Der verlorene Sohn
Seit mehreren Generationen schon lebte die Familie des Steinmetzes Laios in Trans Tiberim. In einer Seitenstraße der Via Aurelia wohnte er und die Seinen in einer der ärmlichen Wohnungen einer Insula, in deren Untergeschoss seine Werkstatt untergebracht war, die einst sein Großvater aufgebaut hatte und die er von seinem Vater übernommen hatte.
Als dann vor achzehn Jahren sein ältester Sohn Myron das Licht der Welt erblickte, schien dessen Lebensweg schon vorgezeichnet zu sein. Die stolzen Eltern benannten ihren Nachwuchs nach dem großen Bildhauer Myron von Eleutherai, in der Hoffnung, dass aus ihm einmal ein ganz Großer werden würde. Von früh auf nahm Laios seinen Sohn mit in die Werkstatt, auf dass er das Handwerk seines Vaters erlernen sollte.
Die kleine Steinmetzwerkstatt des Laios lief ganz gut. Für gewöhnlich erhielt er von seiner Klientel kleinere Aufträge. Meistens sollte er Weihesteine herstellen, mit denen seine Kunden die guten Taten ihrer Familienangehörigen in Erinnerung behalten wollten. Auch sehr beliebt waren seine Stelen. Je nach Geldbeutel variierten Material und Beschaffenheit der Grabsteine. Hin und wieder erhielt er auch Aufträge für Büsten und Statuetten. Doch die wirklich betuchten Kunden verirrten sich nicht oft nach Trans Tiberim in seine Werkstatt.
Zum Leidwesen seiner Eltern entwickelte sich der junge Myron allerdings in eine ganz andere Richtung. Zwar talentiert, ging er nur halbherzig an seine tägliche Arbeit in der Werkstatt. Obwohl doch sein Vater seine ganzen Hoffnungen in ihn gelegt hatte.
Der junge Myron schien oft verträumt zu sein und seine Gedanken schweiften stets ab. Seinen Eltern und den jüngeren Geschwistern gegenüber wirkte er oft verschlossen. Denn es schien niemand zu geben, der Interesse an seinen Gedanken und Gefühlen hatte und dem er sich wirklich anvertrauen konnte.
Doch eines Tages hatte er Bekanntschaft mit einigen jungen Leuten gemacht, die so ganz anders waren, als alle anderen, denen er bisher begegnet war. Sie sprachen von Liebe, Vergebung und Gerechtigkeit und trafen damit bei ihm voll ins Schwarze!
Ganz gleich ob Peregrine oder Römer, Sklaven oder Freie, alle schienen bei ihnen gleich zu sein und saßen einträchtig bei ihren Versammlungen beieinander. Sie teilten mit ihm ihr Brot und ihren Wein und fragten nicht nach seiner Herkunft oder seinem Stand. Sie waren alle Brüder und Schwestern in ihrem Glauben.
Nachdem Myron einige Zusammenkünfte besucht hatte, beschloss er, sich ihnen anzuschließen. Natürlich verheimlichte er das seiner Familie. Zunächst verbrachte Myron nur einige Stunden am Abend bei seinen neuen Freunden. Dann blieb er irgendwann auch ganze Nächte von zu Hause fern. Letztendlich zog er sich ganz von seiner Familie zurück und blieb Tage, ja sogar wochenlang fort.