Sie waren die letzten Tage vorsichtig, aber doch beständig nach Süden geritten. Etliche Male hatten sie die Straße verlassen, um quer über irgendwelche winterleeren Felder oder durch kleine Wäldchen zu reiten. Axilla hatte die meiste Zeit keine Ahnung, wo sie eigentlich waren, sie hielt sich einfach in Richtung Süden und hoffte auf das Beste. Ihr selber ging es bei der Anstrengung nicht so gut. Sie erinnerte sich an frühere Zeiten, als sie den ganzen Tag laufen konnte, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, den Wildpferden hinterhergejagt war, die in der Nähe des Landguts ihres Vaters spielten, oder in die Wälder verschwunden war, um den ganzen Tag auf einem einsamen Baum zu sitzen, ehe sie abends mit verharzten Händen und verfilzten Haaren nach Hause gekommen war, todmüde, aber ausgeglichen. Aber das war wohl lange her. Im Moment tat ihr einfach nur alles im Leib weh und ihre Muskeln fühlten sich geschunden und überanstrengt an. Bei jedem Flüstern im Wind und jeder Gestalt, der sie begegneten, raste ihr Herz, bis es schmerzte, und die Kälte drang so tief unter ihre Haut, dass sie schon glaubte, dass ihr nie wieder warm sein würde. Auch das Bärenfell, in das sie sich nachts kuschelte, hielt den eisigen Wind und die frostigen Finger, die durch die Erde nach ihr griffen, nur notdürftig ab.
Aber sie hielt durch. Sie wusste, sie würde es überleben. Sie musste auch, sie hatte da gar keine Wahl. Sie tat es für ihre Kinder, und für die war sie auch bereit, noch weit mehr zu ertragen als das hier. Und wenn sie durch einen Wald kamen, gab es sogar Momente, wenn auch nur kurze Augenblicke dann und wann, da meinte sie, wieder die Nymphen lachen zu hören in den Bäumen, wie damals bei dem ausritt mit ihrem Vater vor so vielen Jahren. Und in diesen Momenten fühlte sie sich beinahe frei.
Malachi ging es da deutlich schlechter. Der Gladiator war Reiten nicht gewohnt und am ersten Tag mehrere Male von seinem Pferd gefallen. Am Abend hatte Axilla eine Leinentunika, die sie zum Wechseln und gegen die Kälte mitgenommen hatte, geopfert, um seine blutigen Schenkel zu verbinden. Er zuckte zwar nicht einmal und jammerte nicht eine Sekunde, war so ruhig und stoisch, wie man es von einem Gladiator nur erwarten konnte. Trotzdem wusste Axilla, dass es große Schmerzen sein mussten, die er für sie erduldete. Sie hoffte nur, dass sie ihm seine Hilfe eines Tages angemessen vergelten konnte.
Weil es so kalt war, schliefen sie nachts eng beieinander. Die erste Nacht hatte Axilla deshalb kein Auge zutun können. Sie war seit Jahren keinem Mann außer dem ihren so nahe gekommen wie diesem Sklaven, und die letzte Begegnung mit ihrem Mann auch schon eine längere Zeit her. Ihr Körper reagierte in einer Art und Weise auf den Geruch und das Gefühl der Sklavenhaut, die Axilla absolut nicht wollte. Und so hatte sie mit starrem Blick und klopfendem Herzen einfach dagelegen und es ignoriert. Malachi hingegen hatte wohl nur eine Weile gewartet, ob von ihr ein Befehl zu körperlicher Nähe kommen würde, als aber keiner kam, war er ruhig und tief eingeschlafen.
In der zweiten Nacht war Axilla dann vor Erschöpfung eingeschlafen, noch ehe sie etwas auch nur gegessen hatte.
Sie hörten sich um in den Dörfern, in denen sie vorbeikamen. Axilla sagte nichts, saß mit tief in die Stirn gezogener Kapuze auf dem Pferd und hoffte, niemand würde merken, dass sie nur eine Frau war und kein junger Knabe. Malachi übernahm das Reden, kaufte hier und da Wein, der sie aufwärmte, oder etwas zu essen. Aber keiner wusste, wo genau Cornelius Palma denn nun steckte. Die einen schickten sie in die eine Richtung, die anderen in eine andere, und die dritten meinten, er sei schon tot und besiegt. Axilla betete, dass dem nicht so war.
Allerdings wussten sie auch nicht so genau, wo sie waren, von daher war es vielleicht nicht das schlimmste, nicht zu wissen, wo ihr Ziel lag. So kamen sie immer voran, jeden Tag ein wenig, jeden Tag vorsichtig, jeden Tag erschöpfter.
Am heutigen Tage aber mussten sie eine Pause machen. Es waren Parentalia, Axilla wusste es genau. Sie waren schon an einigen Menschen vorbeigekommen, die die Geister der Toten beschwichtigten, Salz ausstreuten, Dinkelküchlein zu Gräbern trugen. Es passte zur Jahreszeit und zur Stimmung, die ebenfalls dunkel war.
Malachi hatte mit einer Schlinge ein Kaninchen gefangen und zog es gerade ab. Es stank fürchterlich, aber Axilla hatte Hunger, und sie hatten nur noch wenige Vorräte dabei und nicht allzu viel Geld. Außerdem traute Axilla sich nicht, in die nächste Stadt zu gehen, nachdem in Sie in der letzten beinahe festgesetzt worden wären. Axilla hatte den Grund nicht wirklich verstanden, aber sie wollte es auch nicht wirklich herausfinden. Zumindest hatten sie auch konkretere Angaben, wo der Cornelier wohl sein mochte.
Axilla saß auf dem Bärenfell, die Knie angezogen, und bibberte. Heute war es besonders kalt, ihr Atem stieg als Dampfblasen vor ihr auf. Ihre Finger waren leicht blau. Und sie fühlte sich elend. Nicht wegen dem Gestank. Nicht wegen der Angst. Nicht wegen der Anstrengung. Noch nicht einmal wegen der Kälte und ihrer blauen Finger. Nein, sie fühlte sich elend, weil Parentalia waren, und sie war nicht am Grab ihres Vaters, um ihm zu opfern. Sie hatte noch nicht einmal ihre Laren mitgenommen, um diesen stellvertretend zu opfern. Dennoch wollte sie opfern, damit ihre Ahnen wussten, was sie tat, und ihren Schutz ihren Söhnen angedeihen lassen würden.
Nachdem das Kaninchen gehäutet, ausgenommen und über einem kleinen Feuer geröstet worden war – alles von Malachi, Axilla konnte nach wie vor weniger kochen als er – stand Axilla auf. Sie zog die Schuhe aus und stellte sich auf den gefrorenen Boden. Es war fürchterlich kalt. Sie hatte den Blick zum Himmel gerichtet und keine Ahnung, wie sie das hier anfangen sollte.
“Winde“, fing sie bibbernd und zitternd leise an. Immerhin waren diese sicher übermächtige Wesen, die hier vertreten waren. Von den Göttern und Geistern wusste Axilla es nicht. “ich bitte euch, tragt meine Worte zum Grab meiner Ahnen, damit sie hören, um was ich sie bitten will.
Oh Ahnen der Iunii, edle Vorfahren. Ihr habt so viel geleistet und erbracht im Namen des römischen Volkes. Es ist ein Name, auf den ich stolz sein kann, dank eurer Leistungen und Gaben. Oh meine Ahnen, Vater und Väter meines Vaters. Ich hoffe, ihr seht, dass ich nicht eurem grab fern bin, weil ich euch vergessen hätte. Im Gegenteil, euer großes Beispiel zwingt mich dazu, jetzt hier so fern zu sein. Denn so wie ihr eure Familien gerettet habt durch die Jahrhunderte, muss ich jetzt meine retten versuchen. Ich bitte euch, ich flehe euch an, teilt mit mir mein Essen. Sollte ich nach Rom zurückkehren, schwöre ich euch, euch eine Ziege zur Sühne zu opfern und Salz und Kuchen, wie es euch gebührt. Und sollte ich nicht zurückkehren, bitte ich euch, mich gnädig unter euch aufzunehmen, damit ich mich einreihen kann in dieses edle Geschlecht.
Vorväter, ich flehe euch an, seid meinen Kindern ein Schutz. Auch wenn sie nicht den edlen Namen der Gens Iunia tragen, flehe ich euch an, haltet eure schützenden Hände über sie. Vertreibt alle Mächte, die nach ihnen greifen könnten und lasst ihnen eure Weisheit und euren Schutz zuteil werden, wie ihr auch mich stets begleitet und beschützt habt.
Und verleiht ihnen die Stärke, die unseren Namen so berühmt gemacht hat, stets aufzustehen und zu wagen, das richtige zu tun. Und gebt mir die Kraft, bei dem, was ich tue, nicht zu wanken oder zurückzuweichen. Gebt mir eure Stärke und die Zuversicht. Und lasst mich mein Ziel finden.“ Axilla schaute in den Himmel. Sie hatte keine Ahnung, ob die Winde ihre Worte weitertragen würden. Ob ihre ahnen sie hören würden. Ob sie sie erhören würden. Sie hoffte es einfach.
Sie nahm den letzten Weinschlauch, den sie hatten, und schüttete eine großzügig bemessene Portion auf die Erde. Danach gab sie ihn an Malachi weiter. Irgendwie hatte sie doch weder Hunger noch Durst jetzt. Nach der obligatorischen, leichten Rechtswendung setzte sie sich wieder auf ihr Fell und zog ihre Schuhe an. Ihr war so fürchterlich kalt. Die paar Häppchen des mageren Hasens, die sie doch aß, wärmten sie nicht wirklich auf. Ihre Gedanken waren viele Meilen im Norden bei ihren Kindern.