergaß Penelope all die Unterschiede, die ihr sonst so wichtig waren.


    Es wäre eine ruhige Reise geworden, wäre nach 2 Tagen auf dem offenen Meer kein Segel aufgetaucht.

  • Zunächst war es nur ein Schatten am Horizont, und nichts ungewöhnliches obendrein. Immerhin war man nicht das einzige Schiff, das übers Meer fuhr, auch nicht das einzige auf dem Weg nach Ägypten. Dennoch machte sich eine instinktive Unruhe breit, als der Schatten zu einem Fleck wurde, und schließlich zu einem erkennbaren, kleinen Schiff. Einem, das immer größer wurde und immer näher kam.
    Es war nicht, dass es da war, was die Situation bedrohlich wirken ließ. Immer wieder traf man auch auf See auf ein Schiff in der Ferne, das war nichts ungewöhnliches. Aber die Handelsschiffe gingen sich bei solchen Begegnungen normalerweise großzügig aus dem Weg, änderten leicht ihre Kurse und zeigten damit an, dass sie selbst genausowenig Lust auf Ärger hatten wie das andere Schiff. Nur dieses hier war anders. Es fuhr nicht nur auf demselben Kurs, nein, es machte auch die Kursänderungen der „Neptuns Gunst“ penibel genau mit.


    Die Stimmung an Bord wurde unruhig. Matrosen wie Passagiere starrten nurmehr in eine Richtung, zu dem immer näher kommenden Schiff. Angst griff lautlos um sich, man konnte es an den Gesichtern sehen, an den starren Augen und den angespannten Muskeln. Schließlich war das andere Schiff so nah herangekommen, dass man die Matrosen erkennen konnte, wie sie über das andere Deck huschten.
    “Die Frauen und Kinder unter Deck...“ war der schon mehr gemurmelte als gesprochene Befehl des Kapitäns, und spätestens da war jede Hoffnung, das andere Schiff könne nur ein tollkühner Händler sein, vergessen.

  • Hinter den Kisten und Amphoren mit verschiedensten Gütern, in einem kleinen Raum, drängten sie sich. Drei Frauen, fünf Kinder, darunter auch Penelope und Panthea. Ganz still lauschten sie, hielten sich dicht beieinander, als gäbe diese Nähe mehr Sicherheit. Jede Frau hatte ihre Kinder auf dem Arm. Der Säugling der jüngsten der drei weinte leise und unruhig, und die gemurmelten Worte der Mutter vermochten nicht, ihn zu beruhigen.


    Plötzlich gab es ein lautes Rumpeln, und des Schiff wurde leicht seitlich getragen. Voller Schreck schien Frauen und Kinder gleichermaßen auf und hielten sich am nächstbesten Gegenstand fest, sei es eine Kiste oder die Schiffswand.
    Kampfgeräusche drangen von oben zu ihnen herunter, das Klirren von Eisen, Flüche, Schreie, Leute, die ins Wasser fielen. Bang hielten die Frauen sich an den Händen, bargen die Kinder an ihren Oberkörpern und lauschten nur, hin und hergerissen zwischen Hoffnung und Furcht.
    Und schließlich war es still.


    Gespenstisch still. Lediglich der Atem der hier unten Versammelten hing laut und greifbar in der Luft. Selbst das Baby hatte aufgehört, zu weinen, als wisse es instinktiv, dass es nun ruhig sein musste. Sie alle lauschten, die Frauen, die Kinder, auf eine bekannte Stimme, die befreiend verkünden würde, dass alles überstanden war.
    Schließlich hörten sie Schritte. Einen nach dem anderen. Mindestens drei Männer kamen herunter, sagten aber nichts. Die Anspannung wuchs, und Penelope schloss stumm die Augen. Sie wusste, was es bedeutete, auch wenn ihr Herz noch hoffen wollte.
    Der Schrei der Frau neben ihr ließ sie sie wieder öffnen, und eine Sekunde später wurde auch sie bereits grob an den Handgelenken hochgerissen, mit Panthea im Arm nach oben gezerrt.

