[Subura] Die Insula des Uland und der Ferun

  • Am Rande der Subura lag dieses mehrstöckige Gebäude, in dem Uland, Ferun und ihre beiden Kinder Sonnwinn und Lioba lebten. Direkt unter dem Dach ist die Familie untergekommen, was den Weg in die Wohnung mühsam und die Wohnung selbst im Sommer nahezu unterträglich heiß, im Winter kalt und bei Regen des Öfteren feucht sein lässt. Jedoch gibt der Abstand zur Straße ein wenig Schutz vor Lärm, Sicherheit vor zwielichtigen Gestalten und die ein oder andere frischere Brise im Sommer.

  • Viel geredet hatten sie nicht auf dem Weg zu der Insula, die Sivs neues Heim sein würde, jedenfalls in den nächsten Monaten. Und sie bewegten sich immer tiefer in Gegenden hinein, die Siv während ihrer ganzen Zeit in Rom kaum je zu Gesicht bekommen hatte. Sie hatte sich nie wirklich an die Stadt gewöhnen können – und je enger die Straßen, je verbauter die Häuser, je weniger Natur und frische Luft, desto schlimmer für sie. Selbst an die Märkte, die sie doch eher häufig hatte aufsuchen müssen, hatte sie sich nicht gewöhnen können, wobei es hier vor allem die Masse an Menschen war, die ihr nicht gefallen hatte. Und sie hatte bei Botengängen teils große Umwege auf sich genommen, um die Bereiche der Stadt zu meiden, in denen es ihr zu eng war, zu… drückend. Und jetzt bewegte sie sich immer tiefer hinein in die Eingeweide dieser Stadt. Siv meinte fast zu ersticken, und sie war dankbar um die Wärme des kleinen Körpers, der an ihrem Oberkörper lag. Von ihrem Unwohlsein konnte sie Brix nichts erzählen, am Ende bestand der sonst noch darauf, sie wieder zurückzunehmen. Und das wollte sie nicht.


    Nein, zurück wollte sie nicht. Aber der Gedanke, von nun an, und sei es nur für einige Monate, hier leben zu müssen, gefiel ihr nicht. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass sie Glück gehabt hatte – sie hätte ganz woanders landen können. Wäre vermutlich woanders gelandet, wenn sie anders ausgesehen hätte. Die Schergen, die sie damals von Germanien nach Rom gebracht hatten, hatten mehr als nur einmal deutlich gemacht, dass ihr Aussehen ihr größtes, nein, eigentlich sogar ihr einziges Kapital war, ungebildet und wild, wie sie war – und damit auch deren. Sie hatte Glück gehabt. Und selbst in der Villa Aurelia hatte sie lange gebraucht, bis sie sich an die Mauern und den Stein um sie herum gewöhnt hatte, genug, dass es ihr, meistens jedenfalls, nichts mehr ausmachte. Als Brix schließlich langsamer wurde und dann eines der Gebäude betrat, musste Siv ein Schaudern unterdrücken, als sie daran denken musste, was die einzigen Umstände waren, unter denen sie anfangs in der Villa hatte schlafen können – entweder sie war im Garten gewesen, oder bei Corvinus, hatte seine Nähe gespürt, seinen Körper. In ihrer neuen Bleibe würde sie keins von beiden haben. Keinen Garten, oder gar Stall, in den sie flüchten konnte, wenn es ihr zu viel wurde. Kein Corvinus, zu dem sie gehen konnte, wenn sie es nicht mehr aushielt… Sie waren so oft aneinander geraten, von Anfang an, erinnerte sie sich – aber das war Siv. Sie lebte ihr Leben nun mal mit Leidenschaft, und obwohl sie um ihren Status gewusst hatte, hatte sie es nie geschafft, ihren Stolz und ihre Leidenschaft wirklich zu bändigen, gar zu unterdrücken. Auch und gerade ihrem Herrn gegenüber nicht. Sie hatte kein Problem gehabt, mit ihm aneinander zu geraten, im Gegenteil, es hatte ihr gefallen. Das hatte einen Teil des Reizes ausgemacht, den er auf sie ausgeübt hatte, dass er nicht nachgegeben hatte, nie, ohne dabei jedoch… brachial zu werden. Deswegen hatte sie ihn akzeptiert, als Mann und letztlich irgendwie auch als Herrn – obwohl sie das niemals so zugegeben hätte –, und deswegen hatte sie angefangen ihn zu mögen. Ein anderer Besitzer… und sie hätte entweder ihr Leben mit niedersten Arbeiten fristen können oder wäre irgendwann gebrochen worden, das wusste sie. Aber mit Corvinus war es anders gekommen, anders gewesen. Hel, er fehlte ihr.


    Erst als Brix verwundert seinen Kopf durch die Tür streckte, fiel Siv auf, dass sie eine ganze Zeit lang vor dem Haus gestanden und es nur angestarrt hatte, ohne sich zu rühren. Und ohne es wirklich zu sehen. Versunken in Erinnerungen… Siv blinzelte einmal und schüttelte leicht den Kopf, dann gab sie sich einen Ruck und folgte Brix endlich in das Haus hinein.

  • Er fehlte ihr. Sie war erst ein paar Tage hier, und er fehlte ihr so sehr. Siv hatte geglaubt, dass sich daran etwas ändern würde, wenn sie die Villa erst mal verlassen hatte. Wenn sie nicht mehr in dem Haus lebte, das seines war, in dem sie ständig Gefahr lief, ihm zu begegnen, und das in seinen Bereichen mehr als deutlich das Siegel seiner Anwesenheit trug. Sie hatte geglaubt, wenn sie erst einmal aus diesem Einflussbereich heraus war, würde es besser werden. Aber das wurde es nicht, es wurde eher noch schlimmer. Er fehlte ihr. Und dazu kamen andere Dinge, die ihre Situation nur noch schwerer machten. Uland und Ferun waren nett genug, sie hatten sich auf Anhieb verstanden, und Siv war in die beiden Kleinen regelrecht vernarrt, genauso wie umgekehrt – was zu einem Gutteil daran liegen mochte, dass Siv ihnen auf ihrer Ebene begegnete. Im Umgang mit den beiden merkte sie, dass sie wohl keine wirklich gute Mutter werden würde, nicht wenn es darum ging, durchzugreifen und streng zu sein. Aber vielleicht lag es auch nur an der Situation. Sie sehnte sich nach Gesellschaft, nach Nähe – unvoreingenommene Nähe. Uland war tagsüber weg und arbeitete, und jetzt wo Siv da war und auf die Kinder aufpassen konnte, ging auch Ferun einer Arbeit nach, auch wenn diese nur einige Stunden ihres Tages in Anspruch nahm. Sie brauchten Geld, für die Reise nach Germanien und für den Neustart in Mogontiacum. Aber selbst wenn sie da waren, waren die beiden etwas anderes. Ferun, die ohnehin schon ein sehr ruhiger Mensch war, war deutlich unglücklich. Sie bemühte sich, sehr, aber es war natürlich dennoch zu merken, dass das Leben in Rom ihr Gemüt trübte. Siv konnte das verstehen, denn zumindest was das Leben in dieser Insula anging, in den Randgebieten der Subura, ging es ihr ganz genauso. Der Lärm, der Gestank, die Enge auf den Straßen und in der Wohnung… Es war nur gut, dass Finn so klein war und sie ohnehin in regelmäßigen Abständen brauchte, auch in der Nacht, denn so weckte er sie zumeist nur aus einem sehr unruhigen, teils sogar von Albträumen behafteten Schlaf, die entweder auf die Situation hier oder auf seinen Vater zurückzuführen waren. Und dass Ferun so zurückgezogen war, so unglücklich mit ihrem Leben, half Siv nicht, ihre eigene Situation mit anderen Augen zu sehen. Es half ihr nur insofern, als dass sie versuchte, für Ferun da zu sein, aber es gab einfach nicht viel, was Siv tun konnte. Es war nicht wie bei Finn, der sie so sehr brauchte und alles forderte, dass sie gar keine andere Wahl hatte.


