Aufbruch

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    Schon die ganze Nacht hindurch flackerte ein schwacher Feuerschein vom Huwanhnella auf das finstere Flusstal hinab. Die Häupter der Askaleuda hatten sich bereits am Abend auf dem Gipfel des geweihten Felsens zum Thing zusammengefunden und berieten dort nach endlosen Stunden noch immer. Sehr zum Leidwesen des guten Dutzends Jungmannen, das am Fuß der schroffen Klippe ebenfalls schon seit der Abenddämmerung angespannt darauf wartete, hinzu gerufen zu werden. Einige der jungen Männer hatten sich zwischen die Sträucher gelegt und dösten still vor sich hin, andere versuchten, ihrer Aufregung Herr zu werden, indem sie herumbalgten wie Hundewelpen, was auf dem nachtdunklen Waldhang gar nicht so ungefährlich war. Wieder andere, darunter Arwed und sein Bruder Ove, hatten sich vorsichtig den steilen Pfad ein Stück empor geschlichen, um wenigstens ein paar Fetzen von dem aufzuschnappen, was dort oben besprochen wurde. All zu viel bekamen sie nicht mit, weil die dunklen Stimmen der Männer von Bäumen und Büschen gedämpft nur noch als dumpfes Gemurmel bei ihnen ankamen. Also krochen sie immer weiter hinauf, bis sie plötzlich von schweren Schritten aufgeschreckt wurden und das zuckende Licht einer Fackel auf sich zu tanzen sahen. Die unfolgsamen Lauscher machten sofort kehrt, versuchten sich möglichst lautlos den Pfad wieder hinunter zu stehlen, kamen aber nur ein paar tastende Schritte weit, bis der Lichtkegel sie erreicht hatte.


    „Beim Iuppiter! Hat man euch nicht eingeschärft, unten zu warten!“ polterte es rau über den Hang. Die Flüchtenden erkannten die Stimme und blieben abrupt stehen. Arwed stieß ein erleichtertes Keuchen aus. Der breitschultrige Fackelträger, der den Pfad herunterkam, war keines der strengen Sippenhäupter, sondern Thrasea, der römische Vertraute seines Großvaters und langjährige Freund seines Vaters. Von Thrasea hatten sie nichts zu befürchten. „Nun bleibt schon hier. Ihr sollt raufkommen. Also ab! Ich hol derweil den Rest von euch Helden.“


    Als Arwed zum ersten mal in seinem Leben den Thingplatz betrat, brauchte es ein paar erschrockene Atemzüge, bis er in dem hell erleuchteten Riesen, der reglos hinter dem Feuer stand, seinen Großvater Baltram erkannte, das Oberhaupt der Askaleuda. Allerdings hatte dieser hoch aufgeschossene Mann, der einen gigantischen Schatten auf die hinter ihm stehenden Gestalten warf, nicht viel mit dem gutmütigen Geschichtenerzähler gemein, den Arwed kannte und liebte. Dort stand kein gebeugter alter Hofherr, sondern ein aufrechter Krieger in den besten Mannesjahren. Während Arwed allmählich die verschatteten Gesichter der anderen Anwesenden unterscheiden konnte, Notger, Goswin, Walram, Swidger, Wiborg, sein Vater Halvor, der Gode Throals und die Völve Dankrun, hatte Thrasea auch die übrigen Jünglinge eingesammelt und auf den Platz geführt. Baltram blickte eine Weile gedankenverloren ins Feuer und wandte sich dann mit ernster Stimme an die Neuankömmlinge. „Söhne der Askaleuda. Der Morgen ist nicht mehr fern. Wenn Sol ihren Wagen über die östlichen Hügel gelenkt hat, werdet ihr uns verlassen.“


    Arwed runzelte verwundert die Stirn. Um ihnen das mitzuteilen, hatten man sie also die ganze Nacht lang warten lassen? Das war doch alles längst besprochen. Die Bündel waren gepackt, die Pferde ausgesucht, was sollte das ganze?


