"Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern daß man nie beginnen wird, zu leben."
- Marcus Aurelius
Den dunklen Mantel dicht um sich geschmiegt und die Kaputze auf dem Haupt lief Avianus in eiligen Schritten durch die von Dunkelheit durchfluteten Straßen der Stadt im Armenviertel, der Subura. Seine Standeszeichen hatte er abgelegt. Niemand sah, wer er war, heute war er kein Senator und ein Patrizier noch weniger. Viele Menschen kamen ihm entgegen, sahen nur diese geheimnisvolle Gestalt namens Tiberius Aurelius Avianus, welcher ein Ziel vor Augen hatte und bis zuletzt gehen würde, es zu erfüllen.
Zu wissen, dass man vielleicht nicht mehr lange lebte, war eine Form von Erlösung, der letzte Ansporn, um zu tun, was man hätte schon längst tun sollen. Avianus musste keine Angst haben. Er ging voran, ruhigen Atems, eine Hand griffbereit an seinem Messer, sich mehr als nur bewusst, dass er für sich selbst das Richtige tat. Er ging voran wie ein Mann, der seiner Bestimmung nicht auszuweichen versuchte, sondern sich ihr stellte, wohl in dem Wissen, dass das Rad des Schicksals sich auch in diesem Moment drehte und die Fäden sponn, die sie alle durch diese verrückte Hölle jagte.
Andere Menschen wachten nicht jeden morgen auf und fragten sich, wo der Vater sei. Für Avianus war dies ein Luxus, den er nie hatte, doch er war es gewohnt und er sah ein: Es war nicht der Weg, der ihm von den Göttern vorbestimmt war. Jeder Schritt machte ihn entschlossener. Die Tage seiner Pein, die ewig aufgerissenen, klaffenden Wunden in seinem Geist, welche immer dann aufrissen, wenn er seinen Vater vermisste. Alles hatte Tiberius hinter sich gelassen, alle diese schmerzhaften, verzweifelnden Tage. Sie waren gezählt. Er war heute ein anderer Mensch. Ein Mensch, welcher sein Recht irgendwie durchsetzen wollte, selbst wenn es sein eigenes Leben einforderte. Niemandem würde vergeben werden, dafür, dass sie seinen Vater getötet hatten. Vergeltung würde kein Gericht der Welt durchsetzen, sondern nur er selbst. Deshalb war er hier unterwegs. Er wollte die Mörder finden, koste es, was es wolle. Einen Schlussstrich ziehen... es klang alles so einfach, dachte er sich, wahrscheinlich würde er dabei sogar draufgehen. Doch es war ihm jetzt mehr egal als jemals an einem anderen Zeitpunkt in seinem Leben. Niemand hatte auch das Recht gehabt, seinen Vater zu töten. Kaltblütig... nur der Gedanke, als er als Jugendlicher seine Leiche erblickte, trieb Avianus dazu an, hier zu sein. Hier herumzulaufen.
Er lief vorbei an einem Liebespaar, an zwielichten Gestalten, die in den Gassen warteten und ihn ignorierten. Das Rotlichtviertel war hier, förmlich durchwuchert mit den unzähligen Lupas und Freudenhäusern. Welch erbärmliches Stadtviertel, dachte sich Avianus.
Er blieb an einer Fackel stehen, welche ein warmes Licht versprühte und sah sich um. Er hatte noch keinen Anhaltspunkt, nach den Mördern seines Vaters zu suchen. Er musste also irgendwo anfangen, wo es ihm wahrscheinlich war, dass jemand etwas wusste. In der Dunkelheit und unter der Kaputze mit gesenktem Kopf erkannte man sein Gesicht nicht. Also suchte er sich ein Lupanar aus, wo er anfangen wollte und trat langsamen Schrittes herein. Entschlossen, das Messer für den Fall der Fälle immer griffbereit. Er mochte den Geruch dieses Freudenhauses nicht und wollte schnell heraus...