    Und dann war da noch etwas, genauer gesagt, da waren zwei Dinge. Ferun und Uland, so sehr ihnen beiden das Leben in Rom inzwischen gegen den Strich gehen mochte, waren glücklich miteinander. Sie liebten sich, und sie waren glücklich. Wenn sie alle daheim waren und sich mit ihren Kinder beschäftigten, in diesen Momenten der trauten Familieneinigkeit kam Siv sich wie ein Eindringling vor – und es führte ihr vor Augen, was sie verloren hatte. Nicht, dass ein solches Leben mit Corvinus jemals möglich gewesen wäre, aber sie hatten immerhin etwas gehabt. Die kleinen, alltäglichen Szenen, die hatten sie gehabt. Sie hatte ihm geholfen, bei alltäglichen Handgriffen, beim Anlegen der Toga, beim Sortieren mancher Schriften, beim Vorbereiten seiner Besuche. Sie hatte einfach bei ihm sein können, und in diesen Momenten hatten sie wie selbstverständlich ihre gegenseitige Gesellschaft geteilt. Das fehlte ihr genauso sehr wie die Nächte, die sie miteinander geteilt hatten – und von denen die letzte schon so lang her war, dass sie sich kaum noch zu erinnern meinte. Die Nächte, in denen sie das Lager mit ihm geteilt hatte, genauso wie die Nächte, in denen sie einfach nur gemeinsam eingeschlafen waren, in seinem Bett. Siv sehnte sich danach, und das ruhige Glück, die stille Zufriedenheit, die Uland und Ferun manchmal ausstrahlten, wenn sie zusammen waren und Rom verdrängen konnten, so dass es ihnen ihr Gemüt nicht trübte, verstärkte die Sehnsucht nur. Und dann war da der letzte Punkt, der, der dazu führte, dass Siv die Gesellschaft der Kinder am meisten zu schätzen wusste. So nett Uland und Ferun auch waren – Siv bemerkte, wie sie sie manchmal ansahen. Sie weigerte sich, über Finns Vater zu sprechen. Sie blockte jedes Mal ab, wenn das Gespräch sich diesem Thema auch nur ansatzweise zuwandte. Aber natürlich machten die zwei sich Gedanken, schon allein, weil sie niemand besuchen gekommen war bisher. Und sie sprachen über sie, dessen war Siv sich sicher. Sie sprachen und grübelten und mutmaßten, und je länger Siv sich weigerte, auch nur irgendetwas preiszugeben, desto merkwürdiger wurden die Blicke, die sie ihr manchmal zuwarfen. Siv wappnete sich bereits jetzt für das Gespräch, das wohl irgendwann kommen würde, auch wenn sie versuchte, es hinauszuzögern, so lange es ging. Stattdessen beschäftigte sie sich mit den Kindern, die zwar Fragen stellten – jedenfalls Sonnwinn –, aber Fragen ohne jeden Hintergedanken, die völlig unvoreingenommen waren ihr gegenüber, die vernarrt waren in Finn – Sonnwinn, weil es endlich einen weiteren Jungen gab, Lioba, das merkte man nur zu deutlich, weil es endlich jemanden gab, der noch kleiner war als sie –, und sie hingen an Siv wie eine Klette. Und Siv sehnte sich so sehr nach Nähe, nach Aufmerksamkeit und nach Ablenkung, dass es ihr egal war, dass sie auf intellektueller Ebene kaum gefordert war, ganz im Gegensatz zu den letzten Monaten und Jahren. Es begann ihr zu fehlen, und sie begann, sich unterfordert zu fühlen, aber noch war diese Sehnsucht nichts im Vergleich zu jener nach etwas Nähe.

  • Die Tage vergingen, ohne dass Siv sie zu fassen bekam. Sie verbrachte viel Zeit mit den Kindern, schon allein, weil dies hier ihre hauptsächliche Aufgabe war, und es tat ihr gut, es lenkte sie ab. Sie bemühte sich, bemühte sich wirklich, alles zu verdrängen, wegzuschieben, was da noch war. Und da war so viel.. Die Sehnsucht, nach ihm, war wohl das Schlimmste. Sie hatte geglaubt, es würde besser werden, wenn sie erst einmal aus seinem Einflussbereich heraus war, aber das wurde es nicht. Im Gegenteil stellte sie nun fest, dass das Gefühl seiner Anwesenheit, seiner Nähe, ohne sie wirklich erreichen zu können, zwar schmerzhaft gewesen war, aber ihr dennoch geholfen hatte. Sie war es gewohnt, dass er ihr fehlte, hatte er sie doch inzwischen schon wieder seit Wochen gemieden, vor ihrer Freilassung und danach erst recht. Sie kannte dieses Gefühl. Ihn dennoch wenigstens in ihrer Nähe zu wissen, war etwas, wie sie nun feststellte, was es leichter gemacht hatte. Aber sie hätte doch auch nicht bleiben können. Sie war frei. Wie hätte sie denn bleiben können, wo der Zwang ihres Sklaventums weggefallen war? Wie hätte sie sich und ihrem Sohn später noch in die Augen sehen können, wenn sie dennoch geblieben wäre, obwohl so deutlich war, dass er sie nicht wollte, sie nicht und seinen Sohn nicht? Wie könnte sie Finn denn Stolz beibringen, wenn sie selbst ihren eigenen so völlig begrub… nur um in der Nähe eines Menschen zu bleiben, der so offensichtlich nichts von ihr wissen wollte. Es war doch egal, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Wie sehr sie ihn liebte. Es war egal, weil es ihm anders ging als ihr… Und sie war nun immerhin frei, konnte gehen, musste nicht mehr bei ihm bleiben. Und doch wollte sie nichts anderes als das. Sie schämte sich dafür, aber ein Teil von ihr wünschte sich, sie wäre noch Sklavin. Wünschte sich, er hätte sie nicht freigelassen.


