ara | Göttliche Zeichen

  • Unförmig und unklar tauchten die Laren aus dem finsteren Zwielicht auf. Narcissa erkannte erst, wohin sie ihre Füße getragen hatten, als sie sich unmittelbar vor den Figuren auf dem als schick zu bezeichnenden Hausaltar auf die Knie sinken ließen. Es war noch sehr früh am Morgen und Apollo schickte sich wohl gerade dazu an, sein Gespann vorzubereiten, um die Sonnenscheibe an das Firmament zu ziehen. Sie legte die Unterarme auf die Kante des steinernen Tisches, stützte das Kinn darauf und betrachtete die Statuetten vor sich. Ihre Augen waren müde. Müde von der durchwachten Nacht, in der sie still in der Dunkelheit ihres cubiculums gelegen und ihren eigenen Gedanken gelauscht hatte. Gedanken über das, was werden sollte. Die Idee der Claudia, die sie auf den Nonae Caprotinae getroffen hatte, war in ihr heran gewachsen.
    Schließlich, nachdem sie alle Optionen durchgegangen war, war sie zu der Einsicht gelangt, dass der Weg der Vestalin tatsächlich eine annehmbare, wenn nicht sogar die beste Möglichkeit war. Doch bis dorthin war es kein einfacher Weg gewesen. Zuerst hatte sie sich darüber bewusst werden müssen, was sie eigentlich selbst von ihrem Leben erwartete. Wollte sie unter die Pantoffel eines x-beliebigen Mannes geraten, den ihre Familie für eine „ehrenwerte Partie“ hielt? Eigentlich nein. In Narcissas Welt gab es jedoch keine klaren „ja“s und „nein“s; Die Grauzone lungerte hinter ihrer scheinbar allzu deutlichen Negation hervor. Denn auf Liebe wollte sie auch wieder nicht verzichten. Das war die eine Wahrheit. Sie wollte den Mann heiraten (müssen), den sie liebte. Andererseits wollte sie eigenständig sein, frei sein eigene Entscheidungen zu treffen und überdies nicht dazu verdammt sein, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Die zweite. Was war nun schwerwiegender? Die Waagschale pendelte unruhig hin und her. >Hier gibt es keine Kompromisse<, wisperte eine leise Stimme in ihrem Inneren. Es war die Vernunft.
    Mit Flora konnte sie dieses Mal nicht sprechen. Es war ihr ureigener Konflikt, bei dem ihr ihre Zwillingsschwester nicht helfen konnte. Schon als sie ihr gegenüber erwähnt hatte, dass Marcus ihr diese Pläne angetragen hatte, hatte sie impulsiv reagiert. Und sie hatte sich mitreißen lassen, weil sie selbst nicht gewusst hatte, was sie fühlen sollte. Aber das hier ließ sich nicht mit Gefühl entscheiden.
    Während sie so in der Dunkelheit unter der Bettdecke gelegen hatte, dachte sie auch an das Gespräch mit der Decima zurück, in das sie durch Zufall geraten war, als sie eine Schrift Sapphos in deren Laden erstanden hatte. Die Schriftrolle lag noch immer auf ihrem Nachttisch, obschon sie sie unlängst ausgelesen hatte, als hoffte sie, die Schönheit und Schlichtheit der Sprache wirke auch noch in ihren Träumen nach. In der Unterhaltung mit der Decima hatte sie das herkömmliche Rollenbild der Frau in Frage gestellt, empört darüber, dass ihre eigenen Grenzen so eng gesteckt waren. Heiraten, Kinder bekommen, fertig. Auch die Claudia war damit nicht zufrieden. Auch sie stand für Selbstständigkeit. Sie, die Vestalin, bedeutete etwas. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihr die Idee des unüblichen Weges. Das Unübliche im Rahmen. Im Grunde stimmte sie der Decima zu. Es war (noch nicht) möglich zu überleben, versuchte man sich außerhalb des Rahmens, der einem durch seine Geburt als Frau gesteckt war, zu bewegen. Man konnte nur das beste aus jenen Möglichkeiten machen, die einem gegeben waren. Und ihr Weg wäre mit Eintritt in die Priesterschaft – wenn! – noch nicht beendet. Sie wäre dann kurz vor ihrem 40ten Winter, aber so frei wie ein Vogel. Gut, für Kinder wäre es dann zu spät, aber wenn sie zu sich selbst ehrlich war, dann glaubte sie nicht daran, jemals eine gute Mutter sein zu können. Dazu war sie viel zu verkopft.


    Jetzt, da Narcissa in dem aufbrechenden neuen Morgen, die Bildnisse der Laren betrachtete, verfestigte sie sich mehr und mehr darauf, dass es kein Zufall gewesen war, der die Claudia und sie zusammen geführt hatte. Es konnte einfach kein Zufall, sondern musste ein Wink der Götter gewesen sein. Einige Lichtstrahlen verirrten sich in das Atrium und setzten den Altar in Brand. Ein Lächeln kräuselte Narcissas Lippen und eine gewisse Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie hatte ihr Entscheidung getroffen.

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