Es war ein noch junger Morgen. Das Meer schwabte in trägen Wogen an Land mit nur wenig Meerschaum, während die Bewohner Myras noch zum größten Teil schliefen. Der Himmel war schon hell und völlig klar, doch war die Sonne noch nicht aufgegangen. Die Möwen jedoch waren schon erwacht und sangen ihre Lieder, während sie hoch über einen einzelnen Mann kreisten, der dort ganz alleine am Strand verharrte, gleich einer Salzsäule, und hinaus aufs Meer starrte, tief in Gedanken versunken. So vieles war in den letzten Jahren geschehen, so vieles, das in seinem geistigen Inneren vor sich ging und seinen Geist beschäftigte, während der eine, oder andere Gedanke auch an die Zukunft gerichtet war.
Viele Stunden stand der Mann so da und ließ sich seine Füße von der salzigen Flut umspülen, völlig in seinen Geist versunken und mit sich selbst Zwisprache haltend. Es waren nur einfache Gewänder, die der Mann trug. Auf den ersten Blick mochte man ihn vielleicht sogar für einen Mittellosen, oder gar einen Bettler halten, doch sprach dagegen sein restliches gepflegtes Äußeres. Sein mittellanger Bart war gepflegt und seine Kleidung ordentlich und sauber,was verriet, dass es dem Mann doch nicht so schlecht gehen konnte. Während seiner Zeit am Strand war der Lauf der Zeit unerbitterlich vorangeschritten, der selbst die Götter (und `vielleicht auch Gott?´ wie der Mann in Gedanken anmerkte, wenn auch mit großer Unsicherheit ob dieses frevlerischen Gedankens) Untertan sein mussten und die ersten sattgelben Sonnenstrahlen der jetzt wirklich aufgehenden Himmelsscheibe den Himmel golden färbte und auch der kleine Ort Myra langsam im Rücken des Mannes erwachte. Erste Hahnenschreie waren zu hören und das Gezwitscher der anderen Vögel gesellte sich schon bald zu den Rufen der Seemöwen, während der Mann immer noch am Gestade des Weltennasses verharrte und versuchte, sich zu einer Entscheidung durchzuringen.
Wieso sollte er diesen Schritt machen, wo er doch auch hier genauso suchen konnte? Wieso in die Fremde ziehen, wenn auch hier die Botschaft noch zur Genüge verbreitet werden konnte? Was hatte er davon und was die noch wichtigere Frage war, war es auch richtig und "gewollt"? Doch wieder hatte sich ein Fehler in sein Denken eingeschlichen, weshalb der Mann gezwungen war erneut seine Motivationen zu jener Sache zu ergründen. Die Frage danach, was er davon hätte, sollte er es tun, war falsch gewesen. Völlig falsch sogar. Dieser Punkt sollte der letzte sein, an dem man denken sollte, wenn nicht sogar völlig außer Acht gelassen werden. Er rief nichts anderes als Egoismus hervor und egoistische Gedanken waren falsch. Sie führten einen ab vom rechten Weg, direkt auf die Pfade von Verführung, Versuchung und Sünde. Nein, solange er konnte, wollte der Mann diese Abzweigung meiden. Noch immer war es nicht leicht sich völlig vom Gedanken an sich selbst und die persönlichen Ansprüche zu lösen, doch war dies nötig, wenn man dem Beispiel des großen Lehrmeisters folgen wollte. Dieser hatte immerhin auch niemals an sich, sondern stets an seine Mitmenschen gedacht. Natürlich, es hatte Zeiten und Momente gegeben, wo auch "er" mit dem Schicksal und dem Plan des Vaters gehadert und gefleht hatte, das Ende möge anders kommen, doch dann, als es soweit war, war er ohne Angst und entgültigen Gewissens zum letzten Gang seines irdischen Seins geschritten und das größte Opfer wurd' vollbracht. Himmel und Erde waren an jenem fernen Tage in der Vergangenheit erbebt und zerbrochen und gleichzeitig wiederhergestellt worden. Von gleicher Art wie vorher und doch anders. Besser, reiner, geläutert.