    Und da waren die anderen Dinge. Siv war nicht für dieses Leben gemacht. Der Lärm, der Schmutz, die Enge und die Luft, die ihr selbst jetzt, im beginnenden Frühling, viel zu stickig erschien. Sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, in welchem Luxus sie bisher gelebt hatte. Der Platz, den es in der Villa gegeben hatte. Der große Garten. Nichts im Vergleich zu der Weite der germanischen Wälder, sicher nicht, aber im Gegensatz zu dem, was sie hier hatte… Und dann war da das Licht – etwas, was sie auch in Germanien nicht in der Form zur Verfügung gehabt hatte. Was sie damals nicht gestört hatte, aber jetzt, wo sie es entdeckt hatte, wo sie einmal gemerkt hatte, dass der Tag nicht notwendigerweise mit der Dämmerung zu enden hatte, vermisste sie es. Sie vermisste es, abends noch etwas tun zu können. Zu lesen, auch wenn sie nur diese eine einzige Schriftstück zur Verfügung hatte, das Corvinus ihr geschenkt hatte, und keine ganze Bibliothek – die sie genauso vermisste. Sie vermisste es, Finn sehen zu können, wenn er nachts aufwachte und sie brauchte, wenn sie ihn stillte oder einfach nur mit ihm herumging, um ihn zu beruhigen, weil er Bauchweh hatte oder nicht schlafen konnte. Und dass sie selbst nur wenig Schlaf bekam und dieser dann nicht sonderlich erholsam war, trug nichts dazu bei, dass es ihr besser ging. Und so verbrachte Siv die Zeit bei Ulands Familie, mühte sich, sich abzulenken, was ihr tagsüber auch hinreichend gelang. Nur nachts… nachts, wenn alle schliefen und nur sie wach war, und höchstens Finn noch, ohne sie jedoch allzu sehr in Anspruch zu nehmen, brachte sie es nicht fertig, zu verdrängen.

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    Die insula war nicht besonders groß, und Uland und Ferun wohnten nur in einem kleinen Teil des Gebäudes. Es war brix allerdings wichtiger gewesen, dass Siv zu guten Menschen kam, wenn sie denn wirklich gehen wollte. Und mit Uland, Ferun und den Kindern hatte sie nicht nur eine nette Familie, bei der sie eine Zeit lang wohnen konnte, sondern auch Gleichgesinnte und Reisegefährten, da Uland mit seiner Familie selbst auch bald zurück in den Norden aufbrechen wollte.


    Der Senator war der Patron Ulands, und allein deswegen musste Brix sich keinen Grund ausdenken, heute einen Abstecher hierher zu machen. Er trug ein Bündel mit sich und ein Messer unter dem Stoff seiner Kleidung, denn es war besser, wenn man nicht ganz so wehrlos durch die subura pilgerte. Als Brix angekommen war, klopfte er. Es war Ferun, die öffnete, und sie hatte die kleine Lioba seitlich auf der Hüfte sitzen. Brix hatte ein freundliches Wort für beide übrig, und er strich dem kleinen Mädchen kurz über den Kopf. Beiläufig reichte er Ferun das Bündel, woraufhin sie sieh herzlich bedankte. Es enthielt Brot und Gemüse, und Brix brachte stets etwas mit, wenn er hier zu besuch kam. "... Ist Uland nicht zu Hause? Aber Siv ist doch da, oder?"




    VILICUS - GENS AURELIA

  • Ferun war heute früher von ihrer Arbeit heimgekommen, weil nicht sonderlich viel los gewesen war in dem kleinen Geschäft, in dem sie aushalf. Siv wusste, dass Ferun es gut meinte, dass sie etwas entlasten wollte – dass es Siv derzeit nicht sonderlich gut ging, war ihr anzusehen –, aber die Germanin war sich nicht so sicher, ob sie sich darüber freuen sollte. Sich um die Kinder zu kümmern war zwar beileibe nicht immer einfach, aber es war immer Ablenkung. Ihr Problem war ja nicht, dass es viel zu tun gab, dass die Kinder – sowohl Finn als auch Sonnwinn und Lioba – sie beanspruchten, sondern die Tatsache, dass sie sich in den ruhigen Phasen nicht entspannen konnte. Wenn sie wach war, brachen all die Gedanken, die Gefühle, die Sehnsucht und die an den Rändern ihres Seins nagende Verzweiflung über sie herein, wenn sie schlief, träumte sie. Es waren nicht immer Albträume, aber es waren häufig solche, die ihren Schlaf unruhig sein ließen – und die wenigen schönen, die sie hatte, ließen sie dann nur mit einem dumpfen Gefühl der Einsamkeit und des Verlusts aufwachen. Aber letztlich war es gleichgültig, ob Ferun ihr mit ihrem gelegentlichen früheren Heimkommen einen Gefallen tat oder nicht. Siv dachte nicht im Traum daran, Ferun vor den Kopf zu stoßen, indem sie ihr davon erzählte, dass es für sie nicht wirklich ein Gefallen war, zumal es ohnehin nichts gab, was sie oder Uland hätten tun können, um ihre Situation zu verbessern. Siv wusste, dass es nichts gab, was die beiden hätten tun können. Oder sonst jemand. Es war einfach etwas, womit sie selbst fertig werden musste.


    Und an diesem Tag war es tatsächlich gut, dass Ferun früher gekommen war – in jedem Fall war sie in genau dem richtigen Augenblick gekommen. Finn brüllte sich gerade die Seele aus dem Leib, so hörte es sich für Siv jedenfalls an, und es war einer dieser Momente, in denen es nichts zu geben schien, was ihn beruhigte. Sie konnte nichts anderes tun, als ihn herumzutragen. Als es an der Tür klopfte und Ferun mit Lioba hinging, hatte sich Finns Lautstärke etwas gedämpft, aber er weinte noch immer, und Siv lief immer noch mit ihm umher, sprach leise auf ihn ein, wiegte ihn, sprach wieder, streichelte, und war bald selbst den Tränen nahe, weil das Schreien und Weinen derart an ihren Nerven zerrte und sie ihn nicht beruhigen konnte. Nur vage bekam sie mit, wer da an der Tür war, hörte eine leise Stimme und dann Feruns Antwort, auf germanisch: "Nein, Uland ist nicht da. Aber Siv. Komm doch rein." Siv verlagerte Finns Körper etwas, hielt ihn jetzt etwas aufrechter, umfing seinen Körper mit ihrem linken Arm und stützte sein Köpfchen mit der rechten Hand, und sah dann überrascht auf, als Brix den Raum betrat. "Brix?" Ein müdes Lächeln flog über ihre Züge. "Hey, schön dich zu sehen."

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    Brix trat ein und nickte Ferun lächelnd zu. Dass zumindest der Kleine anwesend war, war nicht zu überhören. Und wo Finn war, konnte Siv nicht weit sein. Lioba brabbelte leise vor sich hin, während Ferun sich noch einmal für das Essen bedankte. In der subura kam man nicht gerade günstig, geschweige denn oft an Frisches heran, und gerade deswegen war es für die Kinder umso besser, wenn sie hin und wieder Gemüse und Obst bekamen. Brix wusste das, und das bisschen, was er mit Genehmigung aus dem Haushalt der Aurelier abzweigte, war schon eine Hilfe für die kleine Familie.


    Als Brix dann auf Siv zutrat, lächelte er sie durch seinen Bart hindurch an. "Na?" grüßte er sie zurück und strich Finn über das kleine Köpfchen. "Dich hört man ja sogar unten auf der Straße noch", brummelte er mit seiner sonoren Stimme dem Kleinen zu - und nahm ihn dann kurzerhand aus Sivs Arm. Brix war vorsichtig, was das betraf. Er gab acht, dass er den Kopf stützte, als er Finn mit beiden Händen vor sein Gesicht hielt und mit frählichen Augen den kleinen Schreihals musterte. "Da schaust du, was? Du wirst mal ein großer Krieger, und dann darfst du auch schreien, dass sich die Bäume biegen. Aber hier solltest du ein bisschen Rücksicht nehmen auf deine Mutter, meinst du nicht auch?" Brix grinste den kleinen Racker an und ließ ihn dann ruhigen Gewissens in seinen Bart greifen. Er schrie zwar nicht mehr, aber seine Wangen waren immer noch heiß und tränennass, obwohl er Brix fasziniert mit seinen kindsblauen Augen musterte. Der Germane nahm ihn anders und hielt ihn jetzt seitlich. Dann sah er Siv an. "Wie geht es dir?" fragte er sie ernst.