    „Die Götter haben uns kein gutes Jahr gewährt. Der Sommer ist heiß und trocken wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Ihr seht es selbst. Die Dalslang führt kaum noch Wasser. Die Halme dörren auf den Feldern und das Vieh leckt den blanken Staub von den Weiden. Kaum ein Dutzend Männer und Weiber wird es brauchen, um die erbärmliche Ernte einzubringen.“


    Nur mühsam gelang es Arwed, seine Ungeduld zu zügeln. Ja, sicher, sie sahen es selbst. Seit Brachet hatte es nicht mehr geregnet. Tagtäglich musste das Wasser von der Quelle der Dalslang auf die Felder hinaus gekarrt werden. Die Rinder waren von der Hochebene wieder ins Tal zurückgerieben worden, wo das Gras zwar nicht grüner war, aber wenigstens die Viehtränken gefüllt werden konnten. Gewiss, das war eine ernste Sache aber beileibe keine Neuigkeit. Die Alten würden schon damit fertig werden, wenn sie ihre Zeit nicht mit endlosen Versammlungen verschwendeten. Er hielt nicht viel von diesen steifen alten Riten. Der kalte Ernst, den die Sippenhäupter dabei zur Schau trugen, war ihm immer ein wenig unheimlich gewesen. Außerdem hasste er lange Abschiede. Die Mütter hatten ihre Söhne bereits gesegnet und ihnen das Gepäck zusammengestellt. Wozu also noch einmal feierlich verkündigen, was ohnehin seit Wochen das Hauptgesprächsthema auf den Höfen war? Besser sie ritten zeitig los, um die kurze Frische der Morgenstunden zu nutzen.


    „Dankrun hat Wentruz gesehen. Früh wird er kommen, lange bleiben und uns mehr nehmen als wir haben. Deshalb müsst ihr gehen. Nicht im Winnemanod, wie all die jungen Krieger, die euch vorangegangen sind. Nein. Heute. Eure Bestimmung kennt ihr seit langem. Ihr seid auf diesen Tag vorbereitet worden. Nun ist er da. Wenn auch vor der Zeit. Rom verlangt seinen Tribut und es soll ihn erhalten. Die Askaleuda stehen zu ihrem Wort, wie sie es immer getan haben. Schon zu Zeiten Askans, als unser Volk den Norden durchwanderte ...“


    Arweds Geduld drohte endgültig zur Neige zu gehen. Was jetzt kam, kannte er bereits, und nicht nur er, jeder kannte die Geschichte der Askaleuda und ihrer weisen Herren. Kein Talbewohner, ob Herrschaft, Gesinde oder Unfreier, der nicht noch im Halbschlaf sämtliche Namen der alten Stammeshäupter hersagen konnte. Baltram würde sie trotzdem wieder einmal alle aufzählen, einen nach dem anderen: Askan den aus der Esche Geborenen, Feind des Drusus, Flüchtling, Geläuterter, Friedensstifter, Stammvater der Askaleuda. Dann Guntwin, den Wanderer, der den Stamm bis herunter an die Dalslang geführt hatte. Gefolgt von Imbert dem Pferdeherren und schließlich Baltram dem Römer. Arwed konnte auf eine stolze Ahnenreihe zurückblicken, und das hatte er all die Jahre auch immer getan, jedes mal, wenn sein Großvater davon angefangen hatte. Mittlerweile hingen ihm diese ganzen Geschichten zum Hals raus. Jeder, wirklich jeder, zwischen Cochara und Danuouwe wusste, dass sich die Häupter der Askaleuda schon seit hundert Jahren an die einst geschlossenen Verträge mit Rom hielten und jede Generation ihr Kontingent an Söhnen in römische Dienste geschickt hatte. Warum Baltram trotzdem immer wieder darauf herum ritt, war Arwed ein Rätsel.


    „Die römischen Speicher sind voll. Den Romani droht im kommenden Winter keine Not. Sie werden für euch sorgen. Wir können es nicht. Nicht nach einem Jahr wie diesem. Ihr werdet den Samen des Stammes, die Kraft und den Ruhm der Ahnen aus unserem Gau hinaustragen unter die Schwingen der Adler, denn ihnen gehört die Zukunft. Die Zeit im Schatten der Aska endet für euch mit dieser Nacht.“


    Aus dem Gau hinaus? Unsinn. Was redete Baltram denn da? Das Castellum der Ala Secunda Flavia lag nur eine knappe Wegstunde südlich, kein Grund also, sich in schwermütigen Abschiedsreden zu ergehen. Natürlich, die jungen Männer würden das Dorf an der Dalslang so schnell nicht wiedersehen, wahrscheinlich erst nach dem Ende ihrer Grundausbildung, aber die berittenen Patrouillen, die alle paar Tage durch das Tal trabten, würden sicher Nachrichten und Grüße überbringen, es ging schließlich um ihre künftigen Kameraden. Und, wer weiß, vielleicht war es den Sippenhäuptern sogar erlaubt, ihren Söhnen einen Besuch abzustatten.