  • Ein paar der Männer und Matrosen lebten noch. Sie knieten, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, auf dem blutigen Deck. Eine Frau versuchte, zu ihrem Mann zu kommen, aber sie wurde an den Haaren an ihm vorbei gezogen und auf Deck geschleudert, hinein in eine Gruppe der Angreifer, die das lachend als Aufforderung nahmen. Sie wurde auf die Beine gezerrt und schon machten sich gierige Männerhände daran, ihr die Kleidung vom Leib zu reißen. Ihr Schreien hallte so lange panisch über das Deck, bis ihr einer der Männer mit der Faust ins Gesicht schlug, einen Zahn ausbrach und erstmal die Schreie in ein leises Wimmern verwandelte.
    Die beiden Schiffe waren mit Seilen und Haken aneinender vertäut worden. Der Angreifer hatte dieses Schiff offenbar gerammt, wofür auch ein paar gesplitterte Planken an der Reling sprachen, jedoch war der Aufprall natürlich nicht so stark gewesen, das Handelsschiff zu versenken. Das wäre auch nicht Sinn des Angriffs gewesen.
    Die Frauen wurden weiter gezerrt und mussten sich mit ihren Kindern in Linie aufstellen. Alle bis auf die, die vorschnell gehandelt hatte. Penelope achtete darauf, dass Panthea nicht in die Richtung schauen konnte, in der die Männer die Frau gerade über einer Taurolle vergewaltigten. Ein paar andere zwangen ihren Mann, dabei zuzuschauen, aber der hielt einfach still. Kluge Entscheidung, hätte jeder kleine Mucks von ihm doch zu noch mehr leiden für seine Gattin und seinen Tod bedeutet. Ein paar andere Männer entsorgten einige der Leichen an der anderen Seite des Schiffs, indem sie sie einfach achtlos über Bord warfen. Einzig der Kapitän lag noch mittig auf Deck, und es schien niemand Anstalten zu machen, ihn da wegzubewegen. Er war geköpft worden, um seinen Körper eine gewaltige Lache aus Blut, zu dem ganz allmählich immer mehr aus dem Torso tropfte. Offenbar wollte jemand, dass der Kapitän so gesehen wurde. Den Kopf sah Penelope nicht.


    “Ich bin Barzanes, und IHR gehört nun mir“ dröhnte eine Stimme, die vom Heck des Schiffes kam. Ein grobschlächtiger Kerl gehörte dazu, groß, mit Blut noch verklebt. Er hatte eine schlimme Narbe in seinem Gesicht, die sich von der Wange zum Ohr zog, welches nur noch halb vorhanden war. Es gab seinem Gesicht etwas noch grausameres. Sein Bart glänzte vom Blut, und seine Augen starrten wild und herrisch. In seiner Linken schlenkerte er lässig mit dem Kopf des Kapitäns, als er an ihnen langsam vorbeistapfte. Jedem von ihnen schaute er im Vorbeigehen in die Augen, während einer Seiner Männer mit dünnen Lederbändern ihm folgte und die Hände der Frauen und Kinder zusammenschnüren wollte. Als erstes in der Reihe stand die junge Frau mit ihrem Baby.
    “Das ist wertlos“, war der kurze Kommentar des Anführers, und sofort wurde unter einem gellenden Aufschrei der Mutter ihr das Kind entrissen und ohne weiteres Federlesen auf der Seite des Schiffes ins Meer geworfen, wo auch die übrigen Leichen entsorgt worden waren und sich aufgrund des Blutes im Wasser bereits einige Haie tummelten.
    Die Frau brach in sich zusammen, jammerte und schluchzte, während ihr die Hände zusammengebunden wurden. Barzanes schien das ganze nicht zu tangieren, er schritt die Reihe weiter, vorbei an einem neunjährigen Jungen und einem vielleicht zwölfjähigen Mädchen.
    “Ihr seid keine Menschen mehr. Ihr seid nur noch Ware. MEINE Ware. Und wie ihr bei eurem Verkauf aussehen werdet, hängt nur davon ab, ob ihr gute Ware seid oder eher wertlose Ware.“
    Er schritt weiter und kam nun zu Panthea, die er lange anschaute. Das Kind indes starrte nur auf den abgetrennten Kopf mit dem wie zum Schrei aufgerissenen Mund und den gebrochenen, verdrehten Augen. Er schien kurz zu überlegen, ging dann aber den schritt weiter zu Penelope und schaute ihr in die Augen. Während die Kinder alle vor Ehrfurcht erstarrt waren, schaute Penelope einfach nur stur gerade aus, ohne ihn wirklich anzublicken. Es war nicht unterwürfig, und sie stand auch so kerzengerade, als wäre sie aufgefordert worden, gleich in ein Odeion zu treten und vor erlesenem Publikum zu spielen. Barzanes kam näher zu ihr, und sie konnte seinen Atem riechen. Es stank nach Verwesung, aber sie rührte sich nicht. “Wenn ihr brav seid, könnt ihr eine angenehme Reise haben.“ Er zog ihr eine leicht herausgerutschte Haarnadel aus der Frisur, so dass sich ihr Haar befreit abrollte. Er nahm es in die Hand und roch einmal daran. Mit einem Grinsen schritt er weiter.


    “Die Götter werden dich richten.“ ertönte eine Stimme von rechts. Während alle Augen dorthin schnellten, erscholl ein panisches Kreischen von links von Penelope, als das zwölfjähige Mädchen herausgezogen wurde. Ihre Hände waren noch ungefesselt, und der Mann mit den Lederbändern lachte nur, während er zusah, wie einer seiner Kollegen das Mädchen mit sich außer Sicht zerrte. Kurz blieb er so stehen und ging ein wenig dem anderen Mann hinterher, um sich das folgende Spektakel anzusehen. Wohin sollten die Frauen schon fliehen?
    Barzanes unterdes ging lachend zu dem Mann, der da kniete und die Worte gesprochen hatte. Er warf ihm den Kopf des Kapitäns direkt vor die Füße und lachte lauthals. “Die Götter? Ich erzähle dir etwas über die Götter.“