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  • Im ersten Moment musste Siv sich beherrschen, Brix nicht anzufahren, als er ihr den Kleinen einfach wegnahm, und musste sich noch mehr beherrschen, um ihn nicht einfach zurückzunehmen. Finn war das Einzige, was sie hatte, was ihr geblieben war, und es fiel ihr unglaublich schwer, ihn aus ihren Händen zu geben. Was in der Villa Aurelia schon begonnen hatte, hatte sich hier nicht nur fortgesetzt, sondern verstärkt. Uland hatte Finn noch überhaupt nie gehalten, und Ferun nur, wenn es gar nicht anders gegangen war. Brix allerdings war noch einmal etwas anderes. Sie kannte Brix wesentlich länger, und sie wusste ja selbst, dass sie sich lächerlich benahm. Und Finn hörte tatsächlich auf zu weinen, als der große Germane ihn hochhob und ihn dann an seinem Bart ziehen ließ. Trotzdem blieb da eine nervöse Unruhe in Siv, und sie musste sich nach wie vor beherrschen, nicht wenigstens ihre Hände auszustrecken und Finn zu berühren, oder Brix zu sagen, was er tun sollte. "Ehm. Du…" Siv biss sich auf die Unterlippe und schluckte den Rest der Worte hinunter, während Brix auf den Kleinen einsprach. Finn hatte noch nicht wieder begonnen zu weinen, das war doch Zeichen genug dafür, dass Brix alles richtig machte, dass es keine Notwendigkeit gab, ihm irgendetwas zu sagen. Finn war nur so wichtig für sie…


    Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und strich sich erschöpft die Haare aus der Stirn. "Mir…" Sie unterdrückte mit Gewalt das Schluchzen, das in ihrer Kehle steckte, und zwang stattdessen ein Lächeln auf ihre Züge. "Ich… bin etwas müde." Das Lächeln geriet nicht sonderlich überzeugend, während sie diese Untertreibung vom Stapel ließ, das spürte Siv selbst. Aber sie ignorierte geflissentlich den Blick, den Ferun ihr vom anderen Ende des Raumes aus zuwarf, zuckte andeutungsweise die Achseln und strich nun doch ihrem Sohn wenigstens über den Kopf, als dieser ein Brabbeln von sich gab. "Ich freu mich schon drauf, wenn er endlich durchschläft", versuchte sie abzulenken.

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    Brix registrierte zwar Sivs fast panischen Blick und auch, dass sie anfing, etwas zu sagen, aber er ging nicht darauf ein und beschäftigte sich einfach weiter mit Finn. Zumindest, bis Siv auf seine Frage antwortete, denn da achtete er mehr auf sie als auf den Kleinen, den er nach wie vor im Arm hielt.


    "Müde?" fragte er sie und runzelte die Stirn. "So siehst du auch aus. Müde und abgespannt." Sie strich ihrem Sohn über den Kopf, und Brix betrachtete sie dabei. Er dachte an seine eigene Familie, ließ die Erinnerung aber schnell wieder fallen. "Ich hab dir etwas Geld mitgebracht. Nicht von der Wiege. Stell dir vor - ich finde tatsächlich keinen Käufer", sagte er schnell und machte ein ziemlich enttäuschtes Gesicht, gepaart mit einem ganz unschuldigen Lächeln. Brix hatte nicht einmal versucht, die Wiege zu veräußern. Das, was er Siv geben würde, sobald er die Hand frei hatte, war ein Teil seines eigenen Ersparten. "So als Vorschuss. Wenn ich sie denn verkaufe. Dann - au! - bekommst du auch den Rest....nicht dran ziehen, das tut weh", ermahnte er Finn, der ihn mit großen Augen erschrocken ansah, seine kleinen Fingerchen aber immer noch in Brix' Bart gekrallt hatte. Brix überlegte, ob er noch mehr erzählen sollte. Er entschloss sich für die einfachere Variante. "Wir vermissen dich alle, weißt du", bemerkte er. Ferun legte im hinteren Bereich Wäsche zusammen und tat taktvoll so, als hörte sie nichts. "Willst du nicht vielleicht doch..." begann er.




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  • "Wenig Schlaf", murmelte Siv als Erklärung und nickte leicht zu Finn hin. Es stimmte ja, sie kam wenig zum Schlafen, weniger als vor der Geburt. Dann sah sie wieder überrascht hoch, als Brix von der Wiege anfing. Er fand keinen Käufer? Siv verbot sich den leisen Anflug von Erleichterung, der sich in ihr breit machen wollte. Es war lächerlich. Sie konnte die Wiege nicht mehr gebrauchen, hier würde sie zu viel Platz wegnehmen, und mitnehmen konnte sie sie erst recht nicht. Sie konnte sie nicht gebrauchen. Was sie aber gebrauchen konnte, wäre das Geld, das sie bedeutete, für die Reise, bis sie endlich dort angekommen war, wo sie römisches Geld nicht mehr brauchen würde. "Na ja, ehm. Was… Was für Geld ist das dann, das du mitgebracht hast?" fragte sie. Irgendwoher musste Brix das ja haben, wenn er die Wiege noch nicht verkauft hatte, und er hatte ihr ohnehin schon so viel gegeben. "Im Moment brauch ich ja nichts." Ein zur Abwechslung mal ehrliches, wenn auch müdes Lächeln flog über ihre Züge, als Brix sich wieder kurz mit Finn beschäftigte. Dann, unwillkürlich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, tauchte plötzlich Corvinus vor ihrem inneren Auge auf, ersetzte Brix vor ihr, hielt seinen Sohn und sprach mit ihm… Siv wandte den Blick ab und schluckte mühsam, während sie sich mühsam anstrengte, dieses Bild zu vertreiben. "Alle…", murmelte sie. Das wagte sie zu bezweifeln. Und dann hob sich ihr Kopf wieder, ruckartig, als Brix die letzten Worte aussprach, aber sie sah ihn nur kurz an, mit brennenden Augen, bevor sie den Kopf zur Seite drehte und zu Ferun starrte, die sich mit der Wäsche beschäftigte, während Sonnwinn und Lioba am Boden saßen und miteinander spielten – das hieß, Lioba spielte, während Sonnwinn es komplett misslang, den gleichen Eindruck zu erwecken und dadurch zu verschleiern, dass er in Wahrheit aufmerksam lauschte. Sivs Stimme wurde nicht lauter, gewann aber etwas an Schärfe. "Was, doch? Zurückkommen? Und was soll ich dann da?"

