Thaiis saß auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, die Arme um die Beine geschlungen und die Stirn auf die Knie gelegt. Die Geräusche des Marktes drangen in ihre Ohren und machten ihr Angst. Zwar waren sie nicht anders als die auf dem Markt daheim in Platáni, aber viel viel lauter. Und dann diese barbarische Sprache, die hier gesprochen wurde. Schrecklich!
Platáni, wie lange war das her? Gerade drei mal war Selene wiedergeboren worden, seit ihre Familie abgeholt und in alle Winde verstreut wurde. Thaiis konnte sich noch immer nicht vorstellen, was Vater getan haben haben sollte, dass all das Hab und Gut der Familie und am Ende auch die Familie selbst verkauft werden mussten, um die Sühne dafür zu zahlen. Dabei war Vater so ein guter Arzt. War. Thaiis war sich sicher, dass er inzwischen nicht mehr auf dieser Welt weilte.
Auch Thaiis wünschte sich seither oft, dieses Leben verlassen zu können. Vom Gut ihrer Familie war sie zum Hafen der Insel gebracht worden und dort auf ein Schiff. Ihre Begrüßung an Bord bestand aus einer eisernen Schelle, die sich um ihre Fessel schloß und einer Kette, die sie mit einem guten Dutzend anderer Sklaven verband. Thaiss lernte schnell. Sprechen bedeudete Schläge. Aufschauen bedeudete Schläge. Ihren Herren, einen fetten Ägypter, anzuschauen, bedeudete Schläge. Nach zwei Tagen war Thaiis Tunika so zerissen wie die Haut ihres Rückens und ihrer Arme. Ihre Welt bestand aus Schweigen, den Planken des Bootes, die sie anstarrte, und aus Warten.
Das Warten war schlimm. Thaiis Gedanken kreisten immer und immer wieder um ihren Vater, ihre Familie, ihre Zukunft. Die sah wohl so aus, dass sie nach Rom gebracht würden. Wohin sonst? Ihre Mitsklaven waren allesamt dunkelhäutig. Nubier. Und die waren oben im Norden wertvoll. Sie als hellhäutigere Griechin fiel als vorletztes Glied in der Kette auf. Zum Glück schien der Händler eine Vorliebe für dunkle Haut zu haben, so dass er sich Nacht für Nacht eine der drei Nubierinnen holte und Thaiis nicht einmal beachtete. Warten. Tag für Tag auf See, Nacht für Nacht in irgendeinem namenlosen Hafen. Warten auf Rom.
Schlimmer als das Warten war nur noch, dass es kein Wasser gab. Zwar litten sie keinen Durst, aber der Ägypter schien es nicht für nötig zu halten, seine Ware auch zu pflegen. Nach und nach bildete sich eine Schicht aus Schweiß, Staub und Blut auf Thaiis, so dass ihr eigener Geruch ihr Ekel erregte. Ihre Zöpfe waren schon längst zerfallen, ihr Haar verfilzt und nur die Fliegen hatten noch Interesse an ihr. Dann legten sie in Rom an.
Ostia, der Hafen, war riesig. Hier mussten tausende und abertausende Menschen leben. Wie groß musste dann erst Rom sein! Sie wurden über eine schmale Planke an Land getrieben. In einem Schuppen am Hafen wurden sie angeschlossen und dann hiess es im Halbdunkel wieder warten. Am nächsten Tag wurde die Kette von der Wand gelöst und die Gruppe der Sklaven in das gleißende Tageslicht geführt. Draußen begutachtete ein Mann die Nubier, umschmeichelt und hofiert von dem Ägypter, der offensichtlich seine Ware in den höchsten Tönen anprieß.