    Kurz unbeobachtet wandte Penelope ihren Kopf ihrer Tochter zu, die panisch in die Richtung schaute, wo erst ein spitzer Schrei und dann beängstigend rhythmisches Wimmern erklang, übertönt vom Grunzen eines Mannes. “Panthea!“
    Angstgeweitete Augen sahen sie an, und Penelope musste schlucken. “Psst, nichts sagen. Wir beide machen jetzt eine Reise, weg von hier. Aber du musst leise sein. Vertrau mir.“
    Panthea nickte stumm und griff nach der Hand der Mutter. Diese schaute nochmal zu Barzanes, der während der ganzen Zeit schon seine kleine Rede fortgesetzt hatte.
    “Die Götter, mein Freund, scheren sich nicht um euch. Den Göttern seid ihr scheißegal. Und die werden mich nicht strafen, denn, sag, was immer du willst, ich diene den Göttern weit besser als jeder von euch. Nicht genug, dass ich Pluto hunderte von Seelen geschickt habe und Mars tausend Blutopfer so gebracht habe. Nein.
    Kein Priester vermag die Menschen so sehr an die Götter denken zu lassen wie ich. Denn egal ob Römer, Griechen, Christianer, Juden, Inder... sie alle fangen an zu beten, wenn meine Haken sich in ihre Reling graben.“

    Barzanes grinste noch einen kurzen Moment, als wäre nichts, und dann stieß er dem Mann von eben sein Messer in den Hals. Er sah zu, wie der Kerl zuckte und wie das Blut an der Luftröhre Blasen warf, nachdem er es herausgezogen hatte. Er kostete diese kurzen Momente aus, in denen der Mann zu ihm rüberstarrte und erstickend gurgelte, ehe er vornüber kippte und sich eine immer größer werdende Blutlache um ihn herum bildete.
    “Wie gesagt, ihr seid nur Ware, und im Vergleich zur restlichen Schiffsladung nicht besonders wertvoll. Also liegt es an euch... he, wo ist die Strenge hin?“ Ungehalten deutete Barzanes mit seinem blutigen Messer auf die Lücke zwischen dem zitternden Jüngling und einem knienden Mann.

  • Es waren nur ein paar unauffällige Schritt rückwärts gewesen bis zur Reling. Nur eine ganz sachte Bewegung, um Panthea auf den Arm zu nehmen. Und nur ein kurzer, letzter Blick, um zu wissen, dass es notwendig war. Penelope setzte sich auf den Rand der Reling und ließ sich einfach rücklings ins Wasser fallen.
    Poseidon war immer gut zu ihrer Familie gewesen, und sie betete, er würde die Haie auf der anderen Seite des Schiffs halten, wo sie ihre blutige Mahlzeit erhielten. Sie platschte auf die kalte Oberfläche und versank, ihr Kind in ihren Armen. Penelope konnte nicht schwimmen, aber das war auch gar nicht der Sinn. Sie hielt einfach nur ihr Kind fest in ihren Armen und ließ sich sinken.
    Von hier unter den Wellen sahen die beiden Schiffe beinahe friedlich aus. Die Sonne schillerte an ihnen vorbei ins Wasser und warf so bunte Muster ins blau, die umso heller erschienen, je tiefer sie versanken. Die Welt hier unten in Poseidons reich war Still und kühl, und Penelope betete zu dem großen Gott, er möge, wenn vielleicht nicht sie, so doch die Tochter sicher in das Reich des Todes geleiten. Mochte er sie als sein Spielzeug ruhig behalten, solange es ihm gefiel, solange er nur Panthea an einen besseren Ort bringen würde. Dieses hier war der beste Ort, an den Penelope sie hatte bringen können, mehr hatte sie nicht tun können.
    Das Drücken in den Lungen wurde beklemmend, stechend und schmerzhaft. Luftblasen stiegen auf. Penelope fühlte, wie Panthea sich an ihr festklammerte, fühlte ihre kleinen Hände in ihr Fleisch sich graben. Der schlimmste Moment kam, als sie das Zucken fühlte, das durch den kleinen Körper ging, erst zaghaft, dann kräftig und so, dass sie sie fast nicht mehr halten konnte. Danach entsetzliche Ruhe. Penelope schrie, auch wenn es unter Wasser niemand hören wurde. Die restliche Luft entwich so ihrer Lunge und stieg in wilden Blasen nach oben, während sie tiefer sank. Ihr Kind war tot in ihren Armen, und sie wusste es. Das war mehr Schmerz, als jeder Schwerthieb oder jeder lüsterne Mann ihr je hätte antun können.
    Sie sank noch ein Stück, und ihr Körper krampfte sich zusammen. Das Bedürfnis, Luft zu holen, wurde überwältigend, der Schmerz in der Brust zu groß. Penelope hielt Panthea ganz dicht an sich gepresst, als sie diesen letzten, tiefen Zug nahm. Salzwasser strömte durch Mund und Nase, brannte wie flüssiges Feuer, erfüllte ihren Körper. Noch ein letztes Zucken.
    Und dann...


    Stille.

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