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg] | Brix


    Brix' Blick sagte deutlich, was er von dieser Antwort hielt - nämlich nicht besonders viel. Aber der Blick war auch alles, was Siv das sagte, denn Brix selbst schwieg. Er sah sie so lange an, bis sie ihn nach dem Geld fragte. Dann wandte er sich wieder Finn zu und ruckelte ihn leich auf und ab. Ein Kind in dem Alter konnte zwar noch nicht willkürlich lächeln, aber Brix war eindeutig der Meinung, dass Finn das Ruckeln gefiel und er ihn angrinste. Ganz sicher mochte der Kleine den Großen, und umgedreht war es genauso. Einen Moment lang widmete sich Brix ganz Finns Vergnügen, dann aber sah er wieder auf und betrachtete Siv, die inzwischen etwas wie seine Schwester für ihn geworden war. "Meins", sagte er schlicht, dafür aber mit einer unausgesprochenen Begründung in der Stimme, dass Siv wohl verstehen würde, dass er darüber nicht diskutieren würde. "Leg es dir einfach auf die hohe Kante. Du kannst es mir ja irgendwann zurückgeben." Wobei Brix das nur sagte, damit Sivs Gewissen nicht gar so schlecht sein würde.


    Er bemerkte, wie sie sich ein wenig abwandte und kurz mit sich rang, ließ seinen Blick erneut über die Kinder und Ferun schweifen und seufzte dann langgezogen, als er Sivs feindlichen Tonfall hörte. "Natürlich zurückkommen. Es gibt vieles, dass du tun könntest. Der Garten sieht aus wie ein Schlachtfeld nach dem Regen in der letzten Woche..." Das stimmte nur halb und war nicht mehr als ein schwacher Versuch seitens Brix, Siv doch noch einmal dazu zu bringen, dass sie umkehrte. Er überlegte hin und her, ob er seinem Herrn zu seinem eigenen Wohl in den Rücken fallen sollte oder nicht. Vielleicht kam Siv ja zurück, wenn sie hörte, dass er gute Miene zum bösen Spiel machte. Andererseits sollte er sich da nicht so hereinlehnen, immerhin war das grob gesehen nicht seine Sache. "Ich möchte nur, dass du nochmal ernsthaft darüber nachdenkst", bat er sie. Kurz darauf verkündete Ferun, dass sie kurz nach unten gehen würde, um frisches Wasser zu holen, bat die beiden, auf die Kinder zu achten, und war verschwunden. Brix wartete.




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  • Siv war versucht, das Geld abzulehnen, als Brix ihr sagte es sei seins. Aber er hatte ja immerhin die Wiege, die er ja verkaufen sollte, und Siv bedeutete Geld einfach nicht so viel. Sie tat sich nicht wirklich leicht damit, es von ihm anzunehmen, schon allein weil sie in den letzten Jahren durchaus gelernt hatte, welch hohen Stellenwert die Münzen einnahmen, mit denen hier Handel betrieben wurde, aber ihr selbst bedeutete es nicht wirklich etwas. Es war nur Mittel zum Zweck. Und sie ging davon aus, dass Brix es nicht anders sah. "Danke, Brix. Wenn du die Wiege dann los wirst, dann ziehst du das aber ab, ja?" Sie musste sich etwas überlegen, was sie für ihn tun konnte, irgendetwas. Sie hatte noch Zeit, aber bevor sie endgültig mit Uland, Ferun und den Kindern nach Germanien aufbrach, wollte sie irgendetwas für Brix tun, was ihm ihre Dankbarkeit zeigte. Und wie sehr sie ihn vermissen würde. Für einen Augenblick wurde der Drang, Brix einfach zu umarmen, beinahe übermächtig, aber sie zügelte sich, schon allein weil sie wusste, dass sie dann die Tränen nicht mehr würde zurückhalten können. Sie hatte keinen derartigen Zusammenbruch mehr gehabt, seit sie sich von Idolum verabschiedet hatte, und sie hatte vor, es dabei zu belassen. Sie konnte hier nicht in Tränen ausbrechen, weil sie keinen Ort hatte, an den sie sich zurückziehen konnte, an dem sie allein war, an dem es keiner bemerken würde.


    "Es wird andere geben, die sich um den Garten kümmern können." Siv konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bitter klang. Der Garten. Es war Sklavenarbeit, jedenfalls hatte sie sie als Sklavin getan – warum sollte es in Ordnung sein, wenn sie das nun weiter tat? Warum war es nicht in Ordnung, dass sie sich weiter… Siv zwang sich, diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken. Sie drehte sich im Kreis damit. Es war doch eindeutig, dass das Argument, sie wäre keine Sklavin mehr, nur vorgeschoben war. Um nicht auszusprechen, was Fakt war: dass er sie einfach nicht mehr um sich haben wollte, aber offensichtlich auch nicht so weit gehen wollte, dass er sie hinausschmiss. Sie schwieg, während Ferun sich kurz verabschiedete, Sonnwinn abwechselnd Brix und sie mit neugierigen Augen anschaute und Lioba sich ein Holzstück griff und es durch die Gegend warf. Siv starrte das Stück an, das über den Boden kullerte und schließlich zur Ruhe kam, und Sonnwinn begann leise und ein wenig altklug daher zu schimpfen, machte aber keine Anstalten, das Stück wieder zu holen. Und Siv sah schließlich doch wieder hoch, als ihr das Schweigen, Brix’ Warten zu viel wurde. "Warum soll ich noch mal nachdenken, Brix? Glaubst du mir ist das leicht gefallen, die Entscheidung? Glaubst du ich hab nicht drüber nachgedacht, bevor ich sie getroffen hab? Es… ich kann das nicht. Er will mich nicht da haben, mich nicht und Finn nicht, und ich… jetzt wo ich frei bin, wo ich nicht mehr da bleiben muss… Und ich muss doch dran denken, was für Finn das Beste ist, und…"

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg] | Brix


    Brix hatte gewusst, dass sowas kommen würde. Er tat Sivs Worte mit einer Handbewegung ab - wollte es tun, doch er hielt Finn fest, und ihn nur mit einer Hand zu halten, erschien ihm zu riskant. Also zuckte er nur einseitig mit der Schulter und sagte: "Klar. Mach ich." Und meinte nichts davon ernst. Deswegen setzte er noch ein Zwinkern hinterher, dass Siv zeigen sollte, dass er es natürlich ernst meinte und ebenso natürlich auch selbst daran gedacht hätte. "Möchtest du ihn wieder nehmen?" schob er noch nach, um Siv abzulenken, und das klappte mit nichts anderem besser als mit Finn, der wirklich ein kleines Goldstück war. Er hielt Siv ihren Jungen hin und befreite, als sie ihn wieder nahm, mit seinen großen Pranken sanft seine kleinen Patschehändchen aus seinen Barthaaren.


    Siv klang verbittert, als sie dann antwortete, und Brix sah sie bedauernd an. Sicherlich hätte er nun etwas erwidern können, voller Überzeugung, und sie vielleicht dazu überreden können, doch zu bleiben - auch das wäre damit gegangen, dass er Finn als Vorwand benutzt hätte, dass der Weg zu weit, die Reise zu gefährlich oder die Jahreszeit zu kalt für ein so kleines Kind wäre. Aber er sagte nichts. Er kannte ja Sivs Dickschädel, und er wollte sie nicht drängen, nur weil er derjenige war, der sowohl ihr als auch sein Leiden als solches wahrnahm. So gab er sich mit ihrer Antwort zwar nicht zufrieden, sagte aber nichts, sondern sah sie nur bedauernd an, als ihm plötzlich ein Bauklotz vor die Füße kullerte. Brix verzog das Gesicht zu einem Grinsen und versetzte dem Holzstück einen kleinen Fußstoß, der ihn wieder näher zu Sonnwinn und Lioba rollen ließ. Als er sich Siv wieder zuwandte, war seine Miene wieder ernst, das Grinsen verschwunden. Erneut seufzte er tief. "Vielleicht, Siv, solltest du nicht nur das Offensichtliche als gegeben annehmen, denn das ist das Einfachste, aber nicht immer das Tatsächliche", bemerkte er verdrießlich. Inzwischen hatte Lioba das Klötzchen juchzend wieder zurückgeworfen. Diesmal hob Brix es auf, drehte es nachdenklich in der Hand und ging dann zu den beiden, um sich neben ihnen auf den Boden zu setzen und einen kleinen Turm zu bauen. Sonnwinn zerstörte ihn mit einem Schubser, und Brix grinste. "Wann wollt ihr aufbrechen?" war nun er es, der das Thema wieder fort lenkte.