    „ .. sollte der eine oder andere von euch eines fernen Tages wiederkehren, wird er das Leben durch die Augen eines Römers betrachten. Ich werde nicht mehr da sein, um euren Blick auf die Ahnen zu lenken. Das ist der Gang der Dinge. Darum nutzt den Weg in die Fremde, um noch einmal den Geist weit zu machen für die Welt eurer Väter. Erfüllt eure Pflicht. Fürchtet weder Mensch noch Tier und hinterlasst eure eigenen Zweige in der Krone der Esche. Jeder Hofherr wird die Seinen ein Stück des Weges begleiten. Walram wird nach Süden ziehen, Halvor nach Norden, Notger nach Westen und Wiborg nach Osten. So ist es beschlossen.“


    Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube horchte Arwed auf. Nach Norden? Aber da war nichts! Ein paar Höfe, ein schwach besetzter römischer Vorposten, sonst nichts. Er war schon ein paar mal dort gewesen, das letzte mal im Frühjahr. Ove, Vater und er hatten die Spur eines verwundeten Ebers verfolgt, durch das ganze Tal hinauf, über die Cochara bis zu den Wällen des Römerpostens. Nördlich davon gab es nur Wald. Dunkel wie die Quellkluft der Dalslang, hoch wie der Huwanhnella. Was sollten sie da? Roden?
    Obgleich die aufkeimenden Fragen fast mit Händen greifbar über den Köpfen der nervösen Jungmannen zu schweben begannen, hatte Baltram seinen Worten offenbar nichts mehr hinzuzufügen. Bekümmert nickend trat er ein paar Schritte zurück und überließ seinem Platz am Feuer dem Goden, der nun mit einem langen Bündel aus Eschenzweigen in der einen und einem Metkrug in der anderen Hand zu den Flammen schlurfte.


    Ove war ebenfalls unruhig geworden und wisperte abgehackt über Arweds Schulter. „Was meint Großvater damit? Wieso ist er nicht mehr da? Wieso gehen wir nicht zusammen? Wo sollen wir denn jetzt eigentlich hin? Meint er weit weg? Ich versteh das nicht.“ „Still!“ zischte Arwed zurück. Noch hatte der Gode sein Ritual noch nicht einmal begonnen, und so lange er zugange war, hatte keiner den Mund aufzutun, schon gar nicht einer der Jungen. Aber Ove gab keine Ruhe, zerrte so lange am Mantel seines Bruders, bis Arwed sich nicht mehr anders zu helfen wusste als Ove gegen den Fußknöchel zu treten. „Lass das! Vater wird uns alles erklären.“ Noch ehe das letzte geflüsterte Wort seinen trockenen Mund verlassen hatte, spürte Arwed bereits den strengen Blick Halvors auf sich und blickte mit verkniffenen Mundwinkeln zu Boden. Halvor brauchte ihn gar nicht so missbilligend anzustarren. So wie sich die Dinge nun darstellten, hatte er Arwed belogen, Arwed, Ove, womöglich auch ihre Mutter und ihre Schwestern. Alle hatten sie gelogen, alle wie sie da im Halbkreis hinter dem Feuer standen.
    Ja, vorbereitet waren die jungen Männer, da hatte Baltram wahr gesprochen. Sie alle wussten schon seit langer Zeit, dass sie dazu bestimmt waren, sich dereinst der Auxilia anzuschließen, um am Ende ihrer Dienstjahre das zu erhalten, was ihren Vätern bislang verwehrt geblieben war: Das römische Bürgerrecht. Nicht einer war unter ihnen, der mit dieser Bestimmung gehadert hätte. Die allermeisten, so auch Arwed, brannten geradezu darauf, die Enge des Tales für ein paar Jahre zu verlassen, um zusammen mit Brüdern, Vettern und Freunden im nahen Aquilea Dienst zu tun. Gemeinsam, so hatte man sie glauben lassen, würden sie das Kriegshandwerk erlernen und das Grenzgau gegen alle drohenden Gefahren verteidigen. Sie in alle Windrichtungen zu zerstreuen und sie an Orte weit jenseits der Welt ihrer Väter zu schicken, wie Baltram hatte durchblicken lassen, davon hatte niemand je gesprochen.


    Der alte Throals war unterdessen dabei, das Zweigbüschel mit zittriger Hand über das Feuer zu halten bis fahler Rauch von den versengten Blättern aufstieg. Dann goss er einen großzügigen Schwall Met über die glühenden Zweige, wirbelte das qualmende Bündel über sein weißes Haupt und erhob ein gutturales Gebrüll, von dem keiner der Anwesenden auch nur ein Wort verstand. Selbst wenn einer davon Throals altertümlichen Dialekt beherrscht hätte, wäre ihm der Wortsinn dennoch verborgen geblieben, weil der Gode schon seit Urzeiten keinen einzigen Zahn mehr zwischen den Kiefern hatte und ihm bei jedem Laut der Speichel in hellen Fäden aus dem Mund sprühte. Unbeirrt spuckte und schrie sich Throals weiter durch sein bizarres Ritual, von dem Arwed Mangels tieferer Kenntnis einfach mal annahm, dass es sich an die Nornen richtete und die scheidenden Krieger deren Schutz überantworten sollte.
    Wieder hielt der Gode die Zweige in die Flammen, wieder löschte er den Brand mit Met, diesmal jedoch schlenkerte er das triefende Bündel keifend in Richtung der Sippenhäupter, die so in den Genuss eines feinen Metregens kamen. Zurück am Feuer stolperte Throals über seine eigenen Füße, landete funkenstiebend in der Glut, rappelte sich aber sofort wieder hoch und wiederholte das Ritual erneut. Den Zweiten Schauer ließen die ehrenwerten Männer noch über sich ergehen, als Throals aber zum dritten mal mit den tropfenden Zweigen auf sie zuwankte, trat Baltram mürrisch vor, drehte den Goden einmal um die eigene Achse und schob ihn energisch auf die Jungmannen zu, aus deren Reihen inzwischen gedämpftes Kichern drang. Throals focht das nicht an. Völlig durchdrungen von seiner heiligen Handlung schüttete er den Rest des Mets über das verkohlte Zweiggewirr und bespritze die grinsenden jungen Gesichter mit schwarzer Brühe. Anschließend taumelte der Gode murmelnd zur Feuerstelle zurück, setzte sich umständlich auf den Boden und rührte sich fortan nicht mehr.


    Auf dem Huwanhnella kehrte Stille ein. Alle Augen waren auf Throals gerichtet, aber der glotzte nur irritiert in den leeren Krug. Arwed wischte sich die dunklen Metschlieren von der Stirn. Ove räusperte sich gedehnt. Die anderen scharrten nervös mit den Füßen oder kämpften erfolglos gegen das Gähnen an. „Mir scheint, das Ritual ist beendet.“ brach Thrasea endlich das verlegene Schweigen. „Ich werde euch zurück ins Dorf begleiten. Eure Väter haben noch ein paar Dinge zu besprechen bevor sie nachkommen. Also, folgt mir.“ Fragen oder Wortmeldungen waren offenbar nicht vorgesehen, ohne ein weiteres Wort der Erklärung setzte sich Thrasea mit erhobener Fackel in Bewegung. Die jungen Askaleuda trotteten ihm ergeben hinterher den Pfad hinab.


    Bei den ersten Hütten angekommen machte der Römer Halt. „Ihr solltet jetzt die Pferde fertig machen. Vielleicht legt ihr euch auch noch eine Hora ins Heu und versucht, etwas zu schlafen.“ Arwed stapfte schweigend an Thrasea vorbei auf die Ställe zu. Schlafen? Jetzt? Das sollte wohl römischer Humor sein.

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    Wie es beschlossen war, geschah es auch. Noch ehe die ersten Sonnenstrahlen an den westlichen Hängen hinunter gewandert waren, verließen zwanzig Reiter und vier Packpferde die langgezogene Siedlung an der Dalslang. Das kurze Wegstück bis zur Straße am östlichen Talsaum legte die Kolonne gemeinsam zurück, dann teilte sie sich. Walram und Wiborg schlugen mit ihren Männern den Weg flussabwärts nach Süden ein, die Schar von Notger und Halvor folgte der von den Romani erst jüngst verbreiterten Talstraße nach Norden. Arwed schmollte. Während Ove unentwegt quasselnd neben Halvor her ritt, um ihn mit Fragen zu löchern, ließ sich Arwed demonstrativ zurückfallen. Fragen hatte er auch, einen ganzen Kopf voll, nur wollte er Halvor spüren lassen, dass er ihm seine Unaufrichtigkeit noch längst nicht verziehen hatte. Sicher würde sein Vater ein halbes Dutzend guter Gründe vorbringen, die die Alten dazu bewogen hatten, ihre wahren Pläne bis zur letzten Nacht vor den Jungmannen geheim zu halten, und möglicherweise war der eine oder andere Grund sogar ganz einleuchtend, aber Arwed wollte trotzdem nichts davon hören. Einerseits brannte er natürlich eben so wie alle anderen darauf, zu erfahren, wohin die Reise ging und bei welcher Einheit sie am Ende landen würden, andererseits spielte es jetzt, wo der Traum von der Ala Secunda Flavia geplatzt war, keine große Rolle mehr, in welchen Winkel des Imperiums es sie verschlug. Fremde unter Fremden würden sie ohnehin sein. Ein Blick auf die vollgepackten Lasttiere genügte, um sich klar zu machen, dass sie nicht nur eine knappe Tagesstrecke vor sich hatten.


    ÷ ÷ ÷


    Es wurde hell, es wurde heiß und es wurde anstrengend. Arwed ging schnell auf, dass es keine besonders gute Idee gewesen war, sich in der Kolonne so weit nach hinten zu begeben. Von den achtundvierzig Hufen, die monoton über den trockenen Boden stampften hatte er nun zweiunddreissig vor sich, und der aufgewirbelte Staub drang unerbittlich in sämtliche Körperöffnungen, die nicht von der Kleidung verhüllt wurden. Die Augen brannten, die Ohren juckten, die Nase klebte und die Zunge fühlte sich an wie geräuchert. Hustend wandte Arwed sich um. Hinter ihm trabte nur noch die Nachhut gemächlich durch die Morgenhitze, bestehend aus Thrasea und seinen beiden wortkargen römischen Begleitern. Denen machten die Staubwolken offenbar nicht viel aus. Erstaunlich, da die Romani ansonsten einen schon fast lächerlichen Hang zur Reinlichkeit hatten. Thrasea machte sogar einen ziemlich gut gelaunten Eindruck unter der hellbraunen Dreckkruste. Als er Arweds Blick auffing, trieb er sein Pferd an und schloss auf. „Was soll die Trauermiene? Hier, Junge. Spül mal durch.“


    Mit geübtem Handgriff löste Thrasea einen prall gefüllten Lederschlauch vom Sattel und hielt ihn Arwed unter die Nase. „Trocken schmeckt der Staub nur halb so lecker.“ Arwed war sich einen Moment lang unschlüssig, ob er sein vorwurfsvolles Schweigen auch Thrasea gegenüber aufrecht erhalten sollte. Immerhin war er der engste Freund seines Vaters und ging ganz selbstverständlich überall dort hin, wo sich auch Halvor aufhielt. Belogen jedoch hatte Thrasea ihn noch nie. Nach kurzem Zögern nahm Arwed den Wasserschlauch. Wasser war das zweifelsfrei nicht, stellte er nach dem ersten Schluck fest, kostete dann nochmal und nochmal. Nein, das war süßsauer, dickflüssig und ausgesprochen süffig. Mit einem anerkennenden Nicken gab er den Schlauch zurück. „Wein?“
    „Selbstverständlich. Was sonst.“ grinste Thrasea und nahm seinerseits einen tiefen Schluck. „Das Wasser den Gäulen, den Romani der Wein.“ Ungewollt huschte ein Schmunzeln über Arweds Gesicht. „Und den Barbari die Pisse. Richtig?“ Mit einem rauen Lachen patschte Thrasea seine Pranke freundschaftlich auf Arweds Schulter. „Na also. So gefällst du mir schon besser, Junge.“ Dann wurde der Römer wieder ernst. „Hör mal, Lucius. Es ist nicht recht von dir, deinen Vater für die Umstände verantwortlich zu machen. Caius hätte euch auch lieber bei der Flavia untergebracht. Euch alle miteinander. Es geht nur nicht.“ Arwed schnaufte vernehmbar. Lucius. Caius. Thrasea nannte die Askaleuda immer und ausschließlich bei ihre römischen Namen, was Arwed grundsätzlich nicht all zu sehr störte, nur hätte er sich manchmal schon gewünscht, der Römer ließe den Wurzeln seiner nichtrömischen Freunde ein klein wenig mehr Respekt angedeihen.


    „So? Und warum nicht? Ich dachte, es sei alles längst mit Präfekt Falcidius abgesprochen. Und wieso darf ausgerechnet Walrams Blase dort Dienst tun, und wir nicht? Die Bauerntölpel sprechen doch nicht mal vernünftiges Latein.“
    „Wie kommst du darauf, dass Walram seine Leute nach Aquileia führt?“
    „Na, wen hat denn der Rat nach Süden geschickt? Die Absprache mit dem Präfekten gilt doch wohl für uns alle, und nicht nur für diese drei Holzköpfe.“


    Nachdem er erneut herzhaft durchgespült hatte, verzurrte Thrasea den Schlauch wieder am Sattel. Einen Augenblick schien er mit sich zu hadern, rang sich dann aber dazu durch, Arwed mit den Antworten zu versorgen, die eigentlich sein Vater ihm hätte geben sollen.
    „Da liegst du leider falsch, Lucius. Keiner von euch Jungen wird heimatnah stationiert. Walrams Gruppe ist auf dem Weg nach Vindonissa im Südosten von Germanica Superior. Praefectus Falcidius ist an den Kalenden abberufen worden, und Cossutius Catus, sein Nachfolger, will nach eigenen Worten keine Schar hungriger Suebi durch den Winter füttern, deren Eintritt in die Auxilia erst für den nächsten Frühling vorgesehen war. Ganz abwegig ist der Standpunkt nicht, wenn man bedenkt, dass die Verpflegung seiner Ala zu einem Großteil aus Erzeugnissen des Umlandes gedeckt wird, und wie es nach diesem katastrophalen Sommer mit der Ernte aussehen wird, weißt du selbst. Keines der kleineren Castella, weder in Aquileia noch in Celeusum nimmt vor dem Frühjahr neue Rekruten auf. Deswegen werdet ihr auf mehrere große Standlager verteilt. Wiborgs Schar reitet nach Noricum. Notgers Trupp begleitet uns noch ein Stück und biegt dann nach Westen ab, in Richtung Argenturatum am Rhenus. Auch du, Ove und Ratnar werdet euren Dienst am Rhenus leisten, allerdings viele Meilen weiter nördlich in der Garnison von Mogontiacum. Zunächst aber werden wir uns nordwärts halten, durch Germania Magna auf den Moenus zu. Caius und ich haben bei Virtibriga Geschäfte zu erledigen. Erzstangen, Tuch, vor allem Pferde. Du weißt schon. Wie immer eben. “


    „Sicher. Pferde. Wie immer eben.“ antwortete Arwed verwirrt. Im Moment interessierten ihn die Geschäfte seines Vaters herzlich wenig. Was Thrasea ihm gerade dargelegt hatte, wollte erst einmal verdaut werden. Mogontiacum. Gehört hatte er schon einmal davon. Wenn er sich recht entsann, lag das wohl irgendwo in der Mitte der Perlenkette, wie Halvor das schier endlose Band von römischen Städten und Befestigungen nannte, das sich vom Westen Raetias bis hinauf an die eisige See wand. Dort oben war es sicher arschkalt und stinklangweilig. Vielleicht würde die Umstellung für die Askaleuda ja auch gar nicht so schwer werden wie befürchtet, denn hier unten war es zwar sauheiß aber ebenfalls stinklangweilig.
    „Und wie lange werden wir unterwegs sein?“ fragte er schließlich kleinlaut. Thrasea wischte sich den Schweiß von der breiten Stirn und schlug diese dann nachdenklich in Falten. „Drei Tage würde ich sagen. Wenn das Wetter mitspielt. Wenn nicht, können es auch vier Tage werden. Die alten Handelswege durch die Wälder von Germanica Magna sind längst nicht so gut ausgebaut wie die römischen Straßen am Rhenus. Zudem ist es weiter nördlich längst nicht so trocken wie hier. Ein schwerer Gewitterschauer und die Pferde stehen bis zu den Fesseln im Matsch.“ Arwed nickte resigniert. Deshalb auch die Menge an Proviant auf den Lasttieren.


    Eine gute Stunde ritten Arwed und Thrasea schweigend neben einander her. Die Kolonne durchquerte den seichten Oberlauf der Cochara, zog an braunen Wiesen und verstreut liegenden kleinen Gehöften vorbei, schlängelte sich träge zwischen den bewaldeten Hügeln hindurch wie eine satte Blindschleiche. Staub und Hitze machten Pferd wie Reiter zu schaffen. Sogar Ove war mittlerweile verstummt. Arwed hatte seinen Blick auf den schwankenden Rücken Halvors geheftet. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten schmolz sein Trotz weiter dahin. Wie lange sollte er noch schmollen? Die nächsten drei, vier Tage? Die ganze Wegstrecke lang? Wie lange, und vor allem, wozu? Wenn es sich wirklich so verhielt wie Thrasea gesagt hatte, war Halvor kein Vorwurf zu machen. Außerdem wusste niemand, ob oder wann Arwed seinen Vater wiedersehen würde, wenn er erst einmal bei der Auxilia verpflichtet war. Und Halvor war ein guter Vater. Ein so strenger wie gütiger Vater. Es wurde Zeit, mit den Albernheiten aufzuhören und sich der Zukunft zu stellen.
    Als hätte er Arweds Gedanken erraten, hieb ihm Thrasea plötzlich klatschend auf den Oberschenkel und deutete auf die Spitze eines Wachturms, die hinter einer sanften Hügelkuppe zum Vorschein kam. „Schau. Da drüben, gleich nach dem Turm endet Raetia. Wirf noch einmal einen Blick zurück, wenn du willst, aber dann schau nur noch nach vorn. Und nun ab an die Seite deines Vaters, wo du hingehörst. Ich hab was mit den Wachsoldaten zu bereden.“
    Noch bevor Arwed sich für den Zuspruch bedanken konnte, war Thrasea davon galoppiert, gefolgt von seinen berittenen Schatten. Auch Arwed drückte seinem Pferd die Knie sanft in die Flanken und trieb es zwischen die Reittiere Oves und Halvors.
    „So, da bist du.“ stellte Halvor lakonisch fest. „Muss ich dir jetzt auch nochmal alles haarklein erklären?“
    „Nein, Vater. Ich weiß bescheid.“


    ÷ ÷ ÷


    Kurz darauf hatten die Reiter die Weggabelung erreicht. Von hier aus machte die breite staubige Straße einen weiten Bogen nach Westen. Nach Norden zweigte ein weit schmälerer und steinigerer Weg ab, nach Osten führte nur ein besserer Trampelpfad. Links der Cochara schimmerten die Wälle des römischen Vorpostenlagers durch den lichten Wald, auf einer Anhöhe thronte ein hölzerner Wachturm, vor dem sich Thrasea angeregt mit zwei Posten unterhielt. Die Askaleuda saßen ab, tranken ein paar Schlucke und warteten. Arwed und Ove nutzten die Zeit, um sich von ihrem Freund Isbert zu verabschieden, der mit seinem Onkel Notger und dessen Söhnen die Straße nach Westen nehmen würde. Über all dem lag etwas zutiefst unwirkliches als geschähe es in einem Fiebertraum. Keinem fielen die passenden Worte ein. Alle wollten es nur noch hinter sich bringen, wollten weiter, wollten weg von dieser glühend heißen Lichtung, So ging auch alles gespenstisch schnell, als Thrasea mit seinen Begleitern endlich vom Turm zurückkehrte. Notger und Halvor gaben das Zeichen zum Aufbruch, die Jungmannen stemmten sich in die Sättel und kaum waren die Pferde richtig in Trab gebracht, hatten sich die beiden Gruppen schon aus den Augen verloren. Arwed befolgte Thraseas Rat. Er blickte stur geradeaus. Hinter den flimmernden Feldern warteten himmelhohe dunkle Wälder, kühl und schattig, und auf einmal war er glücklich darüber, dass sein Vater diesen Weg gewählt hatte.

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