Iulia Torquata, gekleidet in einem strahlend weißen Gewand betrat barfüßig und mit offenem Haar staunend die mächtige Tempelanlage der Fortuna zu Rom, während sie das Opfertier, ein junges weißes Lamm, an einem Lederriemen hinter sich her zog und das templum, also das Grundstück, auf welchem das Gebäude, aedes, errichtet wurde, durchquerte. Man hatte ihr zwar eine recht aufwendige, große Zeremonie angeboten, aber sie hatte abgelehnt. Denn sie hatte das sichere Gefühl, dass es eine sehr persönliche Angelegenheit zwischen ihr und der großen Göttin war.
Angelangt an dem kunstvoll mit Travertinstuck gechmückten Waschbecken, band sie das Tier an einem Pfosten an und reinigte sich gründlich Gesicht, Hände, Arme und Füße. Als sie sich umdrehte, stand ein in einem Lendenschurz gekleideter victimarius vor ihr - sie verbeugte sich artig, was der Mann mit einem Nicken quittierte. "Hostiam probo", sagte er und zeigte auf das Lamm. Bereitwillig übergab Torquata ihm das Tier zur Überprüfung. Zum Schluss erlaubte der Opferdiener ihr, dem Lamm noch ein kunstvoll geflochtenes Lederhalsband mit einem goldenen Muster umzulegen, da keine Hörner zum vergolden da waren.
Zwei ministri begleiteten sie und den Priester zum Gebäude selbst, wo man ihnen die Tür öffnete - denn sie war ja außer an öffentlichen Feiertagen geschlossen. So gelangten sie ins Innere des Tempels, wobei der Weihrauchduft ihre Nerven beruhigte und sie in die weltlich entrückte Sphäre des göttlichen Heiligtums eintauchen ließ. Im Tempel selbst war es still. Genauso wie es sein musste, denn schließlich galt Lärm als schlechtes Omen. Ein Übriges taten die tibicines und fidicines: Sie spielten auf Doppelpfeifen und Lauten, um die Alltagsgeräusche zu überdecken.
Sie passierten diverse mensae überhäuft mit Opfergaben, die ornamenti genannt wurden und noch andere Arten von sacra supplex - heiligem Hausrat, bis sie schließlich die cella, die dreiwändige Kammer mit dem kostbaren Kultbild der Göttin Fortuna erreichten, wo der Priester sie mit der Gottheit allein ließ. Denn was nun folgte, war nur für die Augen und Ohren der Fortuna bestimmt.
Hingebungsvoll sank Torquata anmutig vor dem foculus in die Knie und platzierte einen Teller, gebrannt aus dem berühmten rötlichen Terra Sigillata, mit feinem Gebäck und Obst sowie eine Kanne Chios auf diesen Opfertisch.
Dann begann sie mit ihrem Gebet.
"Oh heilige Göttin Fortuna! Du,die du die Mutter des Schicksals bist hast bereits viele Wundertaten vollbracht.
Du ließest meine Mutter Fundania Maximilla wie durch ein Wunder vom Kindbettfieber genesen und brachtest meinen Vater, Caius Iulius Octavenus, unversehrt aus einer hoffnungslosen Schlacht, als er als Soldat dem römischen Volke diente. Du ließest meinem Bruder Servius Iulius Macro das Leben, als unsere Eltern getötet wurden und mir, einer Waise, einen Verwandten. Mich selbst verschontest du ebenfalls und sorgtest dafür, dass mir Unterschlupf bis zum heutigen Tage gewehrt wurde. Für all diese Dinge danke ich dir vom ganzen Herzen.
Du lehrtest mich Glück, wofür ich dich verehre und straftest mich mit Elend, wenn ich in meiner Hochmut dich beleidigte und gegen dich frevelte. Doch in jedem Falle genießt du meinen größten Respekt und Loyalität. Nun bitte ich dich inständigst darum, mir eine sichere Zukunft hier in meiner neuen Heimat Rom zu bieten, denn die Frau meines Vormundes, deren Name du in deiner Allwissenheit kennst, ist mir nicht gewogen. Aus diesem Grund möchte ich in die Dienste der Götter treten! Ich gelobe, so wahr ich eine Iulierin bin, mich allen göttlichen Gesetzen zu beugen und die Interessen der Götter auf Erden zu vertreten, so du gewillt bist, mir das Amt einer Vestalin anzuvertrauen.
Ich gelobe, mich aus allen profanen Bindungen zu lösen und übergebe meine Person - Leib und Seele - in den Besitz und in die Vormundschaft der olympischen Götter."
Nachdem das Gebet beendet war, holte Torquata aus den Tiefen ihrer Tasche eine Halskette. Sie bestand aus winzigen silbernen Plättchen und war besetzt mit Aquamarinen. Sie gehörte ihrer Mutter. Es schmerzte Torquata sehr, sich davon zu trennen, doch es fühlte sich zugleich auch richtig an. Indem sie sich diesem seelischen Schmerz aussetzte, bewies sie Fortuna ihre Aufrichtigkeit.
Schließlich wandte sie sich kurz nach rechts, womit sowohl das Gebet als auch das Voropfer endgültig beendet war.
Der Opferdiener hatte vor der Nische auf sie gewartet und sie begaben sich stumm zum Vorplatz, wo das blutige Opfer stattfinden würde. Sie wurden mit Wasser in einem Reinigungsritus besprengt und dann hieß es "Fave linguis! Hüte deine Zunge!" Da Torquata ohnehin schwieg, ging der Priester sogleich dazu über sich die Hände zu waschen und sie dann anschließend mit dem mallium latum abzutrocknen.
Das Lamm war bereits mit Ringen und Ketten am Altar festgebunden. Nachdem die Opferdiener das Tier mit der mola salsa, dem Opferschrot, bearbeitet hatten, wurde der Halsband abgenommen. Man strich dem Opfer mit dem Opfermesser culter einmal vom Kopf bis zum Schwanz und verlas das Opfergebet.
Auf die Frage "Agone?" erfolgte umgehend die Antwort "Age!" und man schlug dem Lamm mit dem malleus zur Betäubung auf den Kopf, bevor der cultrarius ihm die Kehle aufschnitt. Es fiel Torquata schwer, diesem Teil der Zeremonie zu folgen, denn so wie das Tier sich in seinem Blut wand, stiegen schreckliche Bilder vom Tod ihrer Eltern vor ihrem geistigen Auge auf. Aber das Mädchen hielt sich tapfer. Andererseits war sie erleichtert, dass so viel Blut floss, denn umgekehrt hätte es ein schlechtes Omen bedeutet!
Die Eingeweide wurden in eine patera gelegt und Torquata atmete erleichtert auf, als "Litatio!" verkündet wurde. Also war das Tier gesund und Fortuna hatte ihr Opfer angenommen!
Eben diese Erleichterung - es fühlte sich an, als wäre eine lange getragene Last von ihr genommen worden - hielt sich den ganzen restlichen Tag lang. Auch, nachdem sie den Tempelbezirk der Stadt schon längst hinter sich gelassen hatte.
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