    VILICUS - GENS AURELIA

  • Siv musterte Brix kurz misstrauisch, aber als er ihr dann ihren Sohn zurückgab, war vergessen, ob er seinen Kommentar tatsächlich ernst gemeint hatte, oder ob sie nicht lieber doch nachbohren sollte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, das für Augenblicke die Erschöpfung von ihrem Gesicht wischte, als sie Finn wieder entgegennahm, der sich inzwischen tatsächlich beruhigt hatte. "Möchtest du nicht öfter vorbei kommen? Am besten immer dann, wenn er gerade einen Schreikrampf hat…" Ihr Lächeln und der sanfte Tonfall sagten etwas völlig anderes aus als die Worte für sich allein. Natürlich war es anstrengend, und wenn er so erbärmlich weinte wie zuvor und einfach nicht aufhören wollte, dann zerrte das unglaublich an ihren Nerven. Trotzdem wollte sie ihn um nichts in der Welt hergeben, wollte sie um nichts in der Welt mit jemand anderem tauschen.


    Das Gespräch allerdings wandte sich unangenehmeren Themen zu, und nach ihrem kleinen Ausbruch, der nur deshalb so ruhig blieb, weil sie wieder Finn in ihren Armen hielt und sie ihn nicht schon wieder aufregen wollte, schwieg Brix erst mal und beschäftigte sich kurz mit den Kindern. Siv streichelte über Finns Kopf und drückte ihre Lippen auf seine Stirn, dann sah sie auf, als sie Brix’ Seufzen hörte. Sie begriff nicht ganz, was er ihr mit diesem verklausulierten Satz sagen wollte. Das Offensichtlich nicht als gegeben nehmen? Das Einfachste, das Tatsächliche? "Was meinst du damit?" fragte sie, sowohl verständnislos als auch misstrauisch. Fragend musterte sie ihn, wie er mit den beiden Kindern einen Turm baute, nur um ihn von Sonnwinn dann wieder zerstören zu lassen. "Wir… Ich weiß nicht. Uland macht die Planungen, und er… er möchte sicher gehen, dass er genug hat um sich in Mogontiacum etwas aufzubauen. Und noch ist es ohnehin zu kalt." Für sie und Finn ohnehin, aber auch für Lioba und Sonnwinn würde die Reise so zu beschwerlich, zu gefährlich werden. Keiner von ihnen wollte ein unnötiges Risiko eingehen. "Frühestens im späten Frühling. Eher noch Frühsommer, glaube ich", meinte sie. Ihrer Stimme war anzuhören, dass ihr die Aussicht nicht gefiel, so lange hier zu sein, in diesen winzigen Räumen, aber es ließ sich nicht ändern.

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg] | Brix


    Zur Antwort lächelte Brix sie schief an und bemerkte: "Wird schwer, wenn erstmal tausend Meilen zwischen uns liegen." Er baute erneut einen kleinen Bauklotzturm für Sonnwinn, der ihn ein zweites Mal zerstörte, diesmal freudig quietschend, und sah dann wieder zu Siv hoch. Sein Blick spiegelte die Unentschlossenheit wieder, jetzt etwas zu sagen von dem, was in Sivs altem Zuhause vorging, oder zu schweigen und sie in dem Glauben zu lassen, dass sie unerwünscht war. Brix wurde ohnehin nicht ganz schlau aus dem, was da zwischen seinem Herrn und Siv war, doch er hinterfragte es auch nicht. Er wusste schließlich aus eigener Erfahrung, dass Liebe oft unberechenbar und qualvoll war. Vielleicht wäre ein glatter Bruch daher sogar besser, für sie wie für ihn, denn nach römischen Gesichtspunkten hatte diese Zweisamkeit ohnehin keine Zukunft. Und Brix kannte Corvinus. Er würde niemals etwas tun, das den Ruf seiner Familie beschädigen könnte. Oder etwas, von dem er annahm, dass es die Macht dazu hatte. So sah er Siv eine Weile an und wandte dann den Blick wieder ab.


    "Ach. Nichts. Ich find es nur schade, dass du es dir nicht anders überlegen willst. Wenn du schon nicht an mich denkst, dann denk an dich selbst - ich kann nicht mal eben vorbeikommen und Finn eine Weile beschäftigen, wenn er schreit. Wenn du damit leben kannst..." Brix sah auf und grinste Siv kurz an, dann zuckte er mit den Schultern. "Naja. Wenigstens wird er dann mal ein anständiger Krieger", stellte er trocken fest und baute nebenbei einen neuen Turm. "Frühsommer. Der kommt bald", bemerkte er. "Brauchst du denn noch was bis dahin?"




    VILICUS - GENS AURELIA

  • Das war ganz eindeutig nicht die Antwort, die Siv hatte hören wollen. Wenn erst mal tausend Meilen zwischen uns liegen… Sie schluckte mühsam. Was für eine Wahl hatte sie denn? Sie würde Brix sofort mitnehmen, wenn sie könnte. Aber hier bleiben… Sie konnte doch nicht hier bleiben. Sie würde es nicht aushalten, in einer winzigen Behausung wie dieser hier, umgeben von viel zu viel Stein und viel zu viel Menschen. Von zu viel Enge und zu wenig frischer Luft und Natur. Auch nicht, wenn Brix sie regelmäßig besuchen kam. Sie würde durchdrehen auf kurz oder lang, das wusste sie. Das hier war nicht die Villa Aurelia, in der es sich gut leben ließ, die Platz bot und Luft und Ruhe. Sie kitzelte Finn ein wenig am Bauch und ignorierte Brix’ Kommentar. Sie wusste schlicht nicht, was sie darauf nun antworten sollte. Und weil sie sich auf Finn konzentrierte, entging ihr völlig, wie Brix sie ansah. Wie unentschlossen er für Augenblicke wirkte. Hätte sie es bemerkt, sie hätte womöglich gefragt, was los war, aber sie bemerkte es nicht, und so verging der Moment in Schweigen. Nur Sonnwinn starrte für Augenblicke fragend und mit leicht geöffnetem Mund hoch zu Brix.


