Tablinum | AC et SAL - Erstes Beschnuppern

  • Endlich also war sie angekommen. Sextus hatte sich bei Ankunft seiner Nichte informieren lassen und legte sofort die Schriftstücke, welche er momentan durcharbeitete, zur Seite. Gemütlich machte er sich auf den Weg ins Tablinum, um das Mädchen also erst einmal in Empfang zu nehmen.


    Schlendernd betrat er den Raum, in dem Aurelia Corvina schon auf ihn wartete. Kurz ließ er den Blick im Eintreten über sie schweifen. Jung war sie. (Sextus hatte keine Ahnung, wie alt genau. Als ob sich ein Mann die Geburtstage seiner Nichten und Neffen merken konnte! Er hatte schon Schwierigkeiten mit dem seines Sohnes.) Schlank, mit hellem Haar gesegnet, man konnte wohl sagen, ganz hübsch. Und – was Sextus am meisten an einer Frau schätzte – still. Kurzum: Auf den ersten Blick verheiratbar.
    “Salve, Corvina“, begrüßte er sie auch gleich locker und kam näher. Wie es zu einer richtigen Verwandten-Begrüßung gehörte, bekam sie selbstverständlich auch einen Kuss auf die Stirn. Sextus nutzte die Gelegenheit auch gleich, um festzustellen, dass sie trotz der Reise einigermaßen gut roch. Ein weiterer Pluspunkt für die Liste. Wenn jetzt noch die Stimme zum Erscheinungsbild passt, war die Aufgabe, die sein lieber Bruder ihm so unvermittelt gestellt hatte, doch durchaus machbar.

  • Corvina war noch immer nervös. Und mit jedem Moment, den sie warten musste, wurde es eher schlimmer. Das alles hier kam ihr so unendlich groß vor! Nicht nur die Stadt, von der sie bislang ja nur einen Bruchteil gesehen hatte. Doch selbst dieser Bruchteil war weit mehr gewesen als alles, was sie von Athen kennengelernt hatte. Nein, allein schon dieses Haus! Ihr Vater und ihr Großvater waren ja sicherlich nicht die ärmsten gewesen, in Athen hatten sie ein sehr privilegiertes und schönes Leben geführt. Es hatte an nichts gemangelt, sie hatten immer genug und auch frisch zu essen, konnten sich erlesene Stoffe kaufen (wenngleich Corvina gerne und auch gut weben konnte), Corvina hatte sogar sehr schönen Schmuck mit echten Perlen und echten Steinen, nicht nur Glas und Emaille. Aber trotzdem war ihre Villa in Athen geradezu eine bescheidene Hütte im Vergleich zu dem hier! Corvina traute sich noch nicht einmal, die Malereien an den Wänden zu berühren, aus Angst, sie könnte etwas an den Kunstwerken kaputt machen.
    Unruhig knetete sie ihre eigenen Hände, weil sie nicht wusste, was sie sonst mit ihnen tun sollte. Auf jeden Fall nichts anfassen. Aber sonst? Herunterhängen lassen fühlte sich falsch an. Was machte sie denn sonst mit ihren Händen, wenn sie nicht darüber nachdachte?


    Dann endlich kam jemand, der sie mit Namen begrüßte. Corvina drehte sich ihm zu und versuchte sich mit einem Lächeln, während ihr der Mann, der sicherlich doppelt so alt war wie sie, ihr einen Kuss auf die Stirn gab. “Sei gegrüßt, geehrter Onkel“, schloss sie, wer er sein konnte. Soweit sie wusste, war er der einzige männliche Aurelier in betreffendem Alter gerade in Rom, und wer sonst würde sie so begrüßen? “Ich danke dir vielmals, dass du dein Haus für mich geöffnet hast“, bemühte sie sich artig weiter, einen möglichst guten und demütigen Eindruck auf ihn zu machen. Und in der Tat hoffte sie, dass er sie nicht gleich wieder zurückschicken würde. Oder noch schlimmer, sie einfach auf die Straße setzen würde, wo sie dann sehen konnte, wo sie blieb. Auch wenn diese Möglichkeit sehr gering schien. Denn wer schickte schon einen Sklaven und bezahlte eine Wagenkarawane von Ostia nach Rom, nur um den Gast dann abzuweisen?

  • Geehrter Onkel... Sextus Mundwinkel zuckten kurz im Anflug eines Lächelns. Offensichtlich war seine Nichte auch wohlerzogen. Oder hatte Angst vor ihm. Oder vor der Möglichkeit, von ihm einfach auf die Straße gesetzt zu werden, ohne sonstige Verbindungen in der Stadt und ohne die Möglichkeit, sich selbst zu schützen. Nicht, dass Sextus letzteres ernsthaft jemals in Betracht gezogen hätte. Man mochte über ihn behaupten, was man mochte. Einiges davon war sogar wahr. Aber keiner konnte sagen, dass er nicht alles für seine Familie tat und dies auch schon mehrfach unter Beweis gestellt hatte. Trotzdem, der offizielle Titel, aus welchem Motiv heraus auch immer, hatte etwas.


    “Solange wir unter uns sind, kannst du mich bei meinem Namen nennen. Lediglich bei Besuch oder offiziellen Anlässen solltest du auf solch förmliche Anreden zurückgreifen“, bot Sextus jovial an, während er sich wieder von ihr löste und sich von einem der lebenden Hausinventarstücke einen Becher verdünnten Wein anreichen ließ.
    Kurz nippte er, ehe er auch gleich weitersprach. “Einen dieser Anlässe hast du erst jüngst verpasst. Unsere Cousine Prisca hat vor kurzer Zeit Senator Manius Flavius Gracchus geheiratet. Mit ein wenig Glück wird er der Consul des nächsten Jahres werden. Eine sehr vorteilhafte Ehe also.“
    Sextus nippte erneut an seinem Wein und beobachtete die Nichte weiter. Noch einmal eine dermaßen vorteilhafte Ehe für die Familie zu schließen, war vermutlich ausgeschlossen. Zu keiner anderen Familie hatten die Aurelii derartig gute Beziehungen, und keine andere senatorische Familie hatte solche Möglichkeiten, solchen Reichtum und solchen Einfluss. Was es wohl ein wenig schwieriger machen würde, seine Nichte hier wirklich zu verheiraten. Denn eines stand fest: Er würde kein Familienmitglied unter Wert verkaufen.
    “Wenn es sich ergibt, werden wir deine Cousine mal besuchen und für dich hier ein paar Kontakte knüpfen, dich der römischen Gesellschaft vorstellen und dergleichen. Aber sag, teure Nichte, welche Erwartungen und Pläne hast du an deinen Aufenthalt in Rom geknüpft?“

  • Corvina atmete einmal leise und tief aus, als ihr Onkel zu reden anfing. Offenbar war er zu dem Entschluss gekommen, sie nicht auf die Straße zu setzen oder postwendend zu ihrem Vater zurück zu schicken. Vielmehr klärte er sie über die jüngsten Geschehnisse in der hiesigen Verwandtschaft auf und schmiedete auch gleich Pläne für ein Kennenlernen derselben. Und dies gleich im Hause eines möglichen Consuls! Corvina war weniger erstaunt als vielmehr eingeschüchtert von dem, was hier auf sie einstürmte. Vor wenigen Momenten hatte sie sich noch auf einem einfachen Wagen an der Stadtwache vorbei geschlichen und ihr Fahrer hatte selbige bestochen, und jetzt sollte sie schon die feinste Gesellschaft Roms kennen lernen. Und ihr Onkel sagte dies einfach so dahin, noch ehe sie auch nur wirklich ein Zimmer in diesem pompösen Haus bezogen hatte.
    “Pläne und Erwartungen?“ wiederholte sie also fragend. Sie hatte sich selbst nie Gedanken darüber gemacht, was sie denn von Rom erwarten sollte. Sie wusste, welche Erwartungen ihr Vater an sie stellte und welche Pläne er mit ihrer Reise nach Rom verknüpfte. Aber sie selbst hoffte einfach nur, von all diesen Erwartungen und Plänen nicht überrollt zu werden und niemandem eine Schande zu machen oder zur Last zu fallen.
    “Ich hoffe einfach, dass ich meiner Familie zur Ehre gereichen kann. Und ich bin dir, Onkel... Lupus, sehr dankbar, dass du mir dabei hilfst.“ Corvina hoffte, dass diese Antwort ihren Onkel zufriedenstellen würde. Überhaupt hoffte sie, dass ihre ganze Person dies vermochte.


    Corvina erinnerte sich an das letzte Gespräch mit ihrem Vater über ihren Onkel, ehe er sie verabschiedet hatte. Er hatte sie gewarnt, sie solle sich benehmen und ihm folgen. Corvinas Vater hatte einige sehr unschöne Bezeichnungen für seinen Bruder gefunden, die Corvinas Angst vor diesem Treffen befeuert hatten.
    Jetzt und hier schien ihr ihr Onkel aber doch recht nett zu sein. Ziemlich groß und einschüchternd, aber trotzdem freundlich und nett. Corvina hoffte, dass dieser Eindruck sich noch weiter festigen würde.

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