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Die Sonne Italias lag über dem Land, das im Norden der Hauptprovinz des Reiches lag. Das Mutterland der Römer, die einst mit Schiffen an der Küste Italias gelandet waren und kriegerisch, aber auch mit diplomatischem Geschick das Land der Etrusker für sich vereinnahmen konnten. Heute erinnerten nur noch alte Vasen und verborgene uralte Anlagen an jenes Volk, das seine ganz eigene Kultur besessen hatte, teils assimiliert, dann wiederum auch einfach untergraben wurde. Griechenland. Jenes Land hatte Italia nun sehr geprägt und tat es heute auch immer noch. Wer unterrichtete die Jugend Roms? Griechen. Wer prägte die Rhetorik der römischen Senatoren? Griechen. Wer schrieb die Theaterstücke oder inspirierte auch die römischen Autoren? Griechen.
Auch dem Jungen, der heute dem Unterricht seines Lehrers entkommen war, entging es nicht anders. Es war ein Grieche, der ihm den Umgang mit dem Griffel beibrachte, der ihm die Zusammenhänge der Welt erklärte, dem Jungen, der eigentlich wissbegierig genügend war, sich aber seinem Alter entsprechend oft gar nicht dafür interessierte, warum es einen Senat in Rom geben musste und der doch lieber von einem Feldherren träumte, der große Heldentaten beginn und sich davor fürchtete, im Dunkeln in seine Kiste zu sehen, denn er fürchtete, dass dort die Larvae anfallen könnten. Jene, die in den Schatten der Villa hausten, die mit dem Rauch der Kohleschalen in einen schwachen Körper einfuhren, um ihn mit Plage und Alpträumen zu quälen. Zumindest stellte sich Titus Flavius Gracchus das so vor.
Heute hatten sie jedoch genug zu tun in den Eingeweiden von Lynkas, seinem makedonischen Hauslehrer, der sich stöhnend in seinem Bett wälzte, komische Dämpfe ausatmete, die der Junge nicht abbekommen sollten, zumindest hatte die Köchin das zu Titus gesagt, als er sich neugierig an ihr vorbei schieben wollte, um durch den Türspalt in das spartanische Sklavenquartier zu sehen, in dem auch sein Lehrer des nachts hausen musste, mit all den anderen Sklaven zusammen. Es war lediglich die junge Sklavin Assilia, die direkt neben Titus auf dem Boden schlafen musste, um über den Jungen in den dunklen Stunden zu wachen, ob sein Atem auch immer regelmäßig ging, war der Junge doch gerade in den ersten Lebensmonaten immer wieder sorgsam beobachtet worden, ob er überhaupt diese Zeit überlebte. Seine Geburt war schon von großen Schatten umwölkt gewesen und es ein Wunder der Götter gewesen, dass der Knabe jene Zeit recht glimpflich überstanden hatte.
Er durfte Lynkas nicht sehen. Die Sklavenkinder mussten an diesem späten Vormittag noch hart arbeiten, wo er sonst seine Stunden mit dem Makedonier hatte. Schon die Sklavenkinder schleppten Wassereimer heran, leerten die dreckigen Eimer, halfen den erwachsenen Sklaven so gut es ihre kleinen Hände und Körper vermochten. Eine Welt, die Titus immer von außen betrachtete, aber selber keinen Finger anrührte. Er wäre auch nie auf den Gedanken gekommen. Nur wenn es darum ging, die Dinge der Köchin zu probieren, dann ließ er sich mal herab, dem nachzukommen. Aber auch nicht immer, oft hatte der Junge einfach keine Lust zu essen, was die Köchin – Luria – oft in Verzweiflungsseufzen ausbrechen ließ.
Zypressen warfen lange Schatten. Riesen sich gleichend. Titus trat in den Säulengang, der den Garten umgab und sah sich suchend um. Aber es waren keine Kinder am Rande des Gartens, die spähten, ob der kleine Dominus mit seinen Lektionen fertig war, um ihm am Nachmittag beim Spielen Gesellschaft zu leisten. Ein Stirnrunzeln erschien auf dem kindlichen Gesicht, verschwand aber sofort wieder. Er langweilte sich nicht so oft, wie manch ein anderes Kind seines Alters und Standes, wenn er alleine gelassen wurde. Eigentlich sollte Assilia auch bei ihm sein, aber die junge Sklavin, fast noch ein Mädchen, war ausgetreten und hatte dem Jungen gesagt, er möge doch auf sie warten. Er hatte das jedoch nicht vor, sondern tapste los, hinein in den Garten und in den strahlenden Sonnenschein.
„Der große Alexander ritt mit seinen Soldaten den Feinden entgegen.“ Heute war Leonidas vergessen, Alexander, von dem er vor einigen Tagen das erste Mal gehört hat, war viel interessanter geworden. Er hatte Bestien besiegt und war dorthin gereist, wo die Menschen drei Augen besaßen und ganz sicherlich noch viel andere wundersame Dinge taten, die Titus viel zu gerne mal sehen würde. Er hob seine Figur aus Stroh, Holz, Leder und einem Metallhelm an und rannte mit flinken Füßen durch den Garten. „Tschouuuhh, tschaaaaa...da hast du es. Ha! Nimm dies und das du elender Barbar. Du Ungeheur. Die Titanen werden dich strafen. Hah, huuuuuuuuu!“ Immer schneller rannte der Junge, lief um sorgsam geschnittene Hecken herum, prallte fast gegen die Statue des Zeus, dessen grimmige Miene über den Garten hin weg starrte und der bunt bemalt war. „Entschuldigung, Jupiter!“, murmelte Alexander und machte eine demütige Gestik gegenüber der Götterstatue, die aus dem fernen Athen stammte und von einem vortrefflichen Bildhauer, einem berühmten Mann seiner Zeit, aus dem Stein gehauen worden war. Titus hatte keinen Sinn für Zeus und lief schnell weiter, um mit seinem Feldherren gegen die dreiäugigen Inder zu kämpfen, um gegen Tiger und Zyklopen anzutreten, gegen Harpyien und unaussprechliche Ungeheuer.
Dann passierte das Malheur. Gerade als Titus den Stoß gegen den Zyklopen setzen wollte, um ihn mit einem Gladius zu blenden, die Spitze in sein eines Auge zu stoßen, da kam ihm eine Wurzel in die Quere, die weiter hinten im Garten frech und ungefragt aus dem dunklen und fruchtbaren Erdreich hinaus ragte. Der Junge verfing sich mit seinen Sandalen in der Baumschlinge und in seinem Schwung viel er nach vorne hin. Seine Puppe flog einige Schritte weiter und er landete im harten und dreckigen Erdreich. „Au.“, schrie Titus laut auf. Lag dann erst einmal verdutzt einfach nur da und sah auf die trockenen Sträucher vor sich. Der Schock saß in seinen Gliedern und er konnte sich vorerst nicht rühren. „Au.“ Seine Unterlippe begann zu zittern und dann merkte er, dass es ihm weh tat. An seinem Knie. „Aua!“ Tränen glitzerten in seinen großen und dunklen Augen und suchten ihren Weg über seine runden Bäckchen. Er schluchzte und erwartete, dass ihn gleich einige Sklavenhände hoch hoben und in ihre Arme nahmen. Eine Sklavin, am Besten die Köchin, die ihn dann an ihren Busen drückte, wiegte und leise auf ihn einredete, in einem melodischen Singsang und einer Sprache, die er nicht verstand, aber die die Schmerzen etwas erträglicher machte. So war es immer. Den Trost bekam er von den Sklavinnen, die den Knaben allesamt in ihr Herz geschlossen hatte. Titus hatte eine Gabe anscheinend dafür, bei diesen Frauen den Beschützerinstinkt zu wecken. Nur bei seiner eigenen Mutter nicht, die ihn oftmals ansah, als ob er ihr ein widerwärtiges Grauen war. Aber seine Mutter, sie war für Titus dennoch etwas besonderes. Keine Frau war so schön wie sie. Sie hatte etwas von einer Göttin, die durch die Räume schritt. Und sein Lehrer hatte auch ihm lange erklärt, was es mit den Göttern auf sich hatte und dass sie nun mal keine normalen Sterblichen waren. Was Titus nicht ganz verstanden hatte, aber letztendlich war er zu dem Schluss gekommen. Seine Mutter war eine Göttin, die nur einen anderen Namen angenommen hatte. Dennoch hätte er jetzt gerne Arme gehabt, die ihn fest umschlossen und Geborgenheit schenkten.
Das Schluchzen blieb jedoch ungehört.
Oder womöglich doch nicht?