    Erst als der Germane wieder das Wort ergriff, wandte Siv den Blick ab von Finn und wieder ihm zu. Die Erklärung seines Satzes von zuvor schien ihr etwas dürftig zu sein, aber sie fragte nicht nach. Wenn es ohnehin nur wieder darum ging, sie solle es sich doch anders überlegen… Siv presste die Lippen aufeinander. Glaubte Brix denn ernsthaft, es fiel ihr leicht, zu gehen? Sie ließ Jahre ihres Lebens zurück! Menschen, die sie lieb gewonnen hatte, nicht nur einen oder zwei, sondern einige. Arbeit, die sie gemocht hatte. Und andere Tätigkeiten, wie das Lesen, das Entdecken unzähliger Geschichten, ferner Länder, ganzer Welten aus ihrem Blickwinkel betrachtet! Schätze, die in Schriftrollen verborgen lagen, und in anderen Menschen, die von dort her kamen und erzählen konnten. Und nicht zuletzt Finns Vater. Den sie liebte. Sie kam um diese Tatsache einfach nicht herum, auch wenn sie es noch so sehr wollte. Sie liebte ihn. Und sie nahm ihrem Sohn den Vater weg, ganz gleich, ob der sich ihm nicht in geringster Weise verbunden fühlte. Sie nahm Finn den Vater weg, und die Gelegenheit, sich selbst mit ihm auseinander zu setzen, mit ihm und seiner Ablehnung, so bald er alt genug war. Glaubte Brix wirklich, ihr würde das leicht fallen? Oder glaubte er, ihr würde es leicht fallen, ihn zurückzulassen, der wie ein großer Bruder für sie geworden in den letzten Jahren, der ihr ihre eigenen Brüder so sehr ersetzt hatte, wie es keiner gekonnt hätte sonst… "Brix, ich…" Sie wollte nicht weiter darüber diskutieren. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Und sie spürte schon wieder, wie sich ein Schluchzen ihre Kehle hinaufdrängte. Sie hatte ganz eindeutig zu wenig und zu schlecht geschlafen die letzten Tage, und hatte zu viel in ihrer wachen Zeit, was ihr zu schaffen machte – nicht nur die Situation an sich, auch Finn, der regelmäßig weinte, so wie alle Babys, und die beiden anderen Kleinen, die sie beanspruchten, und dann die Enge hier, die ihr so sehr aufs Gemüt schlug, weil sie das Gefühl hatte zu ersticken… Sivs Nerven lagen einfach blank zur Zeit, und die Selbstbeherrschung, die sie noch auszuüben imstande war, hing an einem seidenen Faden. Und so war sie dankbar für die Ablenkung, die Brix gleich darauf bot. Sie lächelte schwach. "Ja, das wird er ganz sicher." Sie setzte sich zu Brix und den Kindern auf den Boden und sah ihn dann ein wenig verwirrt an. "Ich? Was… was sollte ich brauchen?" Vernünftige Klamotten, vielleicht, vernünftig für Germanien. Aber die würde sie ohnehin kaum in Rom bekommen.

  • Brix zwinkerte Sonnwinn zu, als der ihn so anstarrte. Er reichte ihm einen Bauklotz zur Vollendung des Bauwerkes, doch der Kleine stieß nur jauchzend den Turm wieder um, diesmal mit dem Bauklotz in seiner Hand. Brix baute geduldig alles wieder auf. Er sah zu Siv, als sie wieder zu sprechen begann, sah ihren inneren Kampf in ihren Augen und blickte sie ernst an. Kurz erwägte er, aufzustehen und sie zu trösten, aber das verwarf er wieder. Es wäre nicht nur ihr, sondern auch ihm unangenehm geworden. Er konnte ohnehin nichts für sie tun, das ihr was alles etwas erleichtert hätte. So sah er sie nur stumm an und wartete, bis sie sich wieder gefangen hatte. Sonnwinn, der inzwischen den halbfertigen Bau begutachtet hatte, zupfte ungeduldig meckernd an Brix' Hand, damit er weiterbaute.


    Und wieder bot der kleine Finn Siv die Ablenkung, die sie brauchte. So brachte sogar ein Lächeln zustande, auch wenn das nur kurz währte und ihre Augen kaum erreichte. Brix wandte sich beruhigt wieder dem Turmbau zu. "Na, ich weiß es nicht, deswegen frage ich ja. Ich werde euch vorher noch ein bisschen Trockenfleisch vorbeibringen. Vielleicht kannst du auch Stiefel gebrauchen", schlug er vor und sah dann kurz schräg hinauf, ehe er den Turm fertig stellte. Kurz darauf lag er schon wieder in seinen Einzelteilen am Boden verteilt, nur dass es diesmal Lioba gewesen war, die mit ihrem Patschehändchen Sonnwinn zuvor gekommen war. Das fand er natürlich weniger amüsant. In diesem Moment kam auch Ferun wieder zurück, sie trug einen schwer aussehenden Bottich mit Wasser. Brix stand rasch auf. "Komm her", sagte er und ging entgegen seiner Worte zu ihr, um ihr kurzerhand den Bottich abzunehmen. "Wohin?"

  • Siv sah dabei zu, wie Brix mit Sonnwinn und Lioba immer wieder Türme baute, um sie zerstören zu lassen, aber sie beteiligte sich nicht daran, sondern beschäftigte sich mit Finn, hielt ihn mit einem Arm und ließ ihn mit den Fingern ihrer anderen Hand spielen. "Stiefel… Ja, doch, Stiefel sind eine gute Idee. Und anständige Klamotten. Aber ich dachte, da krieg ich dann in Germanien bessere Sachen. Und ansonsten… Nein, eigentlich nichts. Wenn mir noch was einfällt, kann ich's mir ja dann kaufen." Sie spielte damit auf das Geld an, das Brix ihr vorbei gebracht hatte. Sie musste nachsehen, wie viel das war, ob es reichte, um ein schönes, weißes Kaninchen zu bekommen, das sie opfern konnte. Denn opfern wollte sie auf jeden Fall noch, bevor sie Rom verließ. Iuno hatte ihr ihre Bitte erfüllt, hatte auf ihr Kind acht gegeben und es gesund sein lassen, da war es nur anständig, ihr dafür auch zu danken. Genauso wie sie ihren eigenen Göttern dafür noch danken musste… Aber in das Wäldchen vor den Toren Roms konnte sie nicht, nicht jetzt, nicht mit Finn. Ihn hier zurücklassen kam aber erst recht nicht in Frage, also würde sie damit wohl noch warten müssen.


    Während Siv noch grübelte, kam Ferun zurück, mit einem Bottich voller Wasser, und Brix sprang auf, um ihn ihr abzunehmen. "Dort hinüber. Danke", lächelte die Germanin leicht und wies Brix zur Küche hin, ein kleiner Seitenraum mit einer einfachen Kochstelle, wo sie gleich darauf zu werkeln begann. Siv unterdessen hatte inzwischen ihre eine Hand von Finn gelöst, der nun seine kleinen Fingerchen in ihre langen Haaren vergrub, und baute nach Sonnwinns Anordnungen einen weiteren Turm. Als Brix wieder auftauchte, sah sie hoch. Jetzt, zum ersten Mal, lag ihr die Frage auf den Lippen, was sich in der Villa tat. Nein. Was er tat. Wie es ihm ging. Ob er… etwas gesagt hatte, irgendetwas, über sie. Aber so deutlich die Frage auch in ihren Augen zu lesen sein mochte, sie stellte sie nicht. Sie wollte nicht hören, was Brix zu sagen hatte, wollte nicht hören, dass er war wie stets. Dass es keinen Unterschied gab. Dass er womöglich diese neue Sklavin bereits in sein Bett geholt hatte… auch wenn sie wusste, dass Brix ihr das wohl niemals sagen würde, selbst wenn es so wäre. Stattdessen fragte sie etwas anderes. "Wie viel Zeit hast du noch? Ich meine, bleibst du noch ein Stück?" Sonnwinn strahlte Brix an, und aus der Küche rief Ferun: "Ja, bleib doch zum Essen – Uland würde sich sicher freuen, dich zu sehen."