Als die Reihe an Thaiis kam, griff der Ägypter ihre Haare und zog ihren Kopf daran zurück, dass sie aufschauen musste. Schnell wand sie den Blick zur Seite, zum einen, um nicht wieder Schläge einzustecken, zum anderen, weil das grelle Sonnenlicht sie blendete. Der Käufer lachte auf und winkte ab. Es entstand ein kurzer Wortwechsel, den Thaiis so verstand, dass der Ägypter sie anprieß wie sauren Wein und der Andere keinerlei Interesse an ihr zeigte. Thaiis verstand so gut wie nichts von dem, was die beiden sagten. Und das was sie sagten, hatte sie hofffentlich falsch verstanden. Bergwerk. Thaiis wollte nicht in der Steinmühle enden! Und Wölfe. Sollte sie den Wölfen vorgeworfen werden?
Der Ägypter stiess Thaiis zurück auf ihren Platz und redete weiter auf den anderen ein. Sie verschwanden und kamen am Nachmittag, sichtlich angetrunken, wieder. Die Kette wurde gelöst und die Gruppe und mit ihr auch Thaiis in einen anderen Schuppen gebracht. Thaiis hoffte, dass sie das mit den Wölfen wirklich nur falsch verstanden hatte.
Am nächsten Morgen verliessen sie Ostia. Nein, nicht Ostia. Thaiis wusste inzwischen, dass dieses nicht Ostia war, sondern eine andere Stadt. Eine ehemals griechische. Massalia. Fast wie ein Stück verlorene Heimat.
Die Sklaven, ihr neuer Herr und zwei Maultiertreiber mit ihren vollbeladenen Tieren gingen einen Fluß aufwärts in Richtung Norden. Der Fluss sollte die nächsten Wochen ihr Begleiter werden. Er gab die Sicherheit einer Richtung, wenn auch Thaiis das Ziel, welches sie anstrebten, nicht kannte. Und er brachte noch eine Erleichterung – die Sklaven durften, nein, mussten sich waschen! Wasser so viel sie wollten. Thaiis genoss das eisige Flußwasser, welches all die schrecklichen Gerüche von ihr wusch. Sogar ihr Haar konnte sie wieder in einen halbwegs leidlichen Zustand bringen, wenn sie es auch immernoch unanständig offen tragen musste. Aber bei einer Sklavin würde das wohl keiner anstößig finden. Nach vielen Tagen der Wanderung verließen sie den Fluß, durchquerten ein bergiges Stück unheimlichen Waldes und folgten dann einem anderen Fluß, diesmal abwärts und jetzt eher in Richtung Nordosten. Inzwischen war ein nubischer Junge, der drei Schellen vor ihr lief, gestorben und ihr Hintermann hatte seinen Platz in der Reihe eingenommen, so dass Thaiis jetzt den Abschluß der Kette bildete. Hinter ihr lief nur noch einer der Maultiertreiber mit seinem Tier, während der andere gemeinsam mit dem neuen Herren die Spitze bildete. In Vesontio wurden die drei Frauen und zwei Männer verkauft, so dass jetzt nur noch fünf Sklaven und Thaiis in der Kette liefen. Später kamen zwei neue Männer ihr unbekannter Herkunft hinzu. Viel größer als die Römer und mit hellen Haaren. Solche Menschen trafen sie jetzt immer öfter. Selbst die hellhaarigen Frauen waren oft größer als die Römer. Gingen sie in ein Land der Riesen? Bis Hyperborea?
Irgendwann betraten der Römer, die Maultiertreiber und die Sklaven eine Stadt. Und diese acht Sklaven saßen jetzt hier in genau dieser Stadt, die wohl den unaussprechlichen Namen Mogontiacum trug, auf dem Markt und warteten darauf, verkauft zu werden und einer ungewissen Zukunft entgegenzugehen. Wieder hatten Thaiis Gedanken einen Kreis geschlossen. Sie wusste nicht, wie oft sie all das schon gedacht hatte. Immer wieder und wieder und wieder. Und wieder drangen die Geräusche des Marktes in ihre Ohren und diese barbarische Sprache und machten sie benommen. Was würde sie wohl für ein Schicksal ereilen. Noch vor drei Monaten hätte sie sich davon nichts träumen lassen, damals in Platáni, als erst ihr Vater und dann alle der Familie abgeholt wurden ...