Was also sollte den Mann davon abhalten ebenfalls endlich seine Heimat zu verlassen, wo es doch nötig war, wenn er weiterkommen wollte? Es gab viele gute Gründe die dagegensprachen. Nicht nur abstrakt theologisch-philosophische, sondern auch ganz nüchterne Dinge waren darunter, wie die Liebe zu seiner Familie und seinen Freunden, die Vertrautheit seiner Heimat und schlicht das menschliche Bedürfnis an einem Platz zu weilen, wo man bekannt war mit seinen Mitmenschen und sich geborgen fühlte. Waren das so verwerfliche Hinderungsgründe? Kein Reichtum lockte den Mann, wenn auch seine Familie reich war und Gold, Besitz, oder Vermögen hielten ihn hier erst recht nicht. Doch genug andere Dinge hinderten den Mann, darunter als wenige Beispiele die zuvor schon genannten, sich entgültig zu einer Entscheidung durchzuringen. Niemand war zu ihm gekommen, hatte ihm am Ärmel gezogen und gesagt "Gehe fort und verbreite das Wort", niemand hatte ihm ins Ohr geflüstert "Gehe fort und hilf deinen Mitmenschen in ihrem Heil" und schon gar niemand hatte gemurmelt "Gehe fort und vergrößere dein Wissen" und doch verspürte der Mann ganz deutlich diesen Ruf nach der Fremde in sich. Es war einfach richtig, es war nötig, es war... der einzige Weg. Jede Faser seines Körpers und jede Windung seines Geistes sagte ihm das und der Mann hörte es. Wenn er auch nicht allzu glücklich damit war, denn er hatte in den letzten Wochen keine Ruhe mehr deswegen gefunden. Auch konnte er ja nicht fort, seine arme alte Mutter brauchte ihn doch an ihrer Seite! Krank und alt darb sie in ihrem goldenen Bett und wenn des Mannes Vater auch die besten Ärzte kommen hatte lassen, um das Leiden seiner Frau zu kurieren, so hatten sie alle am Ende den gleichen Befund gestellt; die Mutter des Mannes würde sterben.
Ein Grund mehr in Myra zu bleiben, hieß es doch nicht, man solle Vater und Mutter ehren? Würde man dieses Gebot nicht aufs schändlichste verraten, würde man jetzt aufbrechen, um unter fremden Menschen zu wirken? Oder war dies nur eine Prüfung der Festigkeit seines Glaubens? So sehr der Mann es auch drehte und wendete, er wusste es einfach nicht. So viele Gründe die dafür sprachen fortzugehen und dem inneren Ruf zu folgen, doch ebenso viele, die ihm klar machten, dass es für alle wohl besser wäre, wenn er hierbliebe. Was also tun?
Der Bauch des Mannes knurrte heftig, was ihn zum ersten Mal seit langem aus seinen Gedanken schreckten ließ. Er sah sich um und bemerkte, dass die Sonne inzwischen ganz aufgegangen war und der Himmel bereits von gold auf blau wechselte. In der Ferne konnte er einen winzigen Punkt am Horizont ausmachen, der langsam von Osten nach Westen sich bewegte. Ein Handelsschiff mit Kurs in den Westen, vermutlich eine Getreidelieferung aus Ägypten nach Ostia und dann weiter nach Rom, oder aber auch eine Warenladung aus eine phönizischen Küstenstadt auf den Weg nach Griechenland, oder wieder Rom? Der Mann wusste es nicht. Doch war er nun vollends in die Realität zurückgekehrt und auf das hier und jetzt konzentriert. Es hatte vorerst keinen Sinn, hier am Strand zu verweilen, er hatte in den vergangenen Stunden ja doch keine Lösung für sein Dilemma gefunden und so war es auch unnötig, länger zu hoffen, dies würde sich heute noch ändern. Auf ein, oder zwei weitere unentschlossene Tage (oder Wochen) würde es nicht weiter ankommen, hoffte er.
So drehte sich Paulus um und ging langsam zurück nach Myra.