Dagwin, der sich im Stillen immer noch fragte, ob Octavena einfach vergessen hatte, ihm Bescheid zu geben, dass ein Verwandter von ihr heute zu Besuch kommen wollte, führte den Besucher direkt ins Kaminzimmer und bat ihn, einen Moment zu warten, bis die Hausherrin ebenfalls erscheinen würde. Tatsächlich dauerte es auch einen Moment bis Octavena selbst erschien. Sie hatte - wieder einmal - im Arbeitszimmer über den Büchern ihres Mannes gebrütet; Etwas, das sie in den letzten Monaten immer öfter getan hatte. Seit Iring sie ... nun ja, freundlich angestoßen hatte, sich endlich um Witjons Erbe zu kümmern, hatte Octavena sich tatsächlich nach und nach förmlich in Arbeit gestürzt - und dabei festgestellt, dass ihr Schwager recht gehabt hatte und ihr diese Arbeit tatsächlich sogar Spaß machte. Es hatte außerdem dabei geholfen, sich die Kontrolle über ihr eigenes Leben ein Stück weit zurückzuholen. Es gab noch immer viel, das sie ständig lernte, aber immerhin fühlte sie sich nicht mehr so gelähmt wie noch im Jahr zuvor. Sie hatte sich sogar dazu durchgerungen, häufiger das Arbeitszimmer der Villa zu nutzen, was gerade zu Beginn schmerzhafter gewesen war, als sie je offen zugegeben hätte.
Sie war so sehr in die Unterlagen vor sich vertieft gewesen, dass sie zuerst gar nicht richtig verstanden hatte, was Dagwin von ihr wollte, als er an der Tür erschienen und ihr einen Brief übergeben und verkündet hatte, dass ein Cousin von ihr im Kaminzimmer wartete. War etwa Lucius zurück in Mogontiacum? Aber warum um alles in der Welt hätte er dann ihr einen Höflichkeitsbesuch abstatten wollen? Sie hatten sich schließlich nie besonders leiden können und seit er die Stadt verlassen hatte, hatten sie auch keinen Kontakt mehr. Sie blinzelte überrascht, als Dagwin noch einmal den Namen wiederholte, den der Fremde genannt hatte. Marcus Petronius Varus ... Der Name sagte ihr tatsächlich etwas, auch wenn sie ihn nicht mehr ganz zuordnen konnte. Stirnrunzelnd erhob Octavena sich also von ihrem Platz am Schreibtisch und überflog eilig den Brief und nun fiel auch bei ihr wieder der Groschen, wer da offenbar auf ihrer Türschwelle erschienen war. Also dankte Octavena eilig Dagwin und machte sich dann auf den Weg ins Kaminzimmer, wo ihr Vetter schon auf sie warten sollte.
"Salve", begrüßte sie ihn mit einem freundlichen Lächeln, als sie eintrat, und musterte den Fremden, der da wartete, beiläufig. Er war jung, wahrscheinlich ungefähr so alt wie sie selbst gewesen war, als sie damals bei ihrem Onkel vor der Tür gestanden hatte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn jemals gesehen hatte, bevor sie damals aus Tarraco abgereist war, schließlich konnte er kaum mehr als ein Baby oder Kleinkind damals gewesen sein und mit seinem Vater und dessen Teil der Familie war auch Octavena nie besonders eng gewesen. "Du bist also Marcus Petronius Varus?" Octavena legte leicht den Kopf schief. Ja, ein wenig meinte sie doch eine Ähnlichkeit zu seinem Vater bei ihm zu erkennen. Jedenfalls soweit sie sich noch nach all den Jahren an Calenus erinnerte. "Ich wusste gar nicht, dass du zu Besuch kommen wolltest, aber es ist immer schön, mal wieder Familie von zu Hause hier zu haben. Wie geht es deinen Eltern und dem Rest der Familie?" Wenn sie ehrlich war, war sich Octavena nicht einmal sicher, wer von den Familienmitgliedern, die sie früher gekannt hatte, alles noch lebte oder wer vielleicht inzwischen doch ähnlich wie sie auch Tarraco verlassen hatte. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie inzwischen nur noch wenig Kontakt zu den Petroniern in Hispania. Sie ging durch den Raum und ließ sich auf einem Stuhl nieder und deutete auf einen zweiten ihr gegenüber. "Aber setz dich doch erst einmal. Was verschafft mir überhaupt die Ehre deines Besuchs?"
Ich gehe einfach mal davon aus, dass der Brief irgendein Schreiben von Verwandten war, die Varus' Identität bestätigen.