  • "Wenn du damit über die Alpen kommst", bemerkte Brix und deutete an Siv herunter. Sie hatte zwar bestimmt auch ein paar wollene Tuniken, aber selbst im Frühjahr war es auf den Bergüässen schneidend kalt. Allein schon was Finn anging, glaubte Brix, dass Siv noch nicht wirklich nachgedacht hatte, wie sie ihn vor der Kälte schützen wollte. Der Germane sah Siv prüfend an und entschied sich dann, das Thema fallen zu lassen. Siv würde sich von ihm vielleicht belehren lassen, aber im Grunde wusste sie, dass das eine anstrengende Reise werden würde, deren Ausgang offen war. Sein Blick fiel auf Finn, als er daran dachte, was passieren mochte, wenn diese Geschichte ein schlechtes Ende nahm. Er wandte den Blick ab und sah wieder zu Ferun, die sich an ihrem Bottich zu schaffen machte.


    Brix nahm Lioba auf den Arm. Auch sie schien sein Bart zu faszinieren, auch wenn sie dabei deutlich vorsichtiger hantierte als Finn. Im Gegensatz zu ihn zupfte sie ihm allerdings auch an den Haaren. Er sah hinunter zu Siv, die gerade für Sonnwinn einen neuen Turm baute. In ihrem Blick schien so viel mehr zu liegen als sie letztenendes fragte. Brix erwiderte ihren Blick noch einen Moment, den Ferun zur Bekräftigung nutzte, dann antwortete er. "Ich würde wirklich gern", sagte er und sah dabei in die Runde. "Aber ich bin eigentlich schon viel zu spät dran. Zu Hause steht alles Kopf." Und bei dieser letzten Bemerkung sah er Siv an. Dann setzte er Lioba wieder auf den Boden neben Sonnwinn. "Ein andermal gern. Passt mir gut aufeinander auf. Und grüßt Uland von mir. Ich werd mich dann auf den Heimweg machen." Brix löste nun noch das Ledersäckchen mit dem Geld und reichte es Siv, die immer noch auf dem Boden saß und ganz von Sonnwinn vereinnahmt wurde. "Hier. Und denk noch mal über meine Worte nach", sagte er zu ihr.

  • Siv sah hinunter und strich sich kurz über die Tunika, die sie trug. Warm genug war sie, immerhin befanden sie sich im obersten Stock der Insula. Sonderlich dicht waren die Wände und das Dach nicht, und im Gegensatz zu den anderen Wohnungen, die sich mittig im Gebäude befanden, kam hier nur noch Wärme von der darunter liegenden Wohnung. Da sie zudem nicht viel Geld hatten für Heizmaterial und Uland ohnehin an allen Ecken und Enden sparte, damit sie für Mogontiacum ein ordentliches Startkapital hatten, war es zwangsläufig notwendig, sich auch hier drinnen warm anzuziehen. Was Brix allerdings über die Alpen sagte, gab Siv zu denken, und als er dann zu Finn sah, wurde ihr plötzlich kalt. Unwillkürlich zog sie ihren Sohn enger an sich, fast als könne sie ihn so bereits jetzt schon vor der Kälte schützen, die ihn erwartete in den Bergen. "Ich… noch ist ja Zeit." Ihr Tonfall hatte etwas Verteidigendes, und obwohl Brix zu dem Thema nichts mehr sagte, fügte Siv noch an: "Uland weiß noch nicht einmal, wann er genau los will." Und sie würden ja sicher nicht von heute auf morgen einfach so aufbrechen. Wenn Uland den Termin für den Aufbruch festgesetzt hatte, würde sie immer noch Zeit genug haben, sich zu kaufen, was sie brauchte. Sie wollte nicht jetzt schon daran denken, was war, wenn sie die Reise antraten. Wie diese Reise womöglich ausgehen könnte. Sie senkte ihren Kopf leicht und legte ihre Lippen an Finns Stirn, hielt ihn einen Augenblick so fest wie sie es wagte, während sie zugleich die Augen schloss. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn zu verlieren. Sie wusste, wie gefährlich das war, wie lächerlich, wie absurd, weil ein Kind nun mal leichter und schneller starb. Finn war noch lange nicht aus dem Gröbsten heraus. Er würde noch Jahre brauchen, bis er aus dem Gröbsten heraus war. Es war… unverantwortlich, dass sie ihr ganzes Herz so sehr an den Jungen gehängt hatte. Aber sie konnte es auch nicht mehr ändern, genauso wenig wie sie etwas daran ändern konnte – oder wollte –, dass sie ihn verwöhnte. Sie hatte ihn fast ständig bei sich. Sie reagierte auf sein Weinen oder Rufen, wann immer ihr es möglich war. Keiner, den sie von früher kannte, war so mit seinen Kindern umgegangen. Es ging auch gar nicht, nicht mit der Arbeit, die man zusätzlich noch hatte, und schon gar nicht wenn dann erst mal mehr als ein Kind da war. Aber Finn war alles, was Siv noch hatte… Und sie schob jede Möglichkeit, dass er irgendwie zu Schaden kommen könnte, weit fort von sich. Sie ertrug nicht einmal wirklich den Gedanken daran.


    Als Brix dann auf ihre und Feruns Frage hin ablehnend reagierte, unterdrückte Siv ein Seufzen. Sie hätte sich gefreut, wenn er noch etwas hätte bleiben können. Sie vermisste ihn… Aber sie wusste auch, dass er nicht einfach tun und lassen konnte, was er wollte. Es war so viel einfacher gewesen, Zeit mit ihm zu verbringen, als sie auch in der Villa gewohnt hatte. Beim Essen, oder einfach so, tagsüber, wenn sie seine Hilfe im Garten brauchte oder er die ihre bei irgendwelchen organisatorischen Sachen, in die er sie eingelernt hatte während ihrer Schwangerschaft, in der sie kaum noch etwas hatte tun dürfen. Oder wenn sie sich einfach so über den Weg gelaufen waren in den Gängen… Als Sonnwinn sie aufforderte, endlich weiterzumachen, setzte sie noch ein paar Steine, bis der Turm augenscheinlich die richtige Höhe erreicht hatte, um wieder umgestoßen zu werden – was sie daraus schloss, dass der Racker das auch gleich in die Tat umsetzte. Lioba ließ kurz von Brix’ Haaren ab und jauchzte auf bei dem Geräusch, und Brix sagte gleichzeitig etwas, was Siv erneut an den Rand der Frage trieb, die ihr auf den Lippen brannte. Zu Hause steht alles Kopf. Warum. Warum… Aber sie schwieg ein weiteres Mal. Es ging sie nichts mehr an. Höchstens noch, dass Brix anscheinend Stress hatte, aber sie konnte auch nichts tun, um ihm zu helfen. "Schade", warf Ferun von der Küche ein. "Wir richten Uland deine Grüße aus – und schau bald mal wieder vorbei!" Siv nickte und stand auf, um das Ledersäckchen zu nehmen und Brix dann kurz zu umarmen, bevor er ging. Und presste dann die Lippen aufeinander als er noch einmal wiederholte, was er zuvor schon gesagt hatte, und als sie wieder diesen Schmerz spürte, den sie am liebsten verdrängte.

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