Rekonstruktion
"Was soll ich denn sonst tun?"
Ein flüchtiges Achselzucken war die Antwort - mehr nicht. Aber wirkliche Anteilnahme hatte Haakon von seinem Gesprächspartner auch nicht erwartet. Trotz der nicht gestellten Frage fuhr er fort um seine Situation weiter zu erklären.
"Als Erstgeborener hätte ich zumindest ein Erbe in Aussicht ... Aber das ist Harleif."
Mit der Zeit wurden auch die Beine des Germanen merklich schwächer. Der Schnee lag in diesem Teile Germaniens bereits ziemlich hoch und reichte Haakon schon bis zum Knie. Das erschwerte ihr Fortkommen immens, auch wenn sie nicht besonders viel Gepäck dabei hatten, lediglich alles was sie besaßen.
Ein vielsagender Blick traf Haakon wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Beschämt blickte er erst zu Boden, ehe ihm die Worte seines Onkels wieder in den Sinn kamen, der ihn ebenfalls des öfteren für solche Gedanken gescholten hatte.
"Ich weiß, dass ich solche Sachen nicht ändern kann und mich darüber nicht beklagen sollte." Aber Harleif brauchte sich für seine Zukunft keinerlei Gedanken machen. Sein Leben war von der Geburt an bereits vollständig von ihren Eltern vorgeplant worden. Er würde das Erbe seines Vaters antreten und in dessen Fußstapfen treten. Da hatte es Haakon bereits etwas schwieriger, immerhin wurde für ihn nichts vorgeplant, geschweige denn hätte er viel Unterstützung durch seine Verwandtschaft erhalten. Lediglich sein Onkel, der ebenfalls das Los eines Spätgeborenen gezogen hatte, konnte so etwas wie Liebe und Zuneigung für ihn empfinden. Doch nach dessen Tod kurz nach dem letzten Winter, wurde Haakons Leben im Dorf immer schwieriger für ihn. Die gehässige Art seines ältesten Bruders schien Kreise zu ziehen und brachte so manches Gemüt gegen Haakon auf. Wie eine Epidemie verbreitete sich dieses negative Verhalten gegenüber Haakon bald im ganzen Dorf. Besonders weil er nun keinen der Älteren mehr als Fürsprecher besaß, sah er bloß diesen Ausweg: Das endgültige Verlassen seiner Heimat und dem Dorf den Rücken zuzukehren und nicht mehr zurück zu blicken. Ein neues Leben war damals für ihn angebrochen. Ein neues Leben, dass bisher noch keine Früchte trug. Im Gegenteil, es war wesentlich beschwerlicher, als er es sich vorgestellt hatte.
Inzwischen war er nur noch einen Tagesmarsch von Mogontiacum entfernt, einer Stadt der römischen Besatzer samt einem Legionskastell auf der anderen Seite des großen Flusses.
Erschöpft vom heutigen Marsch durch den Schnee, wollte Haakon rasten. Sie hatten immerhin eine ganz schöne Strecke bereits hinter sich gebracht, als die Sonne nun langsam am Ende ihrer Talfahrt ankam und sich das rötlich angehauchte Wolkenmeer über ihnen immer mehr verdunkelte. Der Nadelwald bot ihnen die ein oder andere Möglichkeit für einen einigermaßen geschützten Rastplatz, an dem sie auch übernachten könnten.
"Es reicht für heute, wir sollten rasten. Der Platz dort sieht gut aus." Haakon zeigte auf eine einigermaßen windgeschützte Stelle in einer kleinen Nische an der Felswand.
"Sammel du Holz, ich bereite dann schonmal alles vor.", sprach der alte Veteran in seinem gewohnten Befehlston, an den sich Haakon bereits gewöhnt hatte, und ihm dies auch erlaubte, immerhin war er bereits ziemlich alt und noch schwächer auf den Beinen als Haakon. Nickend wandte sich der Germane dann ab und tat wie ihm aufgetragen. Durch die unter den Bäumen nur noch knöchelhohe Schneedecke stapfend, zog Haakon sein Beil aus der Schlaufe an seinem Gürtel. An einem niedrigen Baum angelangt, hielt er mit der linken Hand den Ast, während er mit der Rechten das Beil auf das Holz niederfahren ließ. Diesen Vorgang wiederholte er, bis sich der Ast lösen ließ.
Mit den Armen voller Hölzer kam Haakon dann wieder zur Felsnische, in der der Ältere bereits, wie versprochen, alles vorbereitet hatte. Das letzte Licht nutzten sie nun um die fehlenden Funken zu schlagen, die das Holz noch benötigte um Feuer zu fangen.
"Mit dem nassen Zeug wird das ewig dauern."
"Ich weiß, aber trockenes Holz ist momentan eher schwierig zu finden. Also gib schon her.", blaffte Haakon zurück und nahm dem Alten Silex und Messer ab um selbst dafür zu sorgen, dass sie heute Nacht nicht frieren mussten und wilde Tiere auf Abstand gehalten würden.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis die kleinsten Verästelungen und das nasse Moos endlich ein paar der Funken aufnahmen und zu glühen begannen. Die Nacht war bereits über die zwei Wanderer hereingebrochen, als das Feuer endlich brannte und eine anständige Wärme in die Felsnische drang. Sie saßen noch eine ganze Zeit vor dem Feuer, stillschweigend und horchten dem Knistern des nassen Holzes in den Flammen, ehe der Alte endlich einschlief und Haakon sich mehr und mehr entspannen konnte. Nachdem er noch bisschen Holz nachgelegt hatte, setzte er sich wieder zurück auf sein Fell vor das Feuer und starrte wieder gedankenverloren in die Flammen. Bis ihm ein altes Lied aus seinem Dorfe einfiel, zumindest der Refrain war ihm im Kopf geblieben, dass er kurz darauf auch anfing leise vor sich hin zu trällern...
"Rundherum ums helle Feuer,
rundherum im wilden Tanz,
kreisen Körper, Geister, Blicke,
berühren sich im Fluge."
...ehe er auch endlich den Fängen seiner Träume erlag und sich dem Schlaf hingab.