Excursio

  • Oves Geduld, und ganz sicher auch die Ratnars, wurden im Laufe der folgenden Stunden auf eine harte Probe gestellt. Ob Thrasea die Sache mit dem Amüsieren wirklich ernst gemeint oder vielleicht schon wieder vergessen hatte, musste sich erst noch weisen. Was er zweifellos ernst gemeint hatte – bitter ernst – war die Besichtigung des Municipiums, oder besser gesagt, die nervtötend belehrende Führung durch die Errungenschaften der germanoromanischen Zivilisation. Gewiss, Ove war schon beeindruckt von der Größe der Ansiedlung, den repräsentativen Bauten und Denkmälern und der wohlgeordneten Unordnung, die das ganze Gemeinwesen zusammenhielt. Auch was Thrasea so alles über die Historie Mogontiacums im Speziellen und die des Imperiums im Allgemeinen zu sagen hatte, vermochte ihn durchaus für eine Weile zu fesseln, aber alles hatte seine Grenzen.


    Zumal sich der ansonsten äußerst zugängliche Thrasea im Verlauf ihrer Exkursion zusehends in einen gestrengen Lehrmeister verwandelte, der ganz selbstverständlich davon ausging, dass jedem seiner Worte so viel Gewicht beigemessen wurde als handle es sich dabei um eine Offenbarung der Götter. Diese Seite an Thrasea mochte Ove überhaupt nicht, ließ sie ihn doch mehr denn je daran zweifeln, lediglich einen römischen Händler vor sich zu haben. So lange er ihn kannte – knapp achtzehn Jahre, sein ganzes Leben also – war er nie so wirklich schlau aus dem Römer geworden. Trotzdem stapfte er dem alten Freund seines Vaters lange folgsam hinterher und lauschte.
    Erst als ihm nach Stunden des Lauschens, Glotzens und Latschens endlich aufgegangen war, warum Thrasea das alles tat, blieb er seufzend stehen und gab dem Römer mit einem müden Kopfschütteln zu verstehen, dass es reichte.


    „Lass gut sein, Thrasea. Ich habs kapiert.“


    Thrasea blieb ebenfalls stehen. Seine Hand fuhr flüchtig über den mittlerweile erschlafften Weinschlauch, und was sie da ertastete, ließ die ohnehin schon ernste Miene des Römers noch weiter versteinern.


    „Ach, wirklich? Bist du sicher?“ fragte er skeptisch.


    Ganz sicher, musste sich Ove eingestehen, war er nicht. Vielleicht hörte sich Thrasea einfach nur gerne reden oder er wollte den jungen Barbaren mit der Führung durch die Stadt die Rückständigkeit ihres Heimatdorfes demonstrieren. Beides passte allerdings so gar nicht zu dem unprätentiösen Mann, den Ove zeitlebens kannte.


    „Du willst uns vor Augen führen, was wir alles verteidigen, wenn wir Rom verteidigen. In Ordnung. Ist angekommen.“


    Anstatt endlich ein befriedigtes Lächeln aufzusetzen, wie Ove es erhofft hatte, blieb Thrasea weiter ernst und fixierte den bislang schweigenden Ratnar mit einem bohrenden Blick.


    „Bei dir auch?“


    „Glaub schon.“


    Dann erst nickte Thrasea. Nicht freundlich und auch nicht sonderlich zufrieden, aber er nickte wenigstens.


    „Das hier ist nur ein kleiner Teil von dem, wofür ihr in Zukunft kämpfen werdet. Euer Dorf und eure Weiden gehören ebenso dazu wie das ewige Roma selbst. Das ist eure Zukunft und die eurer Nachkommen. Fortschritt. Prosperität. Rechtssicherheit. Güter, die einem nicht einfach in den Schoß fallen. Sie müssen jeden Tag aufs Neue erstritten und verteidigt werden. Fortschritt, Prosperität, Rechtssicherheit, merkt euch das, und am Ende Frieden und Wohlergehen für uns alle. Wenn ihr dafür nicht bereit seid, mit ganzer Leidenschaft zu kämpfen, fließt kein Blut durch eure Adern, sondern Pisse.“


    Ein Standpauke auf offener Straße. Ove war wenig angetan. Zudem hatte er das alles schon dutzende Male gehört. Von den Sippenältesten, von seinem Großvater, von seinem Vater und auch von Thrasea selbst. Immer die gleiche Leier. War er blöd, dass man ihm das unentwegt vorkauen musste? Oder ehrlos? Oder was?


    „Schon gut. Wie ich bereits sagte: Ich habs kapiert. Zweifelst du etwa an unserer Gesinnung?“


    Das schien für den Römer eine Art Stichwort zu sein. Seine Brauen schoben sich erwartungsvoll in die Höhe


    „Hab ich denn Grund dazu?“


    Ove atmete scharf ein. Das war keine Frage, sondern eine Frechheit. „Frag das meinen Vater, wenn du den Mumm dazu hast. Die Askaleuda stehen seit Generationen loyal zu Rom, das weißt du vermutlich besser als ich!“


    „Ja, das weiß ich tatsächlich besser als du. Genau darum geht es. Es ist wahr, die Askaleuda sind seit den Zeiten deines Ahnen Guntwin verlässliche Socii des Reiches. Sie sind es unter deinem Großvater Baltram und werden es auch unter deinem Vater noch sein. Aber irgendwann, in hoffentlich noch ferner Zukunft, wirst voraussichtlich du es sein, der das Geschick deiner Sippe bestimmt. Deswegen solltest du dir eines klar machen, je früher desto besser: Die Askaleuda können nur an der Seite Roms überleben. Sich gegen das Reich zu stellen, wäre ihr Untergang. Vergiss das nie. In Raetia mag alles ruhig wirken, zwischen Rhenus und Visurgis aber rumort es schon seit Monaten. Gut möglich, dass ihr als Equites eines Tages blutsverwandten Stämmen gegenübersteht. Spätestens dann darf es nicht den Hauch eines Zweifels mehr geben, wo euer Platz ist. Verhelft Rom zum Sieg und ihr sichert die Existenz der Euren.“


    Das klang nicht mehr nach bloßer Belehrung sondern vielmehr nach einer unverhohlenen Drohung. Wenn Thrasea damit beabsichtigt hatte, Ove einzuschüchtern, so war ihm das voll und ganz gelungen. „Roma victrix.“ kam es ihm kleinlaut über die Lippen. Zynisch hätte es eigentlich klingen sollen, tat es aber nicht.


    Dann geschah plötzlich etwas, womit Ove schon nicht mehr gerechnet hatte. Thraseas verkniffene Züge lösten sich von einem Augenblick auf den anderen und ließen ein breites Grinsen aufleuchten.


    „Mir scheint, jetzt hast du es tatsächlich kapiert. Na gut, Thema durch. Höchste Zeit, euch mal ein wenig rausschwimmen zu lassen. Ich nehme an, ihr werdet nicht gerade flennen, wenn ihr den Rest des Tages auf meine Gesellschaft verzichten müsst, oder?“


    Ove wollte es erst gar nicht glauben. „Dein Ernst?“


    Thraseas Lachen war so leise wie Geraschel im Stroh. „Sicher ist das mein Ernst. Hab heute meinen ernsten Tag. Ich dachte, das merkt man.“


    Das war nun wieder ganz der alte Thrasea, oder zumindest fast, denn der Glaube, es mit einem römischen Händler zu tun zu haben, war Ove zwischenzeitlich vollends abhanden gekommen. Noch immer etwas misstrauisch folgte sein Blick Thraseas Pranke, die zielstrebig an den Gürtel glitt, den ledernen Geldbeutel löste und ihn vor die Nasen der staunenden Suebi hielt. „Hier. Ob ihr es euch einteilt oder im Unverstand verjubelt, ist eure Sache. Was weg ist, ist weg.“


    Weder Ove noch Ratnar trauten sich zunächst, nach dem prallen Beutel zu greifen. Dann griffen beide danach. Ratnar war einen winzigen Tick schneller. Ove sollte es recht sein. Dankbar starrten sie Thrasea an, den das offenkundig amüsierte.


    „Jetzt glotzt nicht so kälbisch. Ist von Halvor, nicht von mir. Spätestens morgen früh zum Ientaculum erwarte ich euch bei Luscinus. Ist das klar?“


    Das Nicken der Beiden hätte eifriger kaum sein können. Klar war das klar. Und ob das klar war. Glasklar.


    „Ihr findet doch wohl hin, oder?“


    Das mit dem Nicken ging wider Erwarten doch noch eine Idee eifriger. Selbstverständlich würden sie da wieder hinfinden. Das Haus von Magius Luscinus, wo sie Pferde und Gepäck zurückgelassen hatten, lag auf halber Strecke zwischen dem Südtor und der verlängerten Via Praetoria des Legionslagers – war also gar nicht zu verfehlen.


    „Gut. Dann haut jetzt ab. Ich hab noch einiges zu erledigen. Außerdem ist mein Weinschlauch leer, was ausgesprochen scheiße ist. Ich hasse sowas.“


    Der letzte Satz Thraseas drang den Suebi schon nicht mehr ins Bewusstsein. Die waren nur noch darum bemüht, möglichst schnell möglichst viel Raum zwischen sich und ihren römischen Aufpasser zu bringen, bevor der es sich noch einmal anders überlegen und sich an ihre Fersen heften